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Aufgabe und Problem

Einführung in das Thema »Werte-Erziehung«

„Nie wird der Seefahrer den Polarstern erreichen.
Aber immer braucht er ihn, um die Richtung zu halten.
Einem solchen Seefahrer gleicht auch der Erzieher."
                                                                                                         
Hans AEBLI

Übersicht
1.0 Die Aufgabe
2.0 Das Problemfeld
3.0 Die „Grund legende" Frage:
      Woher stammen die Maßstäbe?
      3.1 Das Problem
      3.2 Die religiöse Position
      3.3 Die ontologische Position
      3.4 Die pragmatische Position
      3.5 Die aufgeklärte Position
      3.6 Der aktuelle Diskussionsstand
      3.7 Ja zu Fundamenten - nein zum Fundamentalismus
4.0 Folgerungen für erzieherisches Handeln
5.0 Anhang
      5.1 Umwertung aller Werte
      5.2 Zitate HABERMAS
      5.3 Textnachweis SCHELER
6.0 Literaturnachweise

1.0 Die Aufgabe

Jürgen MITTELSTRASZ hat letzthin (2002) auf den - bekannten, wohl auf Max SCHELER zurückgehenden - Unterschied zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen hingewiesen. Er beschreibt ihn wie folgt; die Ergänzungen folgen Hans MOHR (1989 a, S. 200, sowie 1989 b, S. 127):

  • Verfügungswissen ist die Kenntnis von Ursachen, Wirkungen und Mitteln.
    Es ist positiv und gibt Antwort auf die Frage:
    Wie kann ich etwas, das ich tun will, erfolgreich ausführen?
    Verfügungswissen bedeutet Macht.

  • Orientierungswissen handelt von Zwecken und Zielen.
    Es ist regulativ und gibt Antwort auf die Fragen:
    Was soll ich tun? Was darf ich, darf ich nicht, darf ich nicht mehr tun?
    Orientierungswissen bedeutet Sittlichkeit.

Mit dem Orientierungswissen stehe es heute nicht zum besten, weil sich Verfügungswissen und Orientierungswissen auseinanderentwickelt hätten. Die Wissenschaft habe das Orientierungswissen aus dem Auge verloren, und die Gesellschaft häufig auch. Orientierungsschwächen seien die Folge und würden allgemein als Werteverfall erlebt.

Werte-Erziehung ist deshalb eine Aufgabe, die der Schule auf allen Ebenen der öffentlichen Diskussion eindringlich aufgetragen und überantwortet wird. Belege brauchen hier nicht vorgelegt zu werden. Erinnert sei jedoch an die Einführung des Faches Lebenskunde-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg und die dadurch ausgelöste Kontroverse um die Stellung des Religionsunterrichts, ferner an die - jetzt wieder aktuellen - Berliner Überlegungen, Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach gemäß Art. 7 Abs. 3 GG zu machen oder die bisherige Regelung beizubehalten, aber das Fach Ethik/Philosophie für alle Schüler verbindlich einzuführen.

Ohne Zweifel muss sich die Schule dieser Aufgabe aus den verschiedensten Gründen stellen. Neben Sachwissen und Methodenbeherrschung muss sie vor allem auch Orientierungswissen vermitteln. In den Bausteinen dieses thematischen Bereiches werden unterschiedliche Materialien und Informationen vorgestellt, für die gleichfalls gilt, was in der Einführung in die Themengruppe betont wird - Anregung für eigenes Nachdenken zu sein.

Dass es sich bei alledem nicht um eine didaktische, sondern eine genuin pädagogische Aufgabe handelt, hat uns Hubert MARKL jüngst (Tagesspiegel vom 13. November 2005) erneut vor Augen geführt. Er zieht dem - von ihm skeptisch gesehenen - Begriff  Werte-Erziehung den Begriff »Charakterbildung« vor, weil dieser den Kern der erzieherischen Aufgabe genauer beschreibe und bestimme. Charakterbildung "hat vor allem mit 

Ehrlichkeit, Anstand, Lebensmut, Lebensfreude, Selbstvertrauen 
und auch mit der Fähigkeit zu tun, 
zugleich anderen zu vertrauen, wie für sie vertrauenswürdig zu sein."

Charakterbildung müsse am Anfang und im Zentrum dessen stehen, was junge Menschen erfolgreich ins Leben hineinführt, sie also lebenstüchtig machen lässt.

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2.0 Das Problemfeld

Werte-Erziehung vollzog sich in der Vergangenheit gleichsam von selbst. Sie war ein selbstverständlicher Teil dessen, was allgemein als Sozialisation bezeichnet wird, und beruhte ganz wesentlich auf dem Herkommen in Familie, Stand, Kirche, Gesellschaft. Das gewährleistete Verhaltenssicherheit, doch band es die Menschen so stark, dass diese Sicherheit als Knebelung empfunden wurde. Aufklärung und Revolution, Freiheitsbewegung und Emanzipation halfen die Fesseln abzustreifen.
     In unserer Zeit erleben wir eine nicht gewollte, jedoch dialektisch unausweichliche Gegenwirkung dieses Prozesses. Freiheit kann zur Strapaze werden. Wenn alles möglich ist, ist nichts mehr selbstverständlich. Die Vielzahl unterschiedlicher Wertvorstellungen hat die Menschen von dem Ausschließlichkeitsanspruch in früheren Zeiten befreit. Sie lässt jedoch einerseits notwendige Grenzen verschwimmen und löst andererseits Konflikte aus, die aus der Konkurrenz gegensätzlicher Wertvorstellungen resultieren. Diese Konflikte tragen sich nicht nur zwischen verschiedenen Individuen - interpersonal - zu, sondern auch innerhalb des einzelnen Individuums - intrapersonal.

Für die Erziehung folgt daraus ein Dilemma.

Ihr werden Leistungen abverlangt, die - wenn überhaupt - nur schwer miteinander zu vereinbaren sind. Sie soll für alle Wertepluralismus gewährleisten und zugleich dem Individuum zu einer sicheren, also konfliktfreien oder wenigstens konfliktarmen Wertorientierung verhelfen. Die rechtlichen Aspekte dieser Aufgabe werden auf den Webseiten „Die Bindung des Schulwesens durch das Grundgesetz" sowie „Die Neutralitätspflicht des Staates" erörtert.

Damit es keine Missverständnisse gibt, eine Klarstellung und zugleich Bitte.

Die vorstehenden Ausführungen dürfen weder als nostalgische Kulturkritik noch als pessimistische Ablehnung freiheitlich-pluralistischen Denkens und Handelns verstanden werden. Ehe wir Lehrer jedoch unsere Aufgabe erfolgreich angehen können, müssen wir die Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen, unter denen wir sie zu erfüllen haben.
     Dass wir dabei nicht unversehens  hinter ein Reflexionsniveau zurückfallen dürfen, das wissenschaftsgeschichtlich schon einmal erreicht worden ist, hat jüngst Clemens ALBRECHT (2001, S. 880) in einer Auswertung des sog. „Werturteilsstreites" in den Sozialwissenschaften eindringlich geltend gemacht.

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3.0 Die „Grund legende" Frage: Woher stammen die Maßstäbe?

3.1 Das Problem

Woher nehmen wir die Parameter unseres Tuns und Lassens? Woher stammen sie? Gibt es einen transzendenten - vom Menschen unabhängigen, über ihn hinausweisenden - Urgrund des Guten? Stammt er von Gott oder wird er in der Natur vorgefunden? Gibt es ewige, universell gültige Normen? Sind die Kategorien der Ethik und der Moral gesellschaftliche Setzungen oder Konventionen (Verabredungen)? Diese Fragen sind uralt, zugleich unmittelbar aktuell und weiterhin strittig. Antworten, sofern sie dogmatisch sind, können nicht überzeugen.
     Hier einen Streifzug durch die Geschichte der Ethik zu unternehmen wäre vermessen. Die skizzierende Nennung zentraler Positionen scheint jedoch nützlich, entlastet die folgenden Bausteine und schützt vor Missverständnissen.

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3.2 Die religiöse Position

In allen Hochreligionen geben die Gebote Gottes zugleich die Normen der Ethik vor. Sie gelten unbedingt und sind menschlicher Disposition entzogen. In unserem Kulturkreis kann der Hinweis auf den Dekalog die Zehn Gebote genügen. MOSES hat sie von Gott empfangen und den Menschen auf zwei Tafeln überbracht (2. Moses 20, 1 - 17; 5. Moses 5, 6 - 21).

Das Summum Bonum, das höchste Gut der Ethik des THOMAS VON AQUIN, verkörpert sich in Gott. 

Ein ebenso schlichtes wie schlüssiges Beispiel für das religiös begründete Fundament alles Handelns finden Sie auf der Webseite "Tugenden oder Werte? - VI. Ein Fundament praktischer Ethik".

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3.3 Die ontologische Position

Am unbedingtesten hat sie PLATON, an PARMENIDES anknüpfend, vertreten. Die alten Gewissheiten waren von der „Aufklärung" der Sophisten in Frage gestellt worden. Krieg und Bürgerkrieg führten zum Verlust elementarer Gesittung. Die Menschen erlebten das als Verfall der hergebrachten Werte - der „ungeschriebenen Gesetze".
     In dieser Situation einer „Umwertung aller Werte" wollte PLATON wieder eine feste Grundlage für sittliches Handeln gewinnen. Deshalb ist das Urbild des Guten - die „Idee des Guten" für ihn eine ontologische Größe von absoluter Gültigkeit. Er hat jedoch nicht erklären können, worin sie materiell bestehe. Deshalb bleibt seine Ethik zwangsläufig reine Form. Dass jedoch die Ideenlehre PLATONs nicht lediglich historisch bedeutsam ist, sondern ihr Grundgedanke auch als weiterhin aktuell angesehen werden kann, hat Wolfgang STEGMÜLLER aufgezeigt.
     Auch Max SCHELER (Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik, 1913 - 1916) nimmt die Existenz eines Wertereiches an, das von menschlichem Wollen und Entscheiden unabhängig ist. Die Objektivität des Sittlichen könne es nur unter dieser Voraussetzung geben.

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3.4 Die pragmatische Position

ARISTOTELES, PLATONs großer Schüler, vertritt eine pragmatische Auffassung. In der Einleitung zu seiner Nikomachischen Ethik konstatiert er (1,1 1094 b 15), das sittlich Gute und das Gerechte seien strittig und unbeständig. Vor ihm hatte schon PLATON den Sophisten Protagoras zitiert: „So schillert das Gute und nimmt immer wieder andere Gestalt an." Diesen Werte-Relativismus hatte PLATON transzendierend zu überwinden versucht.
     Bei allem Respekt vor seinem großen Lehrer distanziert sich ARISTOTELES (NE 1,4 1096 a 11 f.) von dessen mit aller Überzeugungskraft vertretenen Kerngedanken. Im Gegensatz zu PLATON fragt er nicht nach dem Guten an sich, sondern nach dem Guten, das sich in tätiger Bewährung verwirklichen lässt. Das Normenproblem löst er (NE 3, 6 1113 a 15 - b 2) mittels einer dialektischen Formel, die Günther BIEN (1985, S. XXXII) wie folgt wiedergibt:

„Gut ist das, was dem Guten als gut erscheint:
und: gut ist der, dem das an sich Gute als gut erscheint,
oder zusammengefasst:
der Gute ist Maß für das Gute."

Diese Definition kann als Zirkelschluss gelten. Willhelm BUSCH bestimmt deshalb das Gute am Ende seiner Bildergeschichte »Die fromme Helene« "ex negativo" (Werke ed. Friedrich BOHNE Bd.1, 1959, S. 293:

"Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man lässt."

Was das Böse ist, sagt dem Menschen - wie erstmals einst dem Sokrates das Daimonion - die innere Stimme, das Gewissen: "Tu es nicht!" (PLATON, Apologie des Sokrates 31 und 40 b).

Zurück zu ARISTOTELES. Sein zentrales Argument ist der von  ihm vielfältig durchgearbeitete Gedanke, dass nichts an und für sich gut sei, sondern immer nur in einem spezifischen Handlungszusammenhang. Er greift also den Werte-Relativismus der Sophisten auf, reinigt ihn jedoch von deren zynischen Folgerungen. Dazu entwickelt er pragmatische Gedanken, die ein prinzipiengeleitetes und verantwortliches Leben möglich machen.

Altbundeskanzler Helmut SCHMIDT hat das Normenproblem seinerzeit im Sinne ARISTOTELES’ auf den Punkt gebracht:

„Ich brauche keine Weltanschauung - ich habe Prinzipien."

Vertiefungen und Anwendungen der Position ARISTOTELES’ finden Sie auf der Webseite „Werte, Gegen-Werte, Un-Werte". In der Didaktik der politischen Weltkunde findet sich eine weitere Anwendung. Wolfgang NIEKE (1995, S. 247 - 251) vertritt das „Prinzip der situativen Geltung von Normen". Es dient dazu, doktrinäre Einseitigkeit zu vermeiden, kann jedoch nicht für prinzipienlose Beliebigkeit in Anspruch genommen werden.

Im Gegenteil: So hat Julian NIDA-RÜMELIN jüngst (8. 11. 2001) die Überzeugung vorgetragen, aus den in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen moralischen Überzeugungen der Menschen lasse sich ein gemeinsamer Kern gewinnen. Daraus ergeben sich minimale, aber allgemeingültige normative Prinzipien. Vertiefungen zu dieser Position finden sie auf der Webseite Toleranz - Kardinaltugend der Demokratie".

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3.5 Die Position der Aufklärung

Zu den großen Leistungen der Aufklärung gehört, dass sie - anknüpfend an entsprechende Positionen der antiken und der christlichen Philosophie - die Geltung des Naturrechts durchgesetzt hat. Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, UNO-Deklaration der Menschenrechte von 1948, Grundrechtskatalog des Grundgesetzes von 1949 haben hier ihre Ursprünge. Freiheit und Menschenwürde haben im Naturrecht ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln ebenso wie der Gedanke, dass den Menschenrechten universelle Geltung zukomme. Mithin sind ebenso zentrale wie selbstverständliche Wertvorstellungen unserer Zeit im Naturrecht verankert.

Für die Darstellungsabsicht dieses Bausteins hat Immanuel KANT zentrale Bedeutung. Im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie kommt er zu Einsichten, die sich am besten im Anschluss an Otto SPECK (1991) wiedergeben lassen:

„Der moralische Akt besteht darin, daß der Mensch als vernünftiges Wesen dazu berufen ist, keinem Gesetz zu gehorchen als dem, das er zugleich selbst gibt. Ein solches Gesetz muß jedoch so beschaffen sein, daß es zugleich als allgemeines Gesetz zu gelten hat."

Diese Position spricht für sich. Ihre Begründung und weitere Vertiefungen finden Sie auf den Webseiten „Immanuel KANT - Die pädagogische Theorie" sowie „Der Kategorische Imperativ". Eine Würdigung, die Jürgen HABERMAS (mehr dazu im nächsten Abschnitt) jüngst vorgetragen hat, finden Sie hier.

Im Übrigen lohnt es sich, an die drei berühmten Fragen zu erinnern, die KANT in seiner »Kritik der reinen Vernunft« stellt (1983, S. 677) und bearbeitet:

1. Was kann ich wissen? 
2. Was soll ich tun? 
3. Was darf ich hoffen?

In seiner Antwort auf die zweite Frage führt er aus (1983, 678):

Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, 
die völlig a priori 
(ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d.i. Glückseligkeit) 
das Tun und Lassen, 
d.i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, 
bestimmen, 
und daß diese Gesetze schlechterdings 
(nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke)
 gebieten, 
und also in aller Absicht notwendig sein."

Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der drei Fragen und deren grundlegende Bedeutung für KANTs Moralphilosophie finden Sie auf der Webseite "Tugenden oder Werte? - I. Die Kardinaltugenden" unter Nr. 3.3 dargestellt.

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3.6 Der aktuelle Diskussionsstand

Soweit der Verfasser den aktuellen Stand der Diskussion zutreffend beurteilen kann, hat sich die Fachphilosophie von metaphysischen Begründungen der Ethik getrennt (vgl. dazu das Resumee von Norbert HOERSTER 2003, S. 105). Sibylle TÖNNIES (1996) konstatiert sogar, das Wertesystem des rationalen Naturrechts, auf dem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruht, werde in Frage gestellt. Die nachmetaphysischen Philosophien hätten jeden Gedanken an universale Maximen verabschiedet. Und Konrad LÖW (1997) wirft sogar die Frage auf, ob sich das Bundesverfassungsgericht überhaupt noch an das „Sittengesetz" gebunden fühle.

Doch gibt es auch gegenläufige Tendenzen. So hat der Professor für Philosophie Karol WOITYLA, besser bekannt als Papst JOHANNES PAUL II., 1998 in seiner Enzyklika
                      „Fides et Ratio" - „Glaube und Vernunft"  
versucht, Gläubigkeit und Rationalität miteinander zu versöhnen. Das wurde in der interessierten Öffentlichkeit nicht ohne Respekt, aber mit skeptischer Ablehnung zur Kenntnis genommen.
     Desto bemerkenswerter ist vor diesem Hintergrund die Position, die Jürgen HABERMAS nunmehr bezogen hat. Seine Dankesrede, die er jüngst anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels hielt, hat den Titel „Glaube und Wissen".

„Aber am 11. September
ist die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion
auf ganz andere Weise explodiert."

Unter diesem Eindruck entwickelt HABERMAS Einsichten, die nach seinen früheren Auffassungen zur Werteproblematik, Werte würden im Diskurs gefunden, aufhorchen lassen. Eine Passage sei hier exemplarisch zitiert; weitere Zitate finden Sie hier:

„Gewiss, auch das egalitäre Vernunftrecht hat religiöse Wurzeln - Wurzeln in jener Revolutionierung der Denkungsart, die mit dem Aufstieg der großen Weltreligionen zusammenfällt. Aber diese vernunftrechtliche Legitimation von Recht und Politik speist sich aus längst profanierten Quellen der religiösen Überlieferung."

Auch der Naturwissenschaftler Wolf SINGER, einer der führenden deutschen Gehirnforscher, hat letzthin (FAZ Nr. 156 vom 8. Juli 2001) betont, dass

„wir nach wie vor metaphysische Deutungen benötigen, um den Raum auszufüllen, der jenseits der Grenzen des Wissbaren vermutet wird. Je abstrakter die Beschreibungen des Erklärten werden, desto abstrakter müssen auch die metaphysischen Deutungsversuche sein, die sich dessen annehmen, was jenseits des Erklärbaren liegt. [...] Die Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts hat uns zuwenig Zeit gelassen, den gestiegenen Anforderungen an metaphysische Deutungssysteme nachzukommen."

Eine weitere Position ist hier zu nennen, weil sie auf den Kern der erzieherischen Aufgabe verweist. Hans JONAS (1989) macht die Verantwortung zur zentralen Kategorie des Handelns.

Die radikalste Auffassung vertritt der Philosoph Peter SINGER. In einem Interview hat er sie jüngst (Der Spiegel Nr. 48 vom 26. November 2001) mit nicht zu überbietender Klarheit vertreten:

„Ich glaube nicht daran, dass uns ein Gott moralische Gesetze auf Steintafeln überreicht hat. Wir müssen uns schon auf uns selbst verlassen und auf die Vernunft setzen, um einen möglichst konsistenten Standpunkt zu entwickeln."

Julian NIDA-RÜMELIN hat eine ähnliche Auffassung vorgetragen (Tagesspiegel vom 22. Januar 2002):

„Bindende Normen müssen säkular begründet werden. Die je persönliche metaphysisch-weltanschauliche Orientierung ist wichtig für die Lebensform, auch für die jeweilige Interpretation der allgemeinen Normen. Die Begründung allgemeiner verbindlicher Normen kann jedoch nicht darauf rekurrieren. Ethik ist nicht eine Disziplin, die tiefer gehende weltanschauliche und religiöse Begründungen durch eine quasi-wissenschaftlich begründete Moral ersetzt."

Rüdiger SAFRANSKI widerspricht diesen Überlegungen (2004, S. 48) entschieden, 

"weil der Mensch die Entscheidung über Gut und Böse ... in einem Fundament verankert sehen möchte, das tiefer und umfassender ist als er selbst
     Eine Moral, von der man weiß, dass man ihr Erfinder ist, hat nicht dieselbe unbedingte, transzendierende Bedeutung. Es gibt also das Verlangen nach moralischer Transzendenz, weil der Mensch sich selbst nicht über den Weg traut: Was ich selbst erfunden habe, kann nicht soviel Wert haben."

Aufmerksamkeit verdient der Versuch von Anton LEIST (2000). Er unternimmt in seinem Buch
                              „Die gute Handlung - Einführung in die Ethik"
einen bemerkenswerten Versuch, im Anschluss an KANT den Archimedischen Punkt der Ethik zu finden - also die hier erörterte Problematik des Maßstabes zu lösen.

Ein Urteil über die verschiedenen Positionen sowie der Entwurf  erfolgversprechender erzieherischer Handlungskonzepte sind an Bedingungen gebunden, die oft nicht gesehen werden oder im Sinne eines bestimmtem Erkenntnisinteresses behauptet werden:

Was sind die natürlichen Voraussetzungen
unseres Erkennens, Urteilens und Handelns?

Die neurobiologische Grundlagenforschung stellt inzwischen Erkenntnisse bereit, ohne deren Beachtung realitätsgerechte Urteile, Entscheidungen und Handlungen zum Thema Werte-Erziehung nicht mehr möglich sind. Eine exemplarische Zusammenfassung finden Sie in den Arbeiten von
                              Gerhard ROTH (1996/200 und vor allem 2001).

Zusammenfassend lässt sich sagen:
Angenommen, es gäbe keine den Menschen - wie immer - vorgegebenen Gesetze der Ethik. Dann müssten sich die Menschen durch ethische Reflexion selbst Grenzen setzen. Demnach bestünde das Problem der Ethik - wie Jürgen MITTELSTRAZS letzthin (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 26 vom  31. Januar 2002) betont hat - in freiwilliger Selbstbegrenzung und gerade nicht im Überschreiten und Sprengen von Grenzen, wie es in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder gefordert und - vermeintlich - legitimiert worden ist.

Weiterführender Hinweis:
Vertiefende Informationen zum aktuellen Diskussionsstand finden Sie unter dem Stichwort »Metaethik« bei WIKIPEDIA (2008), Nico SCARANO (2006) und Marcus DÜWELL (2006) - s. Literaturverzeichnis.

3.7  Ja zu Fundamenten - nein zum Fundamentalismus

Womöglich sind wir Menschen mit den Konsequenzen aus SINGERs  Überlegungen überfordert - vor allem dann, wenn man das Wort „konsistent" betont und bis zum Ende denkt. Von DOSTOJEWSKI stammt der tiefernste Ausspruch

„Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt."  

Und kein geringerer als Friedrich Nietzsche stellt fest, es sei eine „Naivetät (sic)

als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt."

Immanuel KANT hat in seinen nachgelassenen Werken folgende Einsicht notiert (AA 21, Erstes Convolut, Seite 145, Zeile 04):

"Gott ist die moralisch/practische sich selbst gesetzgebende Vernunft."

In unserer Zeit hat Max HORKHEIMER formuliert (Kritik der instrumentalen Vernunft, 1967, S. 227):

"Einen unbedingten Sinn zu retten, ohne Gott, ist eitel."

In diesen Zitaten bildet sich ein Bedürfnis ab, das in allen Kulturen der Welt zu beobachten ist und nach der festen Überzeugung des Verfassers in die frühesten Zeiten des Menschengeschlechts zurückreicht - dass es einen unveränderlichen Urgrund unserer Existenz, ein dauerndes Fundament unseres Tuns und Lassens gebe.

Man mag - wie Julian NIDA-RÜMELIN (a.O.) - den Gedanken für eine Illusion halten, dass es möglich sei, „jenseits unserer Überzeugungssysteme einen festen Grund zu finden". Arthur KOESTLER hat sich bereits 1946 ähnlich skeptisch, zugleich jedoch konstruktiv geäußert (zitiert nach Brenda ALMOND in David PAPINEAU, 2006, S. 151):

"Ich bin mir nicht sicher, was die Philosophen eine 'absolute Ethik' nennen; 
aber ich weiß, dass wir so handeln müssen, als gäbe es sie."

Im Übrigen erweisen sich auch Illusionen als Realitäten, wenn man ihre Konsequenzen berücksichtigt. Vielleicht lässt sich ihre Entstehung durch folgende Überlegung plausibel machen.

Die Ethnien in der Frühzeit der Menschheit lebten völlig auf sich selbst bezogen. Sie wussten nichts voneinander, und wenn sie einander begegneten, konnten sie einander aus dem Wege gehen. Unter diesen Voraussetzungen entstanden in den einzelnen Kulturen Religionen, die sich in Vielem widersprechen, aber eine jede glaubt im Besitze  unumstößlich gültiger Wahrheit zu sein.
     Seit der frühen Antike und bis in unsere Gegenwart müssen Menschen zur Kenntnis nehmen, dass es auch ganz andere „absolute" Wahrheiten gibt als die, von der man selbst zutiefst überzeugt ist. Zu den sozialpsychologischen Hypotheken der Spezies Mensch scheint zu gehören, in der Existenz anderer Wahrheit als der eigenen eine so ernste Gefahr für das eigene Selbstverständnis zu sehen, dass sie nur durch Vernichtung der anderen Wahrheit abgewendet werden kann. So haben das bedingungslose Bestehen auf unveränderlicher Wahrheit und der Anspruch auf deren globale Gültigkeit unendliches Leid über die Menschen gebracht. Darin besteht die Gefahr, die von einem starren und eindimensionalen Wahrheitsbegriff, dem „Fundamentalismus" (vgl. zu Begriff und Sache JÄGGI - KRIEGER, 1991), ausgeht.

Dennoch sollte es möglich sein, die Existenz anderer Wahrheit anzuerkennen, ohne darin eine Einbuße für die eigene Wahrheit, deren „Relativierung" zu sehen. Das ist die Aufgabe, die uns mit der Forderung nach „Toleranz" gestellt ist. Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite „Tugenden oder Werte? V. Toleranz - Kardinaltugend der Demokratie".
     Allerdings stimmt es sehr nachdenklich, dass DOSTOJEWSKIs noblem Wort die äußerste Blasphemie gegenübersteht. Die Berufung auf Gott und seine Gebote schließt offenkundige Verbrechen keineswegs aus, sondern meint sie vielmehr sogar legitimieren zu können.

Dass die hier erörterten Fragen auch sehr schlicht und lebenspraktisch beantwortet werden können, finden Sie auf der Webseite "Tugenden oder Werte? - VI. Ein Fundament praktischer Ethik" dargestellt.

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4.0 Folgerungen für erzieherisches Handeln

Aus der vorstehenden Übersicht lassen sich Folgerungen für erzieherisches Handeln ableiten.

Zunächst eine grundsätzliche Aussage. Der Verfasser der Bausteine neigt aus Gründen denkerischer Konsequenz dazu, mit PLATON einen transzendentalen Urgrund der ethischen Prinzipien anzunehmen. Dennoch gibt er ARISTOTELES' Position den Vorzug, weil sie den Ausschließlichkeitsanspruch „ewiger Wahrheit" aufgibt. Dessen  pragmatische, aber keineswegs prinzipienlose Einsichten eröffnen vielfältige Handlungsmöglichkeiten, ohne zum Freibrief für Beliebigkeit zu werden.

Das hier erörterte Problem müssen und können also wir Lehrer den Philosophen überlassen. Eine Richtschnur unserer Arbeit dürften wir vor allem bei KANT und JONAS finden. Hier kann der Hinweis darauf genügen, dass Einsicht, Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein des Menschen im Mittelpunkt erzieherischer Aufgaben stehen. Seine persönlichen Auffassungen hierzu stellt der Verfasser der Bausteine auf der Webseite „Sechzehn Thesen zur Orientierung erzieherischen Handelns" zur Diskussion.

Womöglich ist das alles zu anspruchsvoll, wenn es um die alltägliche Arbeit in der Problem- und konfliktbelasteten Wirklichkeit unserer Schulen geht. Dann können die Einsichten weiterhelfen, die Karl Otto HONDRICH letzthin (FAZ Nr. 238 vom 13. Oktober 2001) aus soziologischer Sicht dargelegt hat. Er sieht

„... Prozesse und Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens, denen sich niemand entziehen kann:
o Das Gesetz der Gegenseitigkeit (‘Wie du mir, so ich dir’),
o das Gesetz der Präferenz für das Eigene,
o das Gesetz der Unantastbarkeit des Heiligsten (‘Tabu’) ..."

Gesetze dieser Art seien vor aller Ethik und vor aller Philosophie gültig. Sie mögen kulturell unterschiedlich ausgeprägt und eingegrenzt sein, doch würden sie überall verstanden. Denn sie bezögen sich nicht auf Individuen, sondern auf Beziehungen. Der Mensch sei ein soziales Wesen und bleibe es. Immer gehe die Gesellschaft den Individuen voraus. Die Macht elementarer sozialer Prozesse ... sei auch „die stärkste treibende und begrenzende Konstante - stärker als alle individuellen Intentionen, als Politik, Pädagogik, Wissenschaft, Technik, ja stärker als die Gene."

An dieser Stelle braucht nicht betont zu werden, dass die vorgestellten Sachverhalte und Überlegungen nicht gleichsam „pur" unterrichtet werden können, sondern in ein jeweils altersgemäßes didaktisches Konzept eingebettet werden müssen.
    Wie Fragen der Ethik im Unterricht behandelt werden können, dafür gibt Hans AEBLI (1997, S. 102 ff.) einfühlsame Hinweise. Die Schlusspassage (S. 110 f.) sei zitiert:

„Die Betrachtung der antiken und der modernen Tugenden ist für den Erzieher kein Luxus, auch wenn sich daraus keine handfesten Schlussfolgerungen ergeben. Wenn wir ein Leben lang in der Schulstube stehen und die schwierige Aufgabe des Erziehens jeden Tag aufnehmen und  uns darin bewähren müssen, so brauchen wir dazu Richtpunkte, die im Unendlichen liegen. [...]
     Wenn es uns auch immer wieder misslingt, den großen Ideen der Ethik gerecht zu werden, und wir immer wieder feststellen, daß wir weit von ihrer Realisierung entfernt sind, so bleiben sie doch notwendig und hilfreich. Der Seefahrer erreicht den Polarstern auch nicht. Aber er braucht ihn, um die Richtung zu halten. Einem solchen Seefahrer gleicht auch der Erzieher."

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5.0 Anhang

5.1 Umwertung aller Werte

Friedrich NIETZSCHE hat diese berühmte Formel in den Sprachschatz eingeführt. Das Vorbild dafür sich findet bei dem griechischen Historiker THUKYDIDES, dessen Darstellung NIETZSCHE als Professor für Klassische Philologie natürlich kannte. In seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges beschreibt er (3, 82, 4 f.) die Verwilderung des Denkens und Handelns wie folgt:

„Die bislang gültigen Bezeichnungen für Verhaltensweisen vertauschten sie nach Belieben. Wagemut ohne Sinn und Verstand galt jetzt als solidarische Tapferkeit, aber vorausdenkendes Zögern als raffiniert kaschierte Feigheit, Beachtung der sittlichen Normen als Vorwand für unmännliche Haltung, verständiges Verhalten bei jedem Vorhaben als schlappe Unfähigkeit zur Tat. Heftige Emotionalität wurde der Mannesart zugerechnet, aber umsichtiges Weiterberaten galt als wohlklingende Verschleierung des Verrats. Und wer plump agitierte, galt immer als glaubwürdig, wer ihm widersprach, als verdächtig. Hatte einer mit Tücke Erfolg, schien er klug, schöpfte einer Verdacht, galt er erst recht als scharfsinniger Analytiker. Wer sich aber vorsah, um damit nichts zu tun zu haben, war ein Zersetzer der Solidarität und galt als Angsthase gegenüber den Gegnern. Kurzum, wer mit einer schlimmen Tat dem zuvorkam, der sie nur erst plante, wurde gelobt, ebenso auch, wer einen anstiftete, der von sich aus noch keine im Sinn hatte. [...]
Lieber lassen sich die Menschen als Verbrecher bezeichnen, doch intelligent, denn als schwachsinnig, wenn auch anständig."

Rund 500 Jahre später würdigt der römische Dichter M. Annaeus LUCANUS in seinem Epos »Pharsalia« die moralischen Verwüstungen des Bürgerkrieges zwischen Caesar und Pompeius - er war das römische Gegenstück zum Peloponnesischen Krieg - mit einer knappen Formel von äußerster Schärfe (I, 667 f.):

"Fluchwürdiges Verbrechen gilt als Inbegriff tatkräftig-redlichen Mannestums."

In NIETZSCHEs Werk findet sich der Begriff „Umwertung" immer wieder. Zwei Stellen seien zitiert. In „Jenseits von Gut und Böse", Drittes Hauptstück „Das religiöse Wesen", Aphorismus 46 (2, S. 610), schreibt er in einer ätzenden Analyse des christlichen Glaubens:

„Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel »Gott am Kreuze« lag. Es hat bisher niemals und nirgendwo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhieß eine Umwertung aller antiken Werte."

In Nr. 27 seiner Arbeit "Zur Genealogie zur Moral" (2, S. 897) hatte NIETZSCHE sein in vier Bücher gegliedertes Hauptwerk angekündigt: "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte". Das Buch „Der Antichrist. Fluch auf das Christentum" war als dessen „Erstes Buch der Umwertung aller Werte" gedacht. Das Manuskript des vorliegenden Textes war im September 1888 fertiggestellt worden, wurde aber erst 1894 gedruckt. Im Januar 1890 brach NIETZSCHE in Turin zusammen und fiel in geistige Umnachtung. Sein Hauptwerk blieb Torso.

„Der Antichrist" - ein Text, der von einer furiosen Invektive zur nächsten stürmt - endet mit und gipfelt in den Worten (2, S. 1235):

„Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus (d.i. der Unglückstag; der Verf.) mit dem dies Verhängnis anhob - nach dem ersten Tag des Christentums! Warum nicht lieber nach seinem letzten? - Nach heute? - Umwertung aller Werte!

Bemerkenswert, dass Theodor FONTANE in seinen 1897 abgeschlossenen Roman „Der Stechlin" einen Reflex seiner Beschäftigung mit NIETZSCHE eingearbeitet hat. Dort lässt er Woldemar von Stechlin im Gespräch über einen Vorfall in einer Abendgesellschaft berichten:

„Ach, es handelte sich um das, was uns allen, wie du dir denken kannst, das Teuerste ist, um den »Wortlaut« (sc. der Bibel). Und denke dir, unser Fix war dagegen. Er mußte wohl denselben Tag was gelesen haben, was ihn abtrünnig gemacht hatte. Personen wie Fix sind sehr bestimmbar. Und kurz und gut, er sagte: das mit dem Wortlaut ginge nicht länger mehr, die »Werte« wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr dieselben wären, müßten auch die Worte sich danach richten und müßten gemodelt werden."
(2001, S. 113 f.)

FONTANE hat sich in den neunziger Jahren mit NIETZSCHE beschäftigt. In einem Brief an Karl ZÖLLNER schreibt er am 31. August 1895:

„Das Wort von einer immer nothwendiger werdenden ‘Umwerthung’ aller unserer Vorstellungen, ist das Bedeutendste was Nietzsche ausgesprochen hat."
(a.a.O. S. 585 f., Anm. zu S. 114)

Wie ein Reflex auf THUKYDIDES' Analyse muten Gedanken Hermann BROCHs an. Er hat in seinen Roman »1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit«, den dritten Teil der Trilogie »Die Schlafwandler«, einen Essay mit dem Titel »Zerfall der Werte« eingefügt. Er besteht aus zehn Abschnitten, die mit der Handlung des Romans eng verflochten sind. Diese spielt im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, einer geschichtlichen Katastrophe, deren Rang in unserer Zeit dem Peloponnesischen Krieg des alten Griechenland entspricht.

BROCH formuliert (S. 737) ein nüchtern-bitteres Resümee, das wegen seiner Aktualität hier zitiert sei:

„Letzte Zerspaltungseinheit im Wertezerfall ist das menschliche Individuum. Und je weniger dieses Individuum an einem übergeordneten System beteiligt und je mehr es auf seine eigene empirische Autonomie gestellt ist – auch darin Erbe der Renaissance und des in ihr bereits vorgezeichneten Individualismus –, desto schmäler und bescheidener wird seine «Privattheologie», desto unfähiger wird diese, irgendwelche Werte außerhalb ihres engsten individuellen Bereiches zu erfassen: was außerhalb des engsten Wertkreises vor sich geht, kann nur noch unverarbeitet, ungeformt, m.e.W. dogmatisch hingenommen werden [...].

Der Mensch, der, aus jedem Wertverband entlassen, zum ausschließlichen Träger des Individualwertes geworden ist, der metaphysisch «ausgestoßene» Mensch, ausgestoßen, weil sich der Verband zu Individuen aufgelöst und zerstäubt hat, ist wertfrei, stilfrei und nur noch vom Irrationalen her bestimmbar.“

Unmittelbar darin anschließend würdigt er Huguenau, die Zentralfigur des Romans, wie folgt (S.737 f.):

„Huguenau, ein wertfreier Mensch, gehörte allerdings auch dem kommerziellen System an; er war ein Mann, der in Branchenkreisen einen guten Ruf genoß, er war ein gewissenhafter und umsichtiger Kaufmann und er hatte seiner kaufmännischen Pflicht stets voll und ganz, ja mit aller Radikalität Folge geleistet. Daß er Esch [die Zentralfigur des zweiten Teils der Trilogie; der Verf.] umgebracht hatte, fiel zwar nicht in den kaufmännischen Pflichtenkreis, widersprach aber auch nicht dessen Usancen. Es war eine Art Ferialhandlung gewesen, getätigt zu einer Zeit, in welcher auch das kaufmännische Wertesystem aufgehoben und bloß das individuelle übriggeblieben war.“

Zitatnachweise:

  • Friedrich NIETZSCHE
    Werke in drei Bänden
    hrsg. von Karl SCHLECHTA
    München 1954

  • Theodor FONTANE
    Der Stechlin
    hrsg. von Klaus-Peter MÖLLER 
    Berlin 2001

  • Hermann BROCH
    Die Schlafwandler
    Eine Romantrilogie
    Zürich 1931/32, 4. Auflage 1952

Zerfall der Werte [1] S. 442 - 443
Zerfall der Werte [2] S. 461 - 462
Zerfall der Werte [3] S. 470 - 471
Zerfall der Werte [4] S. 488 - 491
Zerfall der Werte [5]
Logischer Exkurs

S. 498 - 499
Zerfall der Werte [6] S. 525 - 529
Zerfall der Werte [7]
Historischer Exkurs

S. 565 - 572
Zerfall der Werte [8] S. 614 - 620
Zerfall der Werte [9]
Erkenntnistheoretischer Exkurs 

S. 658 - 665
Zerfall der Werte [10]
Epilog 

S. 733 - 760

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5.2 Zitate HABERMAS

„Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist tatsächlich eine Pazifizierung des weltanschaulichen Pluralismus, der ungleiche Folgelasten hatte. Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden. [...]

Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine Akzeptabilität abziele, würde nur dann nicht zu einem unfairen Ausschluß der Religion aus der Öffentlichkeit führen und die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrte."

„In Anbetracht der religiösen Herkunft seiner moralischen Grundlagen sollte der liberale Staat mit der Möglichkeit rechnen, daß die ‘Kultur des gemeinen Menschenverstandes’ (Hegel) angesichts ganz neuer Herausforderungen das Artikulationsniveau der eigenen Entstehungsgeschichte nicht einholt."

Deshalb wollte Kant das kategorische Sollen nicht im Sog des aufgeklärten Selbstinteresses verschwinden lassen. Er hat die Willkürfreiheit zur Autonomie erweitert und damit - nach der Metaphysik - das erste große Beispiel für eine säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten gegeben.
Bei Kant findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo. Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft. Aber den banalen Folgen einer Deflationierung kommt er durch eine kritische Anverwandlung des religiösen Inhalts zuvor."

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5.3 Textnachweis SCHELER

Der Philosoph Max SCHELER unterscheidet drei Wissensformen. Seine Überlegungen werden von Klaus PRANGE (Zeitschrift für Pädagogik 51, 2005, Nr. 5, S. 733) zusammengefasst:

  • Herrschaftswissen
    Es dient der Verfügung über Objekte. 
    Dafür zuständig sind die Naturwissenschaften.

  • Bildungswissen
    Es dient der Selbstverständigung der Subjekte unter- und miteinander.
    Dafür stehen die Geisteswissenschaften.

  • Erlösungs- und Heilswissen
    Es antwortet auf die Frage nach der letzten Bestimmung des Menschen.

SCHELER hat in seinem Buch »Die Wissensformen und die Gesellschaft« im Jahre 1926 mehrere Studien zusammengefasst, in denen er  die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung der obersten Typen menschlichen Wissens und Erkennens tiefschürfend erforscht, um auf diesem Wege seine erkenntnistheoretischen Untersuchungen überhaupt erst fruchtbar zu machen.

In dem Kapitel »Wesen und Sinn von Wissen und Erkenntnis - Die Arten des Wissens« (1960, S. 205) beschäftigt sich SCHELER mit der Frage, wozu Wissen dienen solle, und hält fest, es solle "einem Werden" dienen. Er fährt fort wie folgt:

"Dann erhebt sich die weitere Frage: dem Werden wovon? dem Werden wessen? und dem Werden wozu?

Er beantwortet diese Fragen wie folgt:

"Ich glaube, es gibt drei oberste Werdensziele, denen Wissen dienen kann und dienen soll: 

  • Erstens dem Werden und der Entfaltung der Person, die weiß - das ist »Bildungswissen«
  • Zweitens dem Werden der Welt und (vielleicht) dem zeitfreien Werden ihres obersten Soseins- und Daseinsgrund selbst, die in unserem menschlichen Wissen und jedem möglichem Wissen um Welt und Weltgrund zu ihrer eigenen Werdens«bestimmung» kommen oder doch zu etwas, ohne das sie ihre Werdensbestimmung nicht erreichen können - dieses Wissen um der Gottheit willen heiße »Erlösungswissen«.
  • Und es gibt drittens das Werdensziel der praktischen Beherrschung  und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke - jenes Wissen, das der Pragmatismus sehr einseitig, ja ausschließlich im Auge hat - das ist das Wissen der positiven »Wissenschaft«, das »Herrschafts-« oder »Leistungswissen«.

Anschließend erörtert er eine mögliche Rangordnung dieser Wissensarten. Er sieht folgende - aufsteigende - Abfolge:

  • Beherrschungs- oder Leistungswissen dient der praktischen Beherrschung der Welt. 

  • Durch Bildungswissen sucht das Individuum Teilhabe an der Welt zu gewinnen.

  • Erlösungswissen lässt das Individuum mit sich selbst einig werden, indem es dadurch von der in ihm gelegenen Spannung und Urgegensätzlichkeit erlöst wird.

Literaturnachweis:

  • Max SCHELER
    Die Wissensformen und die Gesellschaft
    Bern und München 1960, 2., durchgesehene Auflage,
    mit Zusätzen herausgegeben von Maria Scheler

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6.0 Literaturnachweise

Aus praktischen Gründen werden alle Literaturnachweise dieses thematischen Bereiches auf der Webseite „Werte-Erziehung - Literaturgrundlage" zusammengefasst. Das entlastet die einzelne Webseite und vermeidet Wiederholungen. Um nachzulesen, klicken Sie hier: Literaturgrundlage.

DOSTOJEWSKI wurde zitiert nach Robert SPAEMANN, Personen, Stuttgart 1996, S. 105. Er schreibt:

"Daß alles erlaubt ist, wenn es Gott nicht gibt, dieser Satz Dostojewskis, den Wittgenstein variiert hat, ist auch dann wahr, wenn der Inhalt des Sittlichen unabhängig von jeder religiösen Überzeugung zugänglich ist. Was ohne eine solche Überzeugung unverständlich bleibt, ist, warum wir tun sollten, was wir als das Beste erkannt haben, wenn wichtige eigene Interessen dem entgegenstehen, ja, was es überhaupt heißt, daß wir irgend etwas tun sollen. Auch keine Werteinsicht kann Personen nötigen, sich ihr unterzuordnen.

Vgl. dazu die Rezension dieses Buches von Norbert HOERSTER, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 276 vom 27. November 1997.

Dem Verfasser der Bausteine ist es bislang nicht gelungen, bei Dostojewski für dieses Zitat einen wörtlichen Beleg zu finden. Der Dichter entwickelt jedoch diesen Gedanken in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“. Darin gibt es eine längere Passage, deren Sinn sich zu dieser Formulierung zusammenfassen lässt. Außerdem durchzieht das Wort "... dann ist alles erlaubt" geradezu leitmotivisch den ganzen riesigen Roman. Wenn Sie dazu Originaltext nachlesen wollen, klicken Sie bitte hier.

Nach kürzlich gefundener Auskunft bei »Wikiquote« steht der zitierte Satz in einem Brief Dostojewskis. (de.wikiquote.org/wiki/Fjodor_Dostojewski).

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 19.08.16
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