Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]

Tugenden oder Werte?

V. Toleranz - Kardinaltugend der Demokratie

Übersicht
1.0 Einführung
2.0 Toleranz heute -
      250 Jahre nach LESSING und MENDELSSOHN
3.0 „Hoffen auf eine intensiver gelebte Toleranz"
4.0 „Prinzipien der Toleranz" - Definition der UNESCO
5.0 Toleranz - Rede am Vorabend des 9. November 2001
      5.1 Fünf Strukturelemente der offenen Gesellschaft
      5.2 Toleranz -  ein interpretationsbedürftiger Begriff
      5.3 Toleranz als Respekt
      5.4 Würdigung
6.0 „Wann müssen wir tolerant sein?"
      6.1 Begriff und Funktion der Toleranz
      6.2 Die Kernpunkte der Argumentation
      6.3 Der Kern des Problems
      6.4 Thomas Mann zur Toleranz
      6.5 Toleranz im modernen Verfassungsstaat
7.0 Literaturnachweis

"Toleranz beginnt da, wo das Einverständnis endet."
Salomon KORN, FAZ Nr. 277 vom 28. November 2009, S. 36

1.0 Einführung

In der Gegenwart ist Toleranz für das Zusammenleben der Menschen grundlegend wichtig. Das gilt zumal nach den Ereignissen des 11. September 2001. Dabei ist es unerheblich, ob man sie für einen Wert, eine Haltung, eine Tugend, hält - wie immer man die Begriffe wählen will. Wenig sinnvoll scheint es, hier vor allem philosophische Überlegungen und Definitionen vorzustellen. Statt dessen sollen zunächst zwei politisch orientierte Äußerungen dokumentiert werden, die als repräsentativ gelten können.

  • Systematische und umfassende Informationen zum Thema finden Sie bei Klaus SCHREINER (1990, S. 445 - 605). Die spannungsreiche Beziehung des Christentums zur Toleranz wird von Ingo BROER und Richard SCHLÜTER (1996) aufgearbeitet. Eine tiefschürfende und umfassende, dabei von jeder Apologetik freie Untersuchung hat Arnold ANGENENDT (2008, 4. Auflage) vorgelegt.

  • Unter den unüberschaubar vielen Definitionsversuchen verdient die Interpretation des Politologen Prof. Dr. Richard LÖWENTHAL besondere Beachtung. LÖWENTHAL unterlässt jede unverbindlich-sentimentale Überhöhung. Im Gegenteil - er stellt den Kern des Begriffes analytisch klar heraus. Der folgende Text ist eine Kurzfassung der Festrede, die er am 4. März 1979 zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit gehalten hat.

  • Ignatz BUBIS war lange Zeit Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Überlegungen des Repräsentanten einer Minderheit, die unter der Verweigerung von Toleranz wie keine andere gelitten hat, haben ein in eigenem Leiden gründendes Gewicht. Sie wurden in der Wochenzeitung „Das Parlament", Jg. 44, Nr. 50 vom 16. Dezember 1994 veröffentlicht.

  • Vorgestellt wird außerdem die Definition der UNESCO-Menschenrechtskommission vom 1995.

  • Nach den Ereignissen des 11. September 2001 ist die Frage aktueller denn je, was das Wesen von Toleranz ausmache. Julian NIDA- RÜMELIN hat kürzlich eine Antwort darauf vorgetragen, deren Kerngedanken in diese Übersicht aufgenommen werden. 

  • Letzthin hat Jürgen HABERMAS scharfsinnig-pointierte Überlegungen zur Funktion der Toleranz vorgetragen.

  • Erst kürzlich ist ein Brief bekannt geworden, in dem Thomas MANN 1954 eine "universelle Botschaft" zur Toleranz formuliert hat.

Zurück zur Übersicht

2.0 Toleranz heute - 250 Jahre nach LESSING und MENDELSSOHN

1. Toleranz ist die Duldung von unüberwindbaren Differenzen in Fragen des Glaubens oder grundsätzlicher Überzeugungen. Ihr Gegensatz ist auf der einen Seite Intoleranz, auf der anderen aber auch eine Indifferenz, die grundsätzliche Differenzen aus Gleichgültigkeit vermischt.
2. Toleranz wurde zuerst in Glaubensfragen als Alternative zu wiederkehrenden Ketzerverfolgungen und Religionskriegen gefordert. Heute spricht man von Toleranz, oder mindestens von Intoleranz, gegenüber rassischen oder angeblichen rassischen Minderheiten, und vor allem gegenüber politischen Gegnern. In jedem dieser drei Fälle liegt das Problem verschieden.
3. Im Lichte der rassischen und politischen Verfolgungen unserer Zeit mag es vielen so scheinen, als ob die Erringung religiöser Toleranz am leichtesten gewesen sei. Tatsächlich war sie von der Sache her die schwerste. Wer glaubt, dass vom rechten Glauben das Heil der unsterblichen Seele abhängt, kann schwer tolerant sein: Der christliche Würdenträger im „Nathan", der die Erziehung eines Christenkindes in einem anderen Glauben als Verbrechen ansieht, ist von seinem Dogma aus konsequent - aber „Tut nichts, der Jude wird verbrannt" ist das Gegenteil von Toleranz.
     Umgekehrt ist „Der echte Ring vermutlich ging verloren" das Bekenntnis Nathans, und LESSINGs, zur Toleranz - aber es läuft auf Indifferenz gegenüber spezifischen Glaubensinhalten zugunsten einer ethischen Weltfrömmigkeit hinaus. Dies zeigt: Religiöse Toleranz wurde erst möglich im Maße, wie der ursprünglich allen Religionen eigene Ausschließlichkeitsanspruch aufgegeben und der spezifische Glaubensinhalt dadurch geschwächt wurde.
4. Die Abschwächung des religiösen Glaubens hat Raum gelassen für die Heilsverheißungen politischer „Diesseitsreligionen", die intoleranter sein können als jeder Großinquisitor. Unter ihnen nimmt die nationalsozialistische „Rassenlehre" in unserer Zeit schon durch ihre Millionen von Opfern eine Sonderstellung ein. Inhaltlich sollte die „Toleranz" rassischer Verschiedenheiten die leichteste und selbstverständlichste sein, weil es sich gar nicht um Überzeugungsfragen handelt: Niemand sucht sich seine „Rasse", also seine Herkunft oder Hautfarbe aus. Aus der Rasse ein Kriterium der Behandlung von Mitmenschen zu machen, heißt diesen für Eigenschaften, die sie nicht frei gewählt haben, die Menscheneigenschaft abzusprechen. Daher der zoologische Charakter alles Rassismus: Er ist die unmenschlichste Form der Intoleranz.
5. Die komplexeste, vieldeutigste Lage finden wir beim Problem der politischen Toleranz, die im Zeitalter der Demokratie und der totalitären Massenbewegungen die allgemeinste Bedeutung gewonnen hat. Toleranz ist ein Lebenselement der Demokratie, die ohne die bewusste Duldung von Gegensätzen der Überzeugungen entweder durch Intoleranz zerstört oder durch Indifferenz ausgehöhlt zu werden droht. Dagegen müssen die organisierten Träger totalitärer Diesseitsreligionen, die glauben, dass von der Machtergreifung und -behauptung das Heil der Menschheit abhängt, notwendig intolerant sein. Für sie rechtfertigt der Kampf um das totalitäre Heil auf dieser Erde und die Überwindung eines teuflischen Allfeindes jedes Verbrechen.
6. Umgekehrt müssen demokratische Regierungen und Parteien davon ausgehen, dass ihre Träger fehlbar sind. Sie müssen schon deshalb tolerant sein und den Menschen im Gegner respektieren. Das gilt im Kern auch für die Auseinandersetzung mit dem Gegner der Demokratie selbst: Auch ihn muss man zu überzeugen suchen - was das Gegenteil von bloßem, indifferentem Gewährenlassen bedeutet - und auch ihn muss man als Menschen respektieren - was nicht heißt, dass man von ihm gesetzwidrige Gewaltakte oder die Aufforderung dazu dulden muss. Demokratische Toleranz verpflichtet zum Argument; sie schließt Diffamierung des Gegners aus; sie verpflichtet nicht zur Wehrlosigkeit gegen Gewalt.

Zurück zur Übersicht

3.0 Hoffen auf eine intensiver gelebte Toleranz

Nach einem Überblick, der Begriff und Geschichte der Toleranz skizziert, schreibt Ignatz BUBIS:

„Es ist für einen wie wir in Freiheit lebenden Zeitgenossen am Ende dieses ungeheuerlichen 20. Jahrhunderts beinahe unmöglich geworden, die Bedingungen und Mühseligkeiten nachzuvollziehen, die zu seiner ihm selbstverständlich erscheinenden Freiheit geführt haben. Die religiös bestimmte Entwicklungsgeschichte des Toleranzgedankens mag dem heutzutage betont weltlich gesinnten „Normalbürger" aus dem Bewußtsein geschwunden sein. Er genießt wie selbstverständlich die Vorzüge eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats und tut gewiß recht daran.

Dennoch darf und muß in unserer Zeit rasant zunehmender Individualisierung der ethisch - und damit religiös - begründete Hintergrund demokratischen Seins und Handelns im öffentlichen Gespräch gehalten werden. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wußten sehr wohl, auf welches Gelände sie sich begaben, als sie ihrem (man darf ruhig sagen: grandiosen) Werk das Bewußtsein einer „Verantwortung vor Gott und den Menschen" voranstellten.

Die Grundrechte der Handlungsfreiheit der Freiheit der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, nicht zuletzt der Meinungsfreiheit erwachsen alle aus der unantastbaren Würde des Menschen, dem Ebenbild seines Schöpfers.
     Toleranz - die „Duldung", die der Stärkere (der einzelne, die Gruppe, der Staat) gegen den in Religion, Weltanschauung, Abstammung, Nationalität, Hautfarbe und Geschichte anders gearteten Schwächeren übt - stellt einen unverzichtbaren Grundwert in einer demokratischen politischen Gesellschaft dar. Von der Toleranzidee führte eine gerade Linie zu den politischen Forderungen der Emanzipation und der Gleichberechtigung der Bürger. Diese Linie setzte sich bis zum heute (zumindest in der Theorie) beinahe universell akzeptierten Katalog der Menschenrechte fort.
     Wenn wir also die Toleranz aus all diesen, ich meine: guten, Gründen bejahen, sollten wir auch darüber sprechen, wie wir es mit der Intoleranz halten sollten. Verdient die Unduldsamkeit unsere Duldung? Haben diejenigen, die anderen Menschen das Recht auf ein selbstdefiniertes Dasein absprechen, sie gar als 'Volksfremde' ausgrenzen, haben diese Gegner demokratischer Verhältnisse ein grundgesetzlich verbrieftes Anrecht auf Duldung? Müssen wir sie gewähren lassen oder werden wir selber intolerant, wenn wir uns gegen sie stellen?
     Ich meine, daß wir als Nutznießer eines langen, oft tragischen Kampfes um die Menschenrechte uns nicht von den Feinden der Demokratie in die „Toleranz-Intoleranz-Falle" locken lassen sollten. Natürlich müssen bei der Abwehr der Intoleranz - ganz gleich, in welcher intellektuell noch so verbrämten Form sie daherkommt - die Regeln unseres Rechtsstaats beachtet werden. Doch keine dieser Regeln lautet: Ihr sollt Euch alles gefallen lassen. Darum verlangt richtig verstandene Toleranz von uns auch ein entschiedenes Eintreten für sie.
     Der eigentliche Grundwert der Toleranz für unsere demokratische politische Gesellschaft besteht letztlich darin, daß sie uns lehrt, vom Stadium der beiläufigen Duldung ins Stadium der selbstbewußten Bejahung des anderen, unseres Nächsten, überzugehen. Wir können nur hoffen, daß uns eine neue, eine tiefer verstandene und intensiver gelebte Toleranz erst noch bevorsteht."

Zurück zur Übersicht

4.0 „Prinzipien der Toleranz" - Definition der UNESCO

Die Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedeten bei der 28. UNESCO-Generalkonferenz in Paris (25. Oktober - 16. November 1995) eine Erklärung von „Prinzipien der Toleranz", die in Artikel 1 die Bedeutung von „Toleranz" wie folgt definiert:

1. „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.
2. Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht.
Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich auf die Anerkennung der allgemein gültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer stützt. Keinesfalls darf sie dazu missbraucht werden, irgendwelche Einschränkungen dieser Grundwerte zu rechtfertigen. Toleranz muss geübt werden von Einzelnen, von Gruppen und von Staaten. (...)"

Quelle: Deutsche UNESCO-Kommission: „UNESCO heute", Nr. 11/1996, Bonn, 1996, S. 143-145

Zurück zur Übersicht

5.0 Toleranz - Rede am Vorabend des 9. November 2001

„Aus gegebenem Anlaß" hat der Professor für Ethik Julian NIDA-RÜMELIN, ehemals Staatsminister für Kultur, im Rahmen der Mosse-Lectures der Humboldt-Universität Berlin am 8. November 2001 eine Rede mit dem Titel „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" gehalten. Der 11. September sei kein Menetekel des Konfliktes
     o zwischen Erster und Dritter Welt,
     o zwischen Christentum und Islam,
     o zwischen Abendland und Morgenland,
sondern ein Anschlag auf die offene Gesellschaft.

NIDA-RÜMELIN will den normativen Kern der offenen Gesellschaft herausarbeiten. Er beschreibt zunächst deren Strukturmerkmale und entfaltet daran anschließend  ein Verständnis von Toleranz, das die unterschiedlichen Definitionsansätze erörtert. Seine Überlegungen werden wie folgt zusammengefasst.

5.1 Fünf Strukturelemente der offenen Gesellschaft

1. Normativer Universalismus
Es gibt allgemeingültige ethische Prinzipien, die mit einer Vielfalt unterschiedlicher kultureller Prägung vereinbar sind.
2. Individualismus
Das Individuum, der einzelne Mensch begründet die Legitimität kollektiven und institutionellen Handelns.
3. Die politische Praxis ist zu Begründungen verpflichtet.
Eine Politik, die Gründe anführt, muss den partikularen Standpunkt verlassen. Die Demokratie bietet ein Verfahren der  Entscheidungsfindung an, das Handeln auch bei Dissens möglich macht und den gesellschaftlichen Frieden wahrt. Abstimmungen und Mehrheiten entscheiden jedoch keine Wahrheitsfragen.
4. Diskurs und Argumentation sind öffentlich.
Begründungen richten sich an alle, die Zweifel vorbringen. Das Spannungsverhältnis zwischen objektivem Begründungsanspruch und pragmatischer Entscheidungsfindung wäre unerträglich, wenn es nicht den begleitenden Diskurs gäbe. Erst die Bereitschaft, sich auf das Sachargument auch dann einzulassen, wenn es den persönlichen oder den Parteiinteressen zuwiderläuft, schafft das normative Fundament einer demokratischen und zivilen Gesellschaft.
5. Politische Programme und  Regelungen müssen kontrolliert werden.
Wissenschaft und Demokratie beruhen auf der Institutionalisierung von Kritik. In der Wissenschaft ermöglicht sie neue Erkenntnisse, in der offenen Gesellschaft zähmt sie die Machtansprüche sowohl des Staates als auch der Religion.

Das alles sind Einsichten und Errungenschaften, die im Anschluss an die Religionskriege unter größten Opfern gewonnen wurden und eine normative Revolution sind. Ihr Kern, zugleich die einzige Möglichkeit zum Frieden, bestand darin, nicht das existentiell Wichtige zu relativieren, sondern Regeln des respektvollen Umgangs zu befolgen. Nur so wurde Koexistenz möglich.
     Den Anfang der offenen Gesellschaft bildete also eine Haltung des Respekts, die tiefe kulturelle Unterschiede auszuhalten gestattete.

5.2 Toleranz -  ein interpretationsbedürftiger Begriff

Toleranz wird unterschiedlich interpretiert. Das hat einerseits geschichtliche Ursachen, andererseits folgt es aus unterschiedlichen politischen Interessen und Zielen. NIDA-RÜMELIN skizziert die Entfaltung des Toleranz-Begriffes wie folgt.

  • Toleranz als Zugeständnis des Herrschers
    Im Sinne des Staatsverständnisses, das Thomas HOBBES entwickelt hat. kommt es für den Souverän darauf an, den Krieg alles gegen alle zu vermeiden. Er gewährt deswegen Freiräume. Diese Form der Toleranz dient dem eigenen Machterhalt, bleibt jedoch gegenüber den religiösen, moralischen und kulturellen Haltungen der Individuen indifferent. Diese Sicht der Toleranzproblematik gilt als   die „rechte" Variante.

  • Toleranz als Indifferenz
    In der zeitgenössischen Diskussion spielt eine andere Variante eine große Rolle. Politisch gilt sie als „links", philosophisch gesehen ist als "relativistisch" zu würdigen. Danach gefährden  normative Wahrheitsansprüche das friedliche Zusammenleben in einer  Demokratie. Den Glauben an universelle normative Prinzipien müsse man daher aufgeben. Toleranz wird so zu Indifferenz.  Ob ein moralisches Urteil als richtig oder falsch anzusehen sei, muss bei dieser Sichtweise offen bleiben.

  • Toleranz als Empathie
    Die relativistische Interpretation bleibt unbefriedigend, weil sie das Bedürfnis nach Maßstäben des Handelns außer Betracht lässt. Den Gegenpol zu relativistischen Ansatz bildet daher eine Denkrichtung, die unterstellt, dass eine Gemeinschaft von Bürgern durch eine einheitliche Wertorientierung zusammengehalten werde und es einen Gemeinwillen gebe. Die Individuen trügen zwar als Privatpersonen ihre Differenzen aus, aber nicht als Bürger eines Gemeinwesens. Vor dem Hintergrund eines hohen Maßes gemeinsam geteilter Einstellungen wird Toleranz zu der Fähigkeit, sich in das jeweils andere Individuum hineinzuversetzen - mithin zu Empathie.
         Dieser Ansatz enthält eine zentrale Schwäche. Er nötigt zur Einebnung von Differenzen, er zielt auf Assimilation und Homogenität. Allein in Blick auf die multikulturellen Staaten des Balkans genügt, um die Grenze dieser Form von Toleranz zu erkennen. Im globalen Maßstab gibt es erst recht nicht den Gemeinwillen, den diese Konzeption voraussetzt.
         Wenn umgekehrt das Nebeneinander authentischer Kulturen einschließlich gesellschaftlicher Trennung für richtig erklärt wird, gibt es auch keine befriedigende Antwort, worin Toleranz bestehe, denn was verbindet Parallelgesellschaften miteinander?

Aus dieser Übersicht folgt, dass  Toleranz weder als Indifferenz noch als Empathie tragfähige Lösungen bieten. Also muss eine andere Lösung gefunden werden. NIDA-RÜMELIN entwickelt sie in folgendem Gedanken.

5.3 Toleranz als Respekt

Toleranz als normative Grundhaltung einer offenen Gesellschaft kann und muss in Toleranz aus Respekt bestehen. Eine Zivilgesellschaft gründet auf Kooperation und kann nur stabil sein, wenn die Menschen die Interessen und kulturellen Prägungen der anderen respektieren. Weder werden in diesem Verständnis von Toleranz die jeweils existenziell wichtigen Wertvorstellungen aufgegeben, noch muss man sich in die der anderen einfühlen können. Vielmehr kommt es darauf an, sich auf diejenigen Regeln zu verständigen, die über alle Unterschiede hinweg akzeptabel sind. 
     Die Grundidee besteht darin, dass sich aus den in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen moralischen Überzeugungen der Menschen ein gemeinsamer normativer Kern gewinnen lasse. Aus der Systematisierung ergeben sich dann minimale, aber allgemeingültige normative Prinzipien.
     Universelle normative Ansprüche sind mit einer Pluralität von Lebensformen vereinbar.
Der normative Minimalkonsens besteht in dem Respekt für die Autonomie und Integrität anderer Menschen. Dieser Kern trägt die abstrakten universellen Prinzipien. Die Menschenrechte, ein zentrales Paradigma, bauen auf der fundamentalen - „Grund legenden" Haltung - des Respekts auf.

Das eröffnet Chancen für eine offene und zivile Weltgesellschaft.

5.4 Würdigung

Der Vorzug der dargestellten Position beruht darauf, dass tragfähige Elemente der beiden Denkrichtungen verbunden werden, ohne sie dabei in idealtypischer Reinheit durchzusetzen. Dennoch sieht der Verfasser der Bausteine im Anschluss an die hier referierte Position Anlass zu einer Anmerkung.
     Toleranz ist nicht nur eine Verpflichtung für die einen, sondern auch ein Angebot an die anderen. Was, wenn das Angebot nicht angenommen wird? Wie der Islamwissenschaftler Rainer GLAGOW (Tagesspiegel vom 17. November 2001) darlegt, wird vom Islam die „Einheit von Religion, Gesetz, Staat und Politik" vorgegeben. Der Koran gelte, im Gegensatz zur Bibel der Christen, als das ewige, „unerschaffene Wort Allahs", also als sein wesensimmanenter Wille.
     Danach sind die Grundprinzipien des Islam jedwedem Wandel entzogen. Sollte sich dieser orthodoxe Anspruch durchsetzen, müsste daran auch das klügste und nobelste Verständnis von Toleranz zerschellen.

Doch gibt es auch islamische Stimmen, die sich ähnlich wie NIDA-RÜMELIN äußern. Prinz Hassan BIN TALAL von Jordanien, der Präsident des Club of Rome, schreibt (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 262 vom 10. November 2001):

„Wir werden daran arbeiten, unsere gemeinsamen Werte zu integrieren, Veränderungen zum Besseren auf den Weg zu bringen und die Neigung zum Guten zu bestärken - zum wechselseitigen gesicherten Überleben." Und er fügt hinzu:

„Der Schlüssel zur Freiheit ist Erziehung".

Im Übrigen schlägt er vor, ein Parlament der Kulturen zu schaffen, wie es von Yehudi MENUHIN vorgeschlagen worden ist.

„Wir müssen zum Kern des Konflikts vorstoßen. Die Geschichte zeigt, daß es immer Fortschritt geben wird, wenn die Risiken rechtzeitig erkannt werden."

Der libanesische Dichter und Journalist Abba BAYDOUN schreibt unter der Überschrift
„Unser Wahn" (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 261 vom 9. November 2001):

„Der Westen war es, der eine ethische und kulturelle Wertordnung entwickelt hat, welche die Minderheiten anerkennt und die westlichen Maßstäbe und den Eurozentrismus kritisiert. Wir hingegen haben allzu oft den Sieg der Einheit und Gleichmacherei über die Vielfalt und Meinungsverschiedenheit gebilligt, wir haben geschwiegen, als große Minderheiten bei uns unterdrückt wurden, und nie die Verantwortung für tatsächliche Massenmorde übernommen.
     Allzu oft können wir immer noch nicht unterscheiden zwischen Kultur und Fanatismus, zwischen Dünkel und begründeter Meinung."

Zurück zur Übersicht

6.0 „Wann müssen wir tolerant sein?"

Diese Frage hat Jürgen HABERMAS am 29. Juni 2002 in seinem Festvortrag mit dem Titel
                 „Über die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theorien"
zum Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erörtert.
     Seine Überlegungen zeichnen sich durch analytische Schärfe und begriffliche Genauigkeit aus und unterscheiden sich dadurch von einem eher pathetisch-appellativen, dabei diffusen Begriffsverständnis, wie es vielfach anzutreffen ist. Sie werden hier in Thesenform zusammengefasst und vorgestellt.

6.1 Begriff und Funktion der Toleranz

Angesichts der politischen Entwicklung stellt sich der Konsenstheoretiker HABERMAS die Frage:

Wie kann mit nicht verhandelbaren" Geltungsansprüchen konstruktiv umgegangen werden?
o Einerseits dürfe der Gedanke an eine universelle Verhandelbarkeit 
   nicht preisgegeben werden.
o Andererseits müsse verhindert werden, dass die Bürger 
   sich wegen ihrer verschiedenen Glaubensansprüche 
   die Köpfe einschlagen - so Christian GEYER.

Auch der Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di FABIO (2005) hält Wertekonflikte für prinzipiell unlösbar. Deshalb müssten Lösungen über andere Regeln gefunden werden.

HABERMAS beantwortet die von ihm formulierte Frage mit einem - im Vergleich zu anderen, z.T. auch auf dieser Webseite vorgestellten Positionen - eng gefassten und geradezu schroff wirkenden Verständnis von Toleranz.

Religiöse Toleranz hat die Funktion, die gesellschaftliche Destruktivität eines nicht-verhandelbaren - also unversöhnlich fortbestehenden - Dissenses aufzufangen. Das soziale Band, welches Gläubige mit Andersgläubigen und Ungläubigen als Mitgliedern derselben säkularen Gesellschaft verbindet, soll nicht reißen.

6.2 Die Kernpunkte der Argumentation

  • Toleranz wurde im 16. Jahrhundert zunächst als Duldsamkeit gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen verstanden. Im 17. Jahrhundert wurde Toleranz zum Rechtsbegriff. Aus dem obrigkeitlichen Rechtsakt der Toleranz folgte die Zumutung für die Menschen, sich gegenüber den Angehörigen eines bis dahin unterdrückten Religionsgemeinschaft tolerant zu verhalten. Damit wird eine Entwicklung eingeleitet, in deren Verlauf die bloße Duldung zu einem Recht auf freie Religionsausübung wird und sich Bekenntnisfreiheit schließlich zu einem Grundrecht verfestigt.

  • Schon Pierre BAYLE (1647-1706, französischer Aufklärer und Polyhistor) fordert mittels plastischer Beispiele, die Perspektive das Anderen einzunehmen und die eigenen Maßstäbe auch dem Denken der Gegenseite zuzugestehen. Die gegen- und wechselseitige Anerkennung von Regeln toleranten Umgangs hebt den einseitig autoritären Charakter der Toleranz auf und macht sie symmetrisch - nimmt ihr mithin den Stachel der Intoleranz. "Auf tolerante Weise kann religiöse Toleranz genau unter den Bedingungen garantiert werden, unter denen sich Bürger eines demokratischen Gemeinwesens Religionsfreiheit gegenseitig einräumen."
  • Religiöse Toleranz als das Urbild der Toleranz ist inzwischen zur Toleranz gegenüber Andersdenkenden überhaupt verallgemeinert worden. Der religiöse Ursprung hat nicht nur historische, sondern auch systematische Bedeutung, weil er an den Begriff der durch Überzeugung gestützten Ablehnung" erinnert. „Toleranz können wir nur gegenüber einer aus guten subjektiven Gründen abgelehnten Überzeugung üben." 
         Mithin darf Toleranz nicht mit Indifferenz oder gar Wertschätzung gegenüber anderen Auffassungen verwechselt werden. Sie besteht nicht darin, Vorurteile hinzunehmen. Sie beschränkt sich auch nicht auf Tugenden des zivilen Umgangs wie die Fähigkeit zu Zusammenarbeit und Kompromiss, zu Fairness und kluger Interessenabwägung.
         Die politische Tugend der Toleranz ist erst dann gefragt, wenn die Beteiligten ihren eigenen Wahrheitsanspruch im Konflikt mit dem Wahrheitsanspruch eines Anderen als nicht verhandelbar" betrachten, aber den fortbestehenden Dissenses dahingestellt sein lassen, um auf der Ebene des politischen Zusammenlebens eine gemeinsame Basis des Umgangs aufrechtzuerhalten.
  • Was wird einer toleranten Person zugemutet - was genau muss sie "ertragen"? Um diese Frage zu klären, vergleicht HABERMAS den Idealtypus des Wissenschaftlers mit dem des Theologen. Wissenschaftler suchen nach einer noch nicht entdeckten, also in der Zukunft liegenden Wahrheit. Hingegen Theologen sind Interpreten einer in der Vergangenheit offenbar gemachten und nicht revisionsfähigen Wahrheit, die sich gegen konkurrierende Glaubenswahrheiten mit guten Gründen verteidigen lässt. Ihr Anspruch auf Irrtumslosigkeit bildet sich darin ab, dass für den Gläubigen Wahrheit und Gewissheit identisch sind.
  • Eine tolerante Einstellung hält - über einen fortbestehenden religiösen oder weltanschaulichen Dissens hinweg - zur Achtung der Person des Andersgläubigen und Andersdenkenden als eines gleichberechtigten Mitbürgers an. Dabei ist Toleranz an eine wichtige Voraussetzung gebunden: Für die Ablehnung konkurrierender Geltungsansprüche muss es legitime Gründe geben.
         Damit ist eine weitere Voraussetzung verknüpft. Toleranz kommt erst dann in Betracht, wenn alle Vorurteile beseitigt sind, aufgrund deren eine Minderheit diskriminiert worden ist. Der egalitär-universalistische Maßstab der staatsbürgerlichen Gleichheit verlangt sowohl Gleichbehandlung wie auch die gegenseitige Anerkennung als "ebenbürtiger" oder "vollwertiger" Mitglieder des politischen Gemeinwesens.
  • Nach Fortfall aller Vorurteile gibt es keinen Sachverhalt mehr, der eine Ablehnung der jeweils anderen Auffassungen rechtfertigen könnte. Dennoch und gerade deswegen ist Toleranz erforderlich und mutet sie gleichzeitig dem anderen eine Bürde zu.
         Toleranz lässt die eigenen Wahrheitsansprüche und Gewissheiten unberührt, doch sie schränkt deren Wirksamkeit in der Lebenswirklichkeit ein. Nur innerhalb der Grenzen, die durch die Norm der vollständigen und gleichmäßigen Inklusion aller Bürger gezogen sind, sollen sie sich auswirken können. Die von der eigenen Religion vorgeschriebene Lebensweise oder das dem eigenen Weltbild eingeschriebene Ethos dürfen einzig unter der Bedingung gleicher Rechte für jedermann realisiert werden.
         Den Anspruch auf umfassende Lebensgestaltung muss eine Religion aufgeben, sobald sich in pluralistischen Gesellschaften das Leben der religiösen Gemeinde vom Leben des größeren politischen Gemeinwesens differenziert.
  • Für den Gläubigen besteht die ihm zugemutete Toleranz freilich nicht nur darin, das eigene Ethos nur innerhalb der Grenzen der staatsbürgerlichen Gleichheitsnormen verwirklichen zu dürfen. Er muss auch das Ethos der Anderen in diesen Grenzen respektieren. Denn sobald die eigene Vorstellung vom richtigen Leben durch einen allgemeinverbindlichen Begriff des Guten oder des Heils bestimmt ist, erscheinen andere Lebensweisen nicht nur als anders, sondern als verfehlt. Wenn das fremde Ethos nicht nur eine Frage der Wertschätzung, sondern vielmehr eine von Wahrheit oder Unwahrheit ist, mutet die Forderung, jedem Bürger ungeachtet des eigenen ethischen Selbstverständnisses und der eigenen Lebensführung die gleiche Achtung entgegenzubringen, zugleich auch zu, sich mit dem eigenen ethischen Urteil praktisch zurückzuhalten. Wer sein eigenes Leben nach ethischen Wahrheiten richtet, für den ruft die Begegnung mit Lebensweisen, in denen sich konkurrierende Überzeugungen verkörpern, eine Ablehnung hervor, die Toleranz nötig macht.
         Ein säkularer Geist hingegen kann, selbst wenn er sich zum Pluralismus der Weltbilder nicht indifferent verhält, zum Pluralismus der Lebensweisen ein entspanntes Verhältnis unterhalten, denn dann verkörpern sich darin verschiedene Wertorientierungen, nicht verschiedene Wahrheiten, die einander ausschließen. Für ihn enthält der Pluralismus gleichberechtigter Lebensweisen keine Provokation. Ihm fällt es auch nicht schwer anzuerkennen, dass ein fremdes Ethos für den anderen dieselbe Authentizität hat und denselben Vorrang genießt wie das eigene Ethos für einen selbst. Genau diese Konsequenz wird jedoch demjenigen schwerer fallen, der sein ethisches Selbstverständnis aus Glaubenswahrheiten gewinnt, die universale Geltung beanspruchen.
  • Der Pluralismus der Lebensweisen lässt sich freilich nicht vom Pluralismus der Weltanschauungen trennen. Nicht nur der Pluralismus der Weltanschauungen macht Toleranz erforderlich. Das gilt auch für den Pluralismus von starken identitätsprägenden sprachlichen und kulturellen Lebensformen. Aufgrund ihres komplexen Gehaltes können sie eine Beurteilung nicht allein im Hinblick auf ihre existenzielle Bedeutung, sondern auch auf die Geltung von Wahrheit und Richtigkeit herausfordern.

Sie finden den vollständigen Text der Rede unter der Adresse http://www.bbaw.de/schein/habermas.html
     Eine lesenswerte Rezension der Rede HABERMAS' hat Christian GEYER geschrieben (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 150 vom 2. Juli 2002, S. 37; http://afaz.gbi.de).
     Interesse verdienen auch  die Überlegungen von Jutta LIMBACH, ehemals Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. „Das Prinzip Toleranz" (DIE ZEIT vom 25. April 2002). Sie finden sie unter der Adresse
http://www.zeit.de/reden/Bildung_und_Kultur/bellevue_limbach_200217.html

6.3 Der Kern des Problems

Kürzlich wurde des vor 450 Jahren geschlossenen Augsburger Religionsfriedens gedacht. Heike SCHMOLL beschreibt (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 223 vom 24. September 2005) dessen Leistung. Sie liege darin, "daß keine Seite der anderen ihr Existenzrecht absprechen konnte, auch wenn sie ihren Wahrheitsanspruch nicht teilte." 

Sie definiert vor diesem Hintergrund Religionsfreiheit im neuzeitlichen nachaufklärerischen Sinne wie folgt:

"Keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft kann Religionsfreiheit für sich beanspruchen, ohne selbst Glaubensüberzeugungen und Grundrechte der anderen zu wahren."

Der Augsburger Religionsfrieden könne als Modell für die friedliche Koexistenz von Christentum und Islam dienen. Muslimische Gruppen müssten allerdings auf ihren Absolutheitsanspruch im öffentlichen Leben verzichten, weil er allen anderen den Wahrheitsanspruch streitig mache und ihre Freiheit gefährde.

Anders gesagt (so Wilfried von BREDOW, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 105 vom 6. Mai 2006, S. 9): 

"Neben den jeweiligen kollektiven Identitäten muss es ein Bewusstsein von kultureller Mehrwertigkeit geben, also davon, dass andere für sich andere Werte anerkennen und dass solche Postulate grundsätzlich keine Bedrohung für die eigenen Postulate bedeuten."

BREDOW sieht freilich auch: "Die Schwierigkeit, andere kulturelle Kontexte überhaupt zu verstehen, geht häufig über in die Entschlossenheit zum Missverständnis (a.a.O).

6.4 Thomas MANN zur Toleranz

Alle die bis hierher referierten Überlegungen können - zumal in ihrer Gesamtheit - als zu komplex erscheinen. Deswegen lohnt es sich, abschließend einen Text zu zitieren, der den Kern der Toleranz ebenso gültig wie schlicht beschreibt. 

Dirk HEISSERER hat jüngst (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 255 vom 2. November 2005) einen bislang unbekannten Brief Thomas MANNs publiziert. Der junge Turiner Versicherungsangestellte  Aldo Giordano hatte sich aus Gewissensnot an den berühmten Schriftsteller gewandt und ihm die Frage gestellt:

Ist wirkliche Freundschaft zwischen einem römischen Katholiken und einem deutschen Protestanten möglich?

MANN antwortete ihm am 25. Februar 1954 aus Rom:

     Sehr geehrter Herr,
     Ihren Brief empfing ich auf Reisen.
    Ich habe eine zu tolerante Natur, um glauben zu können, dass Freundschaft zwischen zwei Menschen verschiedener konfessioneller Überlieferung unmöglich sei. Sie ist möglich auf der Grundlage rein menschlicher Sympathie und der Achtung vor der Form des Glaubens, in welcher der andere lebt. Es gibt viele Glaubensformen, aber die Welt des Religiösen ist nur eine, und im Grunde werden alle religiösen Menschen sich untereinander verstehen. Kein Opfer an innerer Freiheit ist dazu nötig; im Gegenteil: die innere Freiheit bewährt sich in der freundschaftlichen Duldung des Ueberlieferungsgepräges, das die Religiösität des anderen trägt.

Ihr sehr ergebener Thomas Mann

HEISSERER berichtet, dem Empfänger sei diese Antwort lange ein Rätsel geblieben, doch habe ihn dieser getreulich abgeschrieben und, wie er sagte, "fromm" aufbewahrt. 
     Wie der Brief nun bekannt wurde, ist mehr als sensationell. Die Turiner Zeitung "La Stampa" hatte am 12. August 2005, kurz vor Thomas MANNs fünfzigstem Todestag, einen ebenfalls bislang unbekannten Brief vorgestellt, in dem MANN im Februar 1927 Fragen des jungen Stuttgarter Buchhändler Carl von Treeck geradezu bekenntnishaft beantwortete. In dem Artikel wurde die Ansicht vertreten, es geben "keinen vergleichbar gehaltvollen" Brief MANNs an einen Unbekannten.
     Das veranlasste den inzwischen 82 Jahre alten Aldo Giordano, Leser des Blattes, dazu,

"die universelle Botschaft, 
die ihm der Dichter vor einem halben Jahrhundert persönlich zugedacht hatte,

auch seinen heutigen Zeitgenossen mitzuteilen." 

Der Literaturwissenschaftler Dirk HEISSERER ist Vorsitzender des Thomas-Mann-Förderkreise München.

6.5 Toleranz im modernen Verfassungsstaat

Horst DREIER, Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg, hat die in den vorstehenden Überlegungen erörterten Probleme und Spannungen jüngst in dem folgenden Resumé beschrieben (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 230 vom 4. Oktober 2007, S. 10):

"Ein von Pluralität und Toleranz geprägtes politisches Gemeinwesen bedarf für die Erhaltung seiner Handlungs- und Integrationsfähigkeit selbst eines Mindestmaßes an soziokultureller und zivilisatorischer Homogenität. Denn es bleibt der schwierige Gedanke auszuhalten und im Alltag zu verwirklichen, dass der einheitsstiftende Konsens einer pluralen Gesellschaft im Dissens der divergenten religiösen, weltanschaulichen und politischen Positionen nicht seinen feindlichen Widerpart, sondern seine Grundlage hat."

Mit einer schwierigen verfassungsrechtlichen Problematik setzt sich Hans Markus HEIMANN auseinander (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 101 vom 2. Mai 2007, S. 40). 

Fast immer werde in den Hintergrund gedrängt, dass in den allermeisten Konfliktsituationen am Ende die staatliche Seite eine Entscheidung zu treffen habe, sei es in Gestalt einer Regelung durch den Gesetzgeber, sei es in Form einer exekutiven Handlung. Beides wiederum unterliege der gerichtlichen Überprüfung. 

HEIMANN wirft deshalb die Frage auf, ob Toleranz ein geeigneter Maßstab für eine letztlich auf dem Verfassungsrecht basierende staatliche Entscheidung sein könne. In deutlicher Abgrenzung zur Behandlung der Toleranz im philosophischen Diskurs stellt er folgende Überlegungen vor:

  • Die Toleranz ist kein expliziter Regelungsgegenstand des Grundgesetzes. Toleranz wird allenfalls als ganz allgemeines der Verfassung zugrunde liegendes Prinzip angesehen, das keine konkrete rechtliche Bedeutung entfaltet.

  • Der Begriff der Toleranz ist für die Beurteilung staatlichen Handelns in zweifacher Hinsicht ungenau: Er ist zum einen anachronistisch, weil der moderne Grundrechtsstaat eben nicht tolerant, sondern neutral ist. Zum anderen wirken die meisten auf den Gedanken der Toleranz gestützten Lösungsvorschläge konkreter Streitfragen wenig realitätsnah, da sie wesentliche Gedanken einer Grundrechtsdogmatik nicht rezipieren, die in mehr als fünfzig Jahren insgesamt sehr akzeptierter Verfassungsrechtsprechung theoretisch entwickelt worden ist und sich praktisch bewährt hat.

  • Der Anwendungsbereich der Toleranz im modernen Grundrechtsstaat ist der einer bürgerlichen Verhaltenstugend. Nur unter diesem Aspekt ist der Staat der Hüter der Toleranz. 

Am Ende einer überaus differenzierten Erörterung, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann, kommt HEIMANN zu folgendem Ergebnis:

  • Was wir tolerieren, sehen wir als falsch an; wäre dies nicht der Fall, hätte man es nicht mit Toleranz, sondern entweder mit Indifferenz oder mit vollständiger Bejahung zu tun.

  • Im neutralen Staat besteht der Kern der verfassungsgerichtlichen Entscheidung in einer Abwägung zwischen gegenläufigen Grundrechtspositionen, deren Ergebnis nicht neutral sein kann.

7.0 Literaturnachweis

Aus praktischen Gründen werden alle  Literaturnachweise dieses thematischen Bereiches auf der Webseite „Werte-Erziehung - Literaturgrundlage" zusammengefasst. Das entlastet die einzelne Webseite und vermeidet Wiederholungen. Um nachzulesen, klicken Sie hier: Literaturgrundlage


Zurück zur Übersicht
Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 21.12.09
-