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Tugenden oder Werte?

IV. Gerechtigkeit 
Folge von Selbststeuerung oder Ergebnis von Sanktionen?

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Gerechtigkeit – das Unvermögen, Unrecht zu tun
3.0 Der Ring des GYGES
4.0 Fazit
5.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Der griechische Philosoph PLATON hat in seinen Dialogen die sog. Kardinaltugenden untersucht. Unter ihnen misst er der Gerechtigkeit besondere Bedeutung zu. In seinem epochalen Werk Der Staat hat er sich mit dem Wesen der Gerechtigkeit tiefschürfend auseinandergesetzt. Das erste Buch dieses Werkes ist ein in sich geschlossener Text, der - wie andere den Kardinaltugenden gewidmete Dialoge - nach dem Hauptgesprächspartner THRASYMACHOS" heißen müsste.
     Mit den Ergebnissen dieser Untersuchung nicht zufrieden, entwickelte PLATON ein Denkgebäude, das zugleich eine Anthropologie und eine politische Theorie darstellt, weil er die menschlichen Seele und den Staat in strikter Analogie strukturiert sieht.
     Im zweiten bis zehnten Buch des Werkes untersucht PLATON alle Aspekte des Themas umfassend und systematisch. Er wählt dafür jedoch nicht die literarische Form der Monographie oder des Lehrvortrages, sondern wiederum die des Dialoges: So kann er die verschiedenen Sichtweisen jeweils als Auffassungen einzelner Gesprächspartner darstellen und die Klärungen in Rede und Gegenrede sich entwickeln lassen. Wie auch sonst, beherrscht und gestaltet SOKRATES als zentrale Gestalt des Dialoges Entfaltung und Richtung der Gedanken, so dass man ihn geradezu als Medium PLATONs ansehen kann.

2.0 Gerechtigkeit – das Unvermögen, Unrecht zu tun

Zu Beginn des zweiten Buches knüpft GLAUKON an die Auffassungen THRASMYMACHOS' an und legt dar, dass sie ihn nicht befriedigen können. Er begründet seinen Standpunkt mit dem Hinweis auf das gängige Verhalten der Menschen und entwickelt eine Art Negativdefinition der Gerechtigkeit: sie sei das Unvermögen, Unrecht zu tun.

GLAUKON argumentiert wie folgt:

  • Unrechttun sei gut, Unrechterleiden schlecht. Wünschenswert sei es, Unrecht tun zu können, ohne Strafe erleiden zu müssen, frustrierend sei es, Unrecht erleiden zu müssen, ohne sich rächen zu können.

  •  Dabei seien die Nachteile durch Unrechterleiden wesentlich größer als die Vorteile, die sich durch Unrechttun erzielen ließen. Aus schmerzlicher Einsicht in diesen Sachverhalt habe man sich darauf verständigt, weder Unrecht zu tun noch zu erleiden.

  • Deshalb hätten die Menschen angefangen, Gesetze zu erlassen sowie Verträge abzuschließen und das vom Gesetz Gebotene das Gesetzliche und Gerechte zu nennen.

  • Gerechtigkeit sei also der unumgängliche Kompromiss zwischen zwei gleichermaßen problematischen Polen, werde aber als lästige Fessel empfunden.

3.0 Der Ring des GYGES

GLAUKON belegt seine Thesen mit einem Vortrag, der ein berühmtes Stück Weltliteratur geworden ist:

„Daß aber auch Menschen, die sich der Gerechtigkeit befleißigen, nur aus Unvermögen des Unrechttuns und ungern sie ausüben, das würden wir am besten merken, wenn wir folgendes Gedankenexperiment machen:
     Wir geben jedem von beiden Macht zu tun, was er nur will, dem Gerechten und dem Ungerechten, und dann gehen wir ihnen nach, um zu sehen, wohin die Begierde jeden von beiden führen wird. Dann würden wir gewiß den Gerechten auf frischer Tat ertappen, daß er ganz nach demselben strebt wie der Ungerechte wegen des Wunsches, mehr zu haben, nach welchem jedes Wesen als nach einem Gute zu trachten pflegt, aber durch das Gesetz mit Gewalt veranlaßt wird zur Wertschätzung des Gleichen.
     Die Macht aber, die ich meine, kann am ehesten eine solche sein, wenn ihnen dieselbe Kraft zuteil würde, die einst GYGES, der Ahnherr der Lyder, gehabt haben soll.
     Dieser nämlich soll ein Hirt gewesen sein, der bei dem damaligen Beherrscher von Lydien diente.
     Als nun einst großes Ungewitter gewesen und Erdbeben, sei die Erde gespalten und eine Kluft entstanden in der Gegend, wo er hütete. Wie er nun dies mit Verwunderung gesehen und hineingestiegen sei, habe er dort vieles andere Wunderbare, von dem sie erzählen, und auch ein hohles, ehernes, mit Fenstern versehenes Pferd gefunden, durch die er hineingeschaut und darin einen Leichnam gesehen, dem Anschein nach größer als nach menschlicher Weise. Dieser nun habe nichts anderes an sich gehabt als an der Hand einen goldenen Ring, welchen jener ihm dann abgezogen habe und wieder herausgestiegen sei.
     Als nun die Hirten ihre gewöhnliche Zusammenkunft gehalten, worin sie dem König monatlich berichteten, was bei den Herden vorgegangen, sei auch jener erschienen, den Ring am Finger. Wie er nun unter den andern gesessen, habe es sich getroffen, daß er die Fassung des Ringes nach der inneren Seite der Hand zu umgedreht, und als dieses geschehen, sei er den Dabeisitzenden unsichtbar geworden, so daß sie von ihm geredet als von einem Abwesenden; darüber habe er sich gewundert, den Ring wieder angefaßt und die Fassung nach außen gedreht, und sobald er ihn umgekehrt, sei er sichtbar gewesen.
     Wie er das nun gemerkt, habe er den Ring versucht, ob er wirklich Kraft habe, und es sei ihm immer so geschehen, daß, sobald er die Fassung nach innen gedreht, er unsichtbar geworden, nach außen sichtbar. Als er dessen innegeworden, habe er sogleich bewirkt, unter die Boten des Königs aufgenommen zu werden, und so sei er gekommen, habe dessen Weib zum Ehebruch verleitet, dann mit ihr dem Könige nachgestellt, ihn getötet und die Herrschaft an sich gerissen.
     Wenn es nun zwei solche Ringe gäbe und den einen der Gerechte anlegte, den andern aber der Ungerechte: so würde keiner, wie man ja denken müsse, so stahlhart sein, daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich gewänne, sich fremden Gutes zu enthalten und es nicht anzurühren, obwohl es ihm freistände, teils vom Markt ohne alle Besorgnis zu nehmen, was er nur wollte, teils in die Häuser zu gehen und beizuwohnen, wem er wollte, und zu töten oder aus Banden zu befreien, wen er wollte, und so auch alles andere zu tun, recht wie ein Gott unter den Menschen.
     Wenn er nun so handelte, so täte er nichts von dem andern Verschiedenes, sondern beide gingen denselben Weg. Und dies, müsse doch jedermann gestehen, sei ein starker Beweis dafür, daß niemand mit gutem Willen gerecht ist, sondern nur aus Not, weil es eben für keinen an sich gut ist. Denn wo jeder nur glaube, daß er werde Unrecht tun können, da tue er es auch. Denn jedermann glaubt, daß ihm für sich die Ungerechtigkeit weit mehr nützt als die Gerechtigkeit, und glaubt auch recht, wie der sagt, der sich dieser Rede annimmt. Denn wenn einer, dem eine solche Macht zufiele, gar kein Unrecht begehen wollte noch fremdes Gut berühren, so würde er denen, die es merkten, als der Allerelendeste vorkommen und als der Allerunverständigste, wie wohl sie einander betrügen und ihn einer vor dem andern loben würden aus Furcht vor dem Unrechtleiden. So ist nun dieses." (PLATON, Politeia 359 b - 360 d; Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher)

4.0 Fazit

GLAUKONs Standpunkt beschreibt das landläufige Verständnis von Gerechtigkeit. In moderner Sprache formuliert:

Gerechtigkeit ist gesetzmäßiges Verhalten -
erzwungen durch soziale Kontrolle und Sanktionen.

Dieses Verständnis von Gerechtigkeit ist nicht ernstlich PLATONs Auffassung. Vielmehr dient sie ihm als Ausgangspunkt dafür, in systematischer Konstruktion einen Staat als Modell für die Untersuchung der Gerechtigkeit zu entwerfen.
     Die täglichen Meldungen der Medien wie auch neuere Forschungsergebnisse lassen jedoch befürchten, dass Kriminalität und Gewalttätigkeit keine sekundären Phänomene sind, sondern anthropologische Wurzeln haben. GLAUKON mag einen realistischen Standpunkt vertreten, doch brauchen sich Erzieher mit ihm nicht abzufinden, sondern sollten ihn als Herausforderung dafür verstehen,

ihre Zöglinge zur Selbstbeherrschung zu befähigen.

Vertiefungen zu dieser Überlegungen finden Sie auf den Webseiten "Immanuel KANT - Die pädagogische Theorie" , "Störungen des Unterrichts - ein Orientierungsrahmen zum Thema" und "Disziplin - Begriff und Verständnis".
     Wenn Sie sich für die rechtlichen Aspekte des Themas Gerechtigkeit interessieren, finden Sie in der Themengruppe "Die Schule im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat" Vertiefungen unter dem Stichwort "Gesetz, Recht, Gerechtigkeit".

Im Übrigen verdienen sowohl die Komplexität des Themas »Gerechtigkeit« wie auch dessen sozialpsychologische Aktualität den Hinweis auf die Arbeiten von John RAWLS und Stefan Gosepath.

5.0 Literaturnachweis

  • PLATON
    Sämtliche Werke Band 3
    Nach der Übersetzung von Friedrich SCHLEIERMACHER
    herausgegeben von Walter F. OTTO, Ernesto GRASSI, Gert PLAMBÖCK
    Hamburg 1958

  • Stefan GOSEPATH
    Gleiche Gerechtigkeit
    Grundlagen eines liberalen Egalitarismus
    Frankfurt am Main 2004

  • Werner JAEGER
    Paideia
    Die Formung des griechischen Menschen
    Berlin 1959, Bd. 2 S. 270 ff.

  • John RAWLS
    Eine Theorie der Gerechtigkeit
    Frankfurt am Main 1993, 7. Auflage

  • Josef PIPER
    Das Viergespann
    Klugheit - Gerechtigkeit - Tapferkeit - Maß
    München 1964

  • Wolfgang SOFSKY
    Paradies der Grausamkeit
    Eine Anatomie der Gewalt
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 27 vom 2. Februar 1999,

Die zusammenfassende Literaturgrundlage für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier:  Literaturgrundlage


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 10.04.11
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