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Immanuel KANT
Die pädagogische Theorie
Übersicht
1.0 Einführung
2.0 KANTs Grundgedanken
3.0 KANTs
Erziehungsbegriff
3.1 Ziel der Erziehung
3.2 Idee der Erziehung
3.3 Notwendige Bedingung für eine
vollkommene Gesellschaft"
3.4 Begründung der Erziehungswissenschaft
3.5 Prinzipien der Erziehungskunst
3.6 Zusammenfassung
4.0 KANTs Differenzierung des Erziehungsbegriffs
4.1 Definitionen
4.2 Fazit
5.0 Die zentrale Schwierigkeit bei der Erziehung
5.1 Die Entfaltung des Problems
5.2 Versuche einer Auflösung
5.3 Zusammenfassung
5.4 Der Mensch - krummes
Holz"
6.0 Textgrundlage und Literaturnachweis
1.0 Einführung
Immanuel KANT hat
erstmalig im Wintersemester 1776/77 Über Praktische Pädagogik"
(Erziehungskunst) gelesen und auch in späteren Semestern Vorlesungen über Pädagogik
gehalten. Argumentativ bündige und systematisch angelegte Abhandlungen zur Pädagogik hat
er nicht verfasst. Der von seinem Schüler Theodor RINK 1803
herausgegebene Text ist eine Art zusammenfassender Vorlesungsnachschrift und
keineswegs eine schlüssig durchgearbeitete Abhandlung. Über weite Passagen
stellt er eher eine Sammlung wichtiger Aphorismen zum pädagogischen
Thema dar. Die Textgrundlage ist kompliziert und wissenschaftlich
kontrovers. Sie beruht nicht nur auf dem von RINK genannten Lehrbuch
des Konsistorialrates D. Samuel Friedrich BOCK, sondern offenkundig auf
weiteren Quellen. Auf der Grundlage älterer Forschungen hat neuerdings Peter KAUDER
(1999, S. 35 - 50) die Entstehungsgeschichte und Authentizität des Textes
untersucht und eine zuverlässige Interpretationsgrundlage geschaffen.
KANT zählt zu den bedeutendsten Köpfen der
Aufklärung. Seine Pädagogik ist - wie Alfred K. TREML
(2005, S. 269 - 290, insbes. S. 284 ff.) eindrucksvoll darstellt - in die
Gesamtheit seines Philosophierens eingebettet. Deshalb lohnt es sich zu prüfen, ob
sie auch für unsere
Zeit gültige Aussagen enthält.
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2.0 KANTs
Grundgedanken
KANTs grundlegende
Einsicht lautet wie folgt (KANT 1983, S. 36):
"Die
Natur hat gewollt:
dass der Mensch alles,
was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht,
gänzlich aus sich selbst herausbringe,
und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig
werde,
als die er sich selbst,
frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat."
Über die
Schwierigkeit der Erziehung hat sich KANT keine Illusionen gemacht:
"Daher
ist die Erziehung das größeste Problem,
und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden." (KANT 1983, S.
702\3; A 14)
Wesentliche Gedanken zur Erziehung des
Menschen sind schon in der Einleitung zur Vorlesung Über Pädagogik"
nachzulesen. So formuliert dort KANT zur Erziehung des Menschen folgende Grundgedanken:
-
Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das
erzogen werden muss. (KANT 1983, S. 697\1; A 1)
-
Der Mensch kann nur Mensch werden durch
Erziehung.
Er ist nichts, als was die
Erziehung aus ihm macht. (KANT 1983, S. 699\3; A 8)
-
Gute Erziehung ist gerade das, woraus
alles Gute in der Welt entspringt. (KANT 1983, S. 704\4; A 18)
- Im Menschen liegen nur Keime zum Guten.
(KANT 1983, S. 705\1; A 19)
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3.0 KANTs
Erziehungsbegriff
3.1 Ziel der
Erziehung
Die Erziehung hat zum Ziel, die Anlagen
des Menschen proportionierlich und zweckmäßig" zu entwickeln.
-
Die
Menschengattung" soll die ganze Naturanlage der Menschheit" nach und
nach von selbst herausbringen"; eine Generation erzieht die andere
(KANT 1983, S. 697\4; A 2).
-
Der Mensch soll seine Anlagen zum Guten erst entwickeln;
die Vorsehung hat sie nicht schon fertig in ihn gelegt; es sind bloße
Anlagen und ohne den Unterschied der Moralität." (KANT 1983, S.
702\3; A 14)
-
Sich
selbst besser zumachen, sich selbst zu kultivieren, und, wenn er böse
ist, Moralität bei sich hervorzubringen, das soll der Mensch. (KANT 1983, S.
702\3; A 14 )
-
"Wenn
man das aber reiflich überdenkt, so findet man, daß dieses sehr
schwer sei.
Daher ist die Erziehung das größeste Problem, und das schwerste,
was dem Menschen kann aufgegeben werden." (KANT 1983, S.
702\3; A 14)
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3.2 Idee der
Erziehung
Hinter der Erziehung steckt das große
Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur". Früher - so KANT -
hatten die Menschen keinen Begriff von der Vollkommenheit, die die menschliche Natur
erreichen kann. Auch wenn dieser Begriff für ihn noch unzureichend geklärt ist, so geht
er doch davon aus, dass nicht der einzelne Mensch, sondern nur die
Menschengattung" dahin gelangen kann bzw. soll (KANT 1983, S.
702\1; A 12).
3.3 Notwendige
Bedingung für eine vollkommene Gesellschaft"
Eine Gleichförmigkeit unter (den
Menschen) kann nur stattfinden, wenn sie nach denselben Grundsätzen handeln, und diese
Grundsätze müssten ihnen zur zweiten Natur werden (KANT 1983, S. 701\2; A
11).
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3.4 Begründung
der Erziehungswissenschaft
Weil die Entwicklung der Naturanlagen bei
dem Menschen nicht von selbst geschieht, so ist alle Erziehung eine - Kunst. Die
Erziehungskunst oder Pädagogik muss judiziös" werden, d.h. Erziehungskunst
muss in Wissenschaft verwandelt werden, wenn sie die menschliche Natur so entwickeln soll,
dass sie ihre Bestimmung erreiche (KANT 1983, S. 703\4; A 16). Mit anderen Worten:
KANT hält ein selbständig urteilendes"
(»iudicium« - Urteil) Erziehungshandeln für notwendig.
3.5 Prinzipien
der Erziehungskunst
-
Die Kinder sollen nicht nach dem
gegenwärtigen, sondern nach dem zukünftig besseren Zustande der menschlichen
Gesellschaft erzogen werden (KANT 1983, S. 704\2; A 17).
-
Es kommt primär darauf an, dass Kinder
denken lernen (KANT 1983, S. 707\4; A 25).
3.6
Zusammenfassung
Grundlage der Gedanken KANTs ist seine
Transzendentalphilosophie.
Erziehung ist für
ihn die Verwirklichung der praktischen Vernunft.
Deshalb sind für ihn Menschheit und Vernünftigkeit identisch.
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4.0 KANTs
Differenzierung des Erziehungsbegriffs
4.1
Definitionen
KANT bestimmt Erziehung
als
-
Wartung (Verpflegung, Unterhalt),
-
Disziplin (Zucht),
-
Unterweisung (nebst Bildung).
Demzufolge ist der Mensch
o Säugling,
o Zögling,
o Lehrling. (KANT
1983, S. 697; A 1)
Diese Einteilung könnte
von Jean Jacques Rousseau angeregt
worden sein, wie Arnolf
NIETHAMMER (1980, S. 127) für wahrscheinlich hält. Dessen "Emile
oder Über die Erziehung" war 1762 veröffentlicht worden. ROUSSEAU
greift in seinem Stufenprinzip der Erziehung einen bereits in der Antike
formulierten Grundgedanken auf. Der römische Polyhistor Marcus Terentius
VARRO (116-27 v.Chr.) nennt vier Stufen der Erziehung (Varro, De liberis
educandis ap. Nonius Marcellus 447, 33):
- Educit obstetrix -
die Hebamme entbindet,
- educat nutrix
-
die Kinderfrau zieht auf,
- instituit
paedagogus - der Erzieher unterweist (d.h. führt in die
Gesellschaft ein),
- docet magister
- der Lehrer
unterrichtet (d.h. führt in die Kultur ein).
KANT sieht vier Etappen der Menschwerdung
und gliedert deshalb den Begriff der Erziehung in vier Bereiche oder Handlungsformen auf:
-
Disziplinierung,
-
Kultivierung,
-
Zivilisierung,
-
Moralisierung.
Den letzten drei Begriffsdimensionen
ordnet er dabei die Prinzipien der Geschicklichkeit, der Klugheit und der Sittlichkeit zu.
Dadurch stellt KANT den Anschluss der Pädagogik an seine Theorie
der praktischen Vernunft her; denn in jenen Prinzipien wird die technisch-, die
pragmatisch- und die sittlich-praktische Vernunft verwirklicht.
Erziehung soll demgemäß die Realisierung aller
Erscheinungsweisen der praktischen Vernunft ermöglichen (HUFNAGEL\46\1). Disziplinierung,
Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung sind pädagogische Handlungsformen, die auf
eine nicht-naturale Gesetzlichkeit bezogen sind, auf die unterschiedlichen
Gesetzlichkeiten der theoretischen und der praktischen Vernunft (HUFNAGEL\50\2).
- Disziplinierung
Der Disziplinierung fällt dabei eine im engeren Sinne propädeutische Rolle zu. KANT
spricht deshalb auch von ihr als dem negativen Teil der Erziehung.
Disziplin oder Zucht ändert die
Tierheit in die Menschheit um".
(KANT 1983, S.
697; A 1)
Umänderung der Tierheit in die
Menschheit heißt bei KANT: Erzeugung von Gesetzesbewusstsein, Einführen in das Denken,
also in den vielfältigen Bereich der Intersubjektivität. Disziplinierung als erste Stufe
dieser Initiation soll Wegbereiter zur höchsten Form der Humanität (der Sittlichkeit)
sein, indem sie - wertend verstanden - den Abfall in die Inhumanität, in die bloße
Willkürlichkeit, in die voluntative Egozentrizität, in missverstandene, nämlich
chaotische Freiheit zu verhindern sucht (HUFNAGEL\50\2).
Disziplinierung eröffnet Vernünftigkeit und damit Freiheit;
sie zielt auf Emanzipation. Das erzieherische Endziel, die Autonomie, ist
bereits im disziplinierenden Handeln angelegt.
Mit der Disziplinierung soll eine neue Welt bzw. eine neue
Qualität des Menschseins geschaffen werden. Erst nachdem dieser Schritt getan ist, kann
die pädagogische Handlungsform der Kultivierung mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt
werden.
- Kultivierung
Unter Kultivierung versteht KANT Unterweisung, Bildung, Belehrung, also den an dem Prinzip
der Geschicklichkeit orientierten positiven Teil der Erziehung". Kultivierung
in diesem engen Sinne bedeutet die Erschließung dessen, das man in der Pädagogik
Bildungswelt" genannt hat (HUFNAGEL\52\2).
Erst wer Einsicht in die Gegebenheiten, Werke und Maßstäbe der
ihn tragenden Kulturwelt gewinnt, erhält die Chance, sich zu befreien. So führt der
Aufstieg zum freien Handeln unabänderlich durch die schwierige und langwierige
Beschäftigung mit den tradierten kulturellen Gehalten.
- Zivilisierung
Während Kultivierung die Entdeckung und Steigerung der Individualität als eines
Inbegriffs individueller Wertigkeiten beabsichtigt, ist die pädagogische Handlungsform
der Zivilisierung auf die soziale Wertsphäre bezogen (HUFNAGEL\53\2).
Die Zivilisierung lässt den Menschen zu einem Mitglied
der Gesellschaft werden, das deren Werthorizonte annimmt und sich in der Orientierung an
ihnen entwickelt.
- Moralisierung
Dagegen ist die Moralisierung auf menschheitlich orientierte unbedingte Wertigkeit
bezogen. Sowohl die Erschließung der Sachwelt (Kultivierung) wie die Initiation in die
Mitwelt (Zivilisierung) sind in ihrer Wertigkeit durchgängig bedingt; allein die sittlich-vernünftige
Selbstbestimmung zeichnet sich durch absolute Valenz aus (HUFNAGEL\55\1).
Überführt man KANTs Überlegungen in moderne
Sprache, so beschreibt er folgenden Aufbau von Erziehung:
-
Menschen sollen zu Selbstbeherrschung
fähig werden.
-
Menschen sollen in die Kultur
eingeführt werden, in der sie existieren.
-
Menschen sollen fähig werden, mit
anderen Menschen zusammen zu leben
und deren Wertorientierung zu akzeptieren.
- Menschen sollen zu selbstbestimmtem und
an sittlich-vernünftigen Werten orientiertem Leben fähig werden.
Peter KAUDER komprimiert
das alles in folgender "Problemexposition" (1999, S. 143):
"Erziehung
soll nicht nur zur Mündigkeit, sondern auch zur Moralität führen."
Johannes
SCHWARTE (2006, S. 264) bringt die hier vorgetragenen
Gedankengänge - eine Formulierung Johann Gottfried HERDERs
zitierend - in die folgende scharf pointierte Fassung. Bildung als
das Ergebnis von Erziehung
"ist im
Kern ein Verwandlungsprozess, in dessen Verlauf das biologische Naturwesen
möglicher Mensch in
das Kulturwesen humaner Mensch verwandelt wird. Der Mensch kennt als
Naturwesen weder Sozialität noch Moralität. Das zentrale Ereignis des Bildungsprozesses
besteht in der Verwandlung von Natur in Kultur, von Animalität in
Moralität."
Der
französische Philosoph Gabriel MARCEL fasst all das in der ebenso
einprägsamen wie schlichten Formulierung zusammen (zitiert nach Friedrich
MAIER, Warum Latein?, Stuttgart 2008, S. 19):
"Wir
sind als Lebewesen geboren, Menschen müssen wir erst werden."
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4.2 Fazit
Durch die pädagogische Handlungsform der
Disziplinierung wird der zu Erziehende in die Lage versetzt, auf die positiven
pädagogischen Handlungsformen zielorientiert" zu reagieren.
Mit der pädagogischen Initiation in die vielgestaltige Sachwelt
(Kultivierung) ist ein spezifisches Bewusstsein für den Eigen-Sinn der Sachen anvisiert.
Das bloße Dafürhalten und das eigensüchtige Pochen auf die persönliche Meinung sollen
durch Kultivierung überwunden werden (HUFNAGEL\53\4).
Ihr zutiefst verbunden ist die pädagogische Handlungsform der
Zivilisierung. Auch sie strebt ein neues Bewusstsein des Edukanden an, auch sie will
Lernhilfe bei der Humanität verwirklichenden Einsicht in ich-unabhängige Seinsbestände
sein (HUFNAGEL\53\4).
-
Freiheit und Sittlichkeit sind die
letztrangigen Ziele der KANTschen Pädagogik.
-
Moralisierung ist die
jenen unbedingten Zielen menschlicher Selbstgestaltung
zugeordnete pädagogische Handlungsform (HUFNAGEL \54\3).
Vertiefungen und
weiterführende Interpretationen zu diesen zentralen Kategorien finden Sie
bei Peter KAUDER (1999, S. 143 - 171) in der sechsten Studie "Disziplinierung,
Kultivierung und Zivilisierung im Hinblick auf eine Erziehung zur
Moralität".
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5.0 Die
zentrale Schwierigkeit bei der Erziehung
5.1 Die
Entfaltung des Problems
Für KANT besteht das größte Problem
der Erziehung in der Frage,
wie man die Unterwerfung unter den
gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit,
sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen
könne.
Denn Zwang ist nötig!
Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem
Zwange?" (KANT 1983, S. 711\2; A 32)
Hier ist eine Anmerkung notwendig. Das Wort
»Zwang« flößt in
unserem Verständnis Assoziationen zu Überwältigung oder gar Gewalt aus. KANT bezeichnet
damit lediglich den Umstand, dass ein fremder Wille auf das Kind einwirkt.
Dennoch beschreibt KANT einen Grundwiderspruch, der in eine
außerordentliche Antinomie mündet und eine Antwort auf die Frage, wie
denn Erziehung überhaupt möglich sei, unmöglich macht (Alfred K. TREML
2005, S. 288).
Die Auflösung dieser geheimnisvollen
Verschränkung von Freiheit und Notwendigkeit" (VOGEL\51) sieht KANT darin, das
Kind frei sein zu lassen - außer da, wo es sich schadet. Man müsse ihm zeigen, dass es
seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, dass es andere ihre
Zwecke auch erreichen lasse" (KANT 1983, S. 711\3; A 33). Das Kind müsse erleben, dass der auferlegte
Zwang zum besseren Gebrauch der eigenen Freiheit führe.
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5.2 Versuche
einer Auflösung
Alfred K. TREML
(a.a.O., S. 275, S. 287 ff.) setzt diese Problematik im Anschluss an Arnolf
NIETHAMMER (1980, S. 79 ff.) zu KANTs "Zwei-Welten-Theorie"
in Beziehung. Danach ist der Mensch als »empirisches Subjekt« - als
körperliche Erscheinung - der strengen Kausalität unterworfen und den
Naturgesetzen untertan. Zugleich ist er als »intelligentes Subjekt« -
als Geist - durch absolute Freiheit bestimmt und dem Sittengesetz untertan. Weil der Mensch
nur als
Einheit gedacht werden kann, folgt daraus eine kaum aufzulösende
Antinomie. TREML sieht jedoch eine mögliche Lösung in der Analogie zu
KANTs Antinomienkapitel in seiner Kritik der reinen Vernunft (gemeint ist
offenbar die Auflösung der sog. dritten Antinomie). Dort beziehen sich
Freiheit und Kausalität auf verschiedene Bereiche und widersprechen sich
deshalb logisch nicht.
Dennoch können wir einer
schmerzlichen Einsicht nicht ausweichen (TREML a.a.O., S. 289):
Erziehung
lässt sich nicht kausal bewirken,
weil der Edukand mit Freiheit ausgestattet ist
und deshalb über ihn nicht kausal verfügt werden kann.
Zuvor hat Peter VOGEL
(1990) diese Problematik in einer eindringenden Abhandlung
untersucht. Die Freiheitsantinomie ergebe sich
daraus, dass die Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft getrennt sind. Er
sieht die Auflösung des Widerspruchs vor dem Hintergrund der KANTschen Erkenntnistheorie.
Danach ist Kausalität als der
Gegenspieler von Freiheit
keine im Bereich der Natur waltende Macht,
sondern eine Verstandeskategorie.
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5.3
Methodologische Folgerungen
Im Anschluss an die von ihm
vorgeschlagene Lösung der Freiheitsantinomie trägt VOGEL einige Folgerungen für
pädagogisches Handeln vor. Sie wird hier in Form von Thesen referiert.
-
Erste These
Für die kausale Erklärung menschlichen Handelns ist die Unterstellung von Freiheit
(Intentionalität und Spontaneität) konstitutiv.
-
Zweite These
Die kausale Erklärung menschlichen Handelns geschieht durch die verstehende
Rekonstruktion der Motive des Handelnden.
-
Dritte These
Die verstehende Rekonstruktion der Motive des Handelns ermöglicht das Aufstellen von
empirischen Gesetzen.
-
Vierte These
Die kausale Erklärung von menschlichem Handeln durch Rekonstruktion der Motive geschieht
in Analogie zur Selbsterfahrung.
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5.3
Zusammenfassung
Das Antinomieproblem lässt sich
- folgt man VOGEL - auflösen. Empirischer Forschung muss nicht zwingend ein deterministisches Subjektmodell
zugrunde liegen. Wenn man Kausalität nicht als Prinzip der Determination im
Objektbereich, sondern als Verstandeskategorie versteht, lässt sich die empirische
Erklärung von menschlichem Handeln mit der Annahme moralischer Freiheit
vereinbaren (Vogel\133).
KANTs Option für die Verbindung von moralischer Freiheit des
Subjekts und rationaler Welterkenntnis in den kritisch bestimmbaren Grenzen unserer
Vernunftmöglichkeiten kann durch eine verstehende Methodologie eingelöst werden.
Eine tiefschürfende Erörterung der Gesamtproblematik, die sich
in zentralen Gedanken auf KANT stützt, ist von Otto SPECK
(1991) vorgelegt worden. Er arbeitet die zentrale Bedeutung der Autonomie heraus -
die Selbstgesetzgebung".
Der moralische Akt besteht darin, dass
der Mensch als
vernünftiges Wesen dazu berufen ist,
keinem Gesetz zu gehorchen als dem, das er zugleich sich selbst gibt.
Ein solches Gesetz muss jedoch so
beschaffen sein, dass es zugleich als allgemeines Gesetz zu gelten hat.
Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite Der kategorische Imperativ".
KANTs Begründungen der Autonomie aus
pädagogischer Sicht lassen sich wie folgt zusammenfassen (SPECK S. 83 f.)
-
Autonomiebildung ist
Persönlichkeitsbildung.
-
Entwicklungsmäßig geht Autonomie aus
Heteronome (Fremdbestimmung) hervor,
ist aber als Anspruch von Anfang an vorhanden.
-
Das Erlernen von Autonomie als des
rechten Gebrauches der Freiheit
schließt das Befolgen von Regeln (Disziplin) nicht aus.
-
Erziehung zur Autonomie setzt autonome und
verantwortungsbewusste Erzieher voraus.
-
Die Vernachlässigung der Autonomie führt
in die Verwahrlosung.
-
Erziehung zur Autonomie macht es
erforderlich,
o auf Zwang und Strafen möglichst zu verzichten,
o die Empfänglichkeit des Gemütes anzusprechen,
o natürlichen Widerstand erfahren zu lassen,
o Freiheit und Würde des anderen zu respektieren,
o eigene Urteilskraft und eigene sittliche Maximen
als Gewissensbildung zu kultivieren,
o Gewissensentscheidungen zu respektieren.
Das Postulat der
sittlichen Autonomie führt zur Bindung
an einen transzendierenden Endzweck des Ganzen,
mithin der Schöpfung.
5.4 Der
Mensch - krummes Holz"
KANT hat den Menschen
keineswegs so idealistisch gesehen, wie es die vorstehenden Überlegungen vielleicht nahe
legen. Im Gegenteil - wie die folgende skeptische Aussage (KANT 1983, S. 41;
A 398) belegt:
Aus so
krummem Holze,
als woraus der Mensch gemacht ist,
kann nichts ganz Gerades gezimmert werden."
KANT hat die Aufgabe der
Erziehung mit nüchterner Strenge beschrieben. Vor diesem Hintergrund gesehen, gewinnt sie
einen desto deutlicheren Aufforderungscharakter.
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6.0
Textgrundlage und Literaturnachweis
Grundlage für die vorstehenden
Ausführungen ist folgender Text:
-
Immanuel KANT
Werke in sechs Bänden,
herausgegeben von Wilhelm WEISCHEDEL
Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik
Darmstadt 1983
Über Pädagogik, S. 693 - 761
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 31 - 50
Diese Ausgabe ist auch als
Taschenbuchausgabe zugänglich: Immanuel KANT, Werkausgabe Band XII, Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft 193. Frankfurt am Main 1968.
Zitiert wird nach der Darmstädter
Originalausgabe. Zusätzlich werden die Fundstellen der Akademieausgabe
angegeben.
Im Internet können Sie den
Text unter folgender Adresse finden:
Für eine vertiefende Beschäftigung mit
KANTs pädagogischer Theorie sind besonders wichtig die Arbeiten von
Die Studien behandeln
folgende Themen:
I. Zur Einführung
II. Die Interpretationsproblematik von Genese und
Authentizität von Immanuel Kant
"Über Pädagogik"
III. Kants Vorlesung "Über Pädagogik": Ihr Aufbau und ihre
grundlegende Struktur
IV. Kants Begründung der Notwendigkeit der Pädagogik -
Die anthropologische Fragestellung und ihr
Horizont
V. "Wie kultiviere ich die die Freiheit bei dem
Zwange?"
VI. Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung im Hinblick
auf eine Erziehung zur Moralität
VII. Die Religion in Kants Begründung der Pädagogik
KAUDER hat in minutiöser Arbeit eine Textgrundlage gewonnen, die
nunmehr eine gültige philosophische Interpretation möglich macht. In
sechs thematisch selbständigen Studien werden die Gehalte und Probleme
der KANTschen Pädagogik tiefschürfend aufgearbeitet. Jede Studie wird
durch ein aktuelles Literaturverzeichnis ergänzt.
Die
siebente Studie
stammt von Wolfgang FISCHER. Hier werden KANTs Reflexionen zum Problem des Bösen
systematisch gedeutet - eine Thematik, die nach den Ereignissen auf dem Balkan und in New
York gerade für Erzieher besonders aktuell ist.
Seit Kurzem
liegt die grundlegende Arbeit eines der führenden Kant-Kenner vor:
Außerdem wird auf folgende Arbeiten verwiesen:
-
Otto
Friedrich BOLLNOW
Kant und die Pädagogik
Westermanns Pädagogische Beiträge 1 (1954), S. 49 - 55
-
Reinhard
BRANDT
Die Bestimmung des Menschen bei Kant
Hamburg 2007
-
Horst
EMDEN
Der Zusammenhang von Philosophie und Pädagogik bei Kant
Pädagogische Rundschau 28 (1974), S. 667 - 691
-
Gerhard FUNKE
Pädagogik im Sinne Kants heute
in:
Jürgen-Eckardt PLEINES (Hrsg.)
Würzburg 1985, S. 99 - 110
-
Erwin HUFNAGEL
Kants pädagogische Theorie
Kantstudien 79 (1988), 43 - 56
-
Lutz
KOCH
Kant und das Problem der Erziehung
Vierteljahresschrift für Pädagogik 59 (1983), S. 32 - 43
-
ders.
Kants ethische Didaktik
Würzburg 2003
-
Berthold
KOPERSKI
Die
Vorlesungen Kants über Pädagogik
Wie ordnet Kant seinen pädagogischen Ansatz zwischen der
Aufklärungspädagogik und seiner Transzendentalphilosophie ein?
Magisterarbeit an der Fernuniversität Hagen, 1998
http://ifbm.fernuni-hagen.de/studienangebot/schulpadagogik/abschlussarbeiten/
-
Gisela
MILLER-KIPP
"Wie kultiviere ich die die Freiheit bei dem Zwange?"
Pädagogische Antworten auf eine unsterbliche Frage
in:
Rainer DIETERICH - Carsten PFEIFFER (Hrsg.)
Freiheit und Kontingenz
Festschrift für Christian Walter
Heidelberg 1992, S. 267 - 283
-
Arnolf
NIETHAMMER
Kants Vorlesung über Pädagogik
Freiheit und Notwendigkeit in Erziehung und Entwicklung
Frankfurt am Main/Bern 1980
-
Jürgen-Eckardt PLEINES (Hrsg.)
Kant und die Pädagogik
Pädagogik und praktische Philosophie
Würzburg 1985
-
Jörg
RUHLOFF
"Wie kultiviere ich die die Freiheit bei dem Zwange?"
Vierteljahresschrift für Pädagogik 51 (1975), S. 2 -18
-
ders.
Auch Moralisierung?
Kants Gliederung der Erziehungsaufgabe
in:
Lutz KOCH - Christian Schönherr (Hrsg.)
Kant - Pädagogik und Politik
Würzburg 2005
-
Johannes
SCHWARTE
Mangelnde Sprachkenntnisse sind es nicht allein
Zur Bildungsdebatte nach den Gewaltausschreitungen
in deutschen Schulen
Katholische Bildung
107 (2006) H. 6, S. 253 - 269
-
Otto SPECK
Chaos und Autonomie in der Erziehung
Erziehungsschwierigkeiten unter moralischem Aspekt
München/Basel 1991
-
Walter J. STRAUSS
Allgemeine Pädagogik als transzendentale Logik
der Erziehungswissenschaft
Frankfurt am Main/Bern 1982
-
Alfred K. TREML
Vorwärts zur Kultur? Immanuel Kant
in:
Pädagogische Ideengeschichte
Ein Überblick
Stuttgart 2005, S. 269 - 290, insbes. S. 284 ff.
-
Peter VOGEL
Kausalität und Freiheit in der Pädagogik
Studien im Anschluß an die Freiheitsantinomie bei Kant
Frankfurt am Mai 1990
-
ders.
Zur Wirkungsgeschichte Kants in der Pädagogik
Hagen 1993
-
Traugott
WEISSKOPF
Immanuel Kant und die Pädagogik
Basler Beiträge zur Philosophie und ihrer Geschichte Bd. 8
Zürich 1970
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 22.05.15
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