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Tugenden oder Werte?

III. Gerechtigkeit - die erste Kardinaltugend

Das Gespann
PLATONs Gleichnis von der Seele

Übersicht
1.0 Einführung
2.0 Der Text des Gleichnisses
3.0 Das Gleichnis in PLATONs Denken
4.0 »Gerechtigkeit« heute
5.0 Literaturnachweis
      5.1 Literatur zu PLATON und dem Problem der Gerechtigkeit
      5.2  Literatur zur Gehirnforschung

1.0 Einführung

Der griechische Philosoph PLATON hat als erster Gelehrter des europäischen Kulturkreises eine Psychologie entworfen. Seine Gedanken über die Struktur der menschlichen Seele kleidet er in die Form eines grandiosen Bildes: Die Seele gleiche einem Wagen mit dessen Lenker und zwei - sehr verschieden gearteten - Pferden.
     Die Vorstellung von den drei Seelenteilen wirkt wie ein Vorgriff auf Sigmund FREUDs Theorie von Es, Ich und Über-Ich sowie auf die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung. Arthur KOESTLER hat sie 1968 ("Die drei Gehirne", 1968, S. 302 ff.), erneut 1978 (S. 18 ff.) einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und aus der Stammesgeschichte des menschlichen Gehirns bestürzende Folgerungen abgeleitet. Eine Übersicht der entsprechenden Forschungsergebnisse findet sich bei Kurt und Kati SPILLMANN 1990 S. 256 ff..

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Arbeiten von Gerhard ROTH (1994/2001 a sowie  2001 b, hier vor allem S. 338 ff. und S. 427 - 449) . Hier wird deutlich, dass die Aussage des Gleichnisses der Wirklichkeit durchaus nicht entspricht, sondern sie optimistisch überhöht oder gar verkennt. Die Vernunft bzw. das Ich ist keineswegs der überlegene Bändiger des des Gespannes. Vielmehr wirken im limbischen System, dem „Organ" der Emotionen und Motivationen, zentrale Funktionen für das Fühlen, Denken und Handeln des Menschen, die traditionelle Vorstellungen von der Vorherrschaft des Geistes relativieren.
     Dazu ein Zitat (ROTH 2001 b, S. 431):

"Vernunft und Verstand sind eingebettet
in die affektive und emotionale Natur des Menschen."

Vertiefungen hierzu finden Sie auf der Webseite "Ich und Persönlichkeit - Ihre Entwicklung in der Sicht der Neurowissenschaften" sowie "Das Gedächtnis -  II. Lernen und Vergessen" unter Nr. 4.0 
    
Wenn Sie sich über den aktuellen Forschungsstand informieren wollen, finden Sie auf der Webseite „Die Dekade des menschlichen Gehirns in Deutschland", zu deren Initiatoren auch Gerd ROTH gehört, vielfältige weiterführende Informationen.
                       Die Adresse lautet: http://www.menschliches-gehirn.de

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2.0 Der Text des Gleichnisses

Der Text des Gleichnisses findet sich in dem Dialog Phaidros, 246 a - b; 253 d - 254 d; er lautet in der Übersetzung Friedrich SCHLEIERMACHERs:

„Von der Seele Wesen aber müssen wir dieses sagen, dass, wie es an sich beschaffen sei, überhaupt auf alle Weise eine göttliche und weitschichtige Untersuchung erfordert, womit es sich aber vergleichen lässt, dies eine menschliche und leichtere. Auf diese Art also müssen wir davon reden.
     Es gleiche daher der zusammengewachsenen Kraft eines [...] Gespannes und seines Führers. Der Götter Rosse und Führer nun sind alle selbst gut und guter Abkunft, die andern aber vermischt. Und zunächst nun zügelt bei uns der Führer das Gespann, ferner ist von den Rossen das eine gut und edel und solchen Ursprungs, das andere aber entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit. Schwierig und mühsam ist daher notwendig bei uns die Lenkung." [...]

„Wie ich im Anfang dieser Erzählung dreifach jede Seele zerteilt habe, in zwei rossgestaltige Teile und drittens in den dem Führer ähnlichen, so bleibe es uns auch jetzt noch angenommen.
     Von den beiden Rossen, sagten wir weiter, sei eines gut, eines aber nicht. Welches aber die Vortrefflichkeit des guten und des schlechten Schlechtigkeit ist, haben wir nicht erklärt, jetzt aber müssen wir es sagen. Das nun von beiden, welches die bessere Stelle einnimmt, ist von geradem Wuchse, leicht gegliedert, hochhalsig, mit gebogener Nase, weiß von Haar, schwarzäugig, ehrliebend mit Besonnenheit und Scham, und als wahrhafter Meinung Freund wird es ohne Schläge nur durch Befehl und Worte gelenkt; das andere aber ist senkrückig, plump, schlecht gebaut, hartnäckig, kurzhalsig, mit aufgeworfener Nase, schwarz von Haut, glasäugig und rot unterlaufen, aller Wildheit und Starrsinnigkeit Freund, rauh um die Ohren, taub, der Peitsche und dem Stachel kaum gehorchend.
     Wenn nun der Führer beim Anblick der liebreizenden Gestalt, die ganze Seele durch die Wahrnehmung erwärmend, bald überall den Stachel des Kitzels und Verlangens spürt: so hält das dem Führer leicht gehorchende Ross der Scham wie immer so auch dann nachgebend, sich selbst zurück, den Geliebten nicht anzuspringen; das andere aber scheut nun nicht länger Stachel noch Peitsche des Führers, sondern springend strebt es mit Gewalt vorwärts, und auf alle Weise dem Spanngenossen und dem Führer zusetzend nötigt es sie, hinzugehen zu dem Liebling und der Gaben der Lust gegen ihn zu gedenken.
     Jene beiden widerstreben zwar anfangs unwillig als einer argen und ruchlosen Nötigung ausgesetzt, zuletzt aber, wenn des Ungemachs kein Ende ist, machen sie sich dann, von jenem fortgerissen, auf, nachgebend und versprechend, das Gebotene zu tun, und so kommen sie hin und schauen des Lieblings glänzende Gestalt.
     Indem nun der Führer sie erblickt, wird seine Erinnerung hingetragen zum Wesen der Schönheit, und wiederum sieht er sie mit der Besonnenheit auf heiligem Boden stehen. Dieses erblickend fürchtet er sich, und von Ehrfurcht durchdrungen beugt er sich zurück und kann sogleich nicht anders, als so gewaltig die Zügel rückwärts ziehen, dass beide Rosse sich auf die Hüften setzen, das eine gutwillig, weil es nie widerstrebt, das wilde aber höchst ungern.
     Indem sie nun weiter zurückgehen, benetzt das eine vor Scham und Bewunderung die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber, ist nur erst der Schmerz vom Gebiss und dem Falle vorüber, hat sich kaum erholt, so bricht es zornig in Schmähungen aus, vielfach den Führer und den Spanngenossen beschimpfend, dass sie aus Feigheit und Unmännlichkeit Pflicht und Versprechen verlassen hätten; und aufs neue sie wider ihren Willen vorwärts zu gehen zwingend, gibt es kaum nach, wenn sie bitten, es bis weiterhin aufzuschieben.
     Kommt nun die festgesetzte Zeit, so erinnert es jene, die dessen nicht zu gedenken sich anstellen, braucht Gewalt, wiehert, zieht sie mit sich fort und zwingt sie wieder, in derselben Absicht dem Geliebten zu nahen. Und wenn sie nicht mehr fern sind, beugt es sich vornüber, streckt den Schweif in die Höhe, beißt in den Zügel und zieht sie schamlos weiter. Dem Führer aber begegnet nur noch mehr dasselbe wie zuvor, er wird wie vom Startseil zurückgeschnellt, zieht noch gewaltsamer dem wilden Rosse das Gebiss aus den Zähnen, so dass ihm die schmähsüchtige Zunge und die Backen bluten, und Schenkel und Hüften am Boden festhaltend, lässt er es büßen.
     Hat nun das böse Ross mehrmals dasselbe erlitten und die Wildheit abgelegt, so folgt es gedemütigt des Führers Überlegung und ist beim Anblick des Schönen von Furcht übermannt. Daher es dann endlich dahin kommt, dass des Liebhabers Seele dem Liebling verschämt und schüchtern nachgeht."

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3.0 Das Gleichnis in PLATONs Denken

Die Lehre von den drei Seelenteilen nimmt in PLATONs Denken einen zentralen Platz ein. In den frühen Dialogen, vor allem im Phaidon, hatte er die Seele im Anschluss an Vorstellungen, wie sie aus HOMER bekannt sind, noch ganz selbstverständlich als Einheit verstanden. Die Vorstellung von einer Dreiteiligkeit der Seele entwickelte er jedoch, als er begonnen hatte, die einzelnen Tugenden zu untersuchen, und sich nun insbesondere auch mit dem Wesen der Gerechtigkeit auseinandersetzte.
     Die Ergebnisse dieser Arbeit liegen in seinem epochalen Werk Der Staat vor. Den Staat und die menschliche Seele sieht PLATON in strikter Analogie strukturiert. Den drei Ständen im Staat entsprechen in der Seele drei Prinzipien und deren (hier in moderner Sprache benannten) Tugenden:

Staat Seele Tugend
Regenten Vernunft Weisheit
Wächter Affekt Leistungswille
Produzenten Begehrlichkeit Aktivität

Gerechtigkeit - sowohl im Gemeinwesen als auch im Individuum - erweist sich für PLATON als die grundlegende Tugend schlechthin, also als Kardinaltugend. Sie manifestiert sich darin, dass jeder Stand und entsprechend jeder Seelenteil die ihm zukommende Aufgabe erfülle.

Die Kardinaltugend Gerechtigkeit wird damit zugleich
zur Klammer zwischen
o Individuum und Gesellschaft,
o Gesellschaft und Individuum.

Die Komplexität und Problematik dieser Auffassung kann hier nicht dargestellt werden. Einen instruktiven Überblick zu PLATONs Konzeption, deren zeitlos gültigen Elementen wie auch deren hochproblematischen Aspekten sowie ein vorzügliches Literaturverzeichnis finden Sie bei Timo HOYER (2005). Hinzuweisen ist auch auf das positiv-faire Kapitel »Platons Staat der Erziehung« bei Winfried BÖHM (2004, S. 21 - 25).

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4.0 »Gerechtigkeit« heute

Die gegenwärtige Situation und Diskussion zeigen, dass für die Menschen kaum ein Wert so große Bedeutung hat und zugleich so leidenschaftlich kontrovers erlebt wird wie die Gerechtigkeit. Deshalb werden aus der weitverzweigten Literatur einige repräsentative Titel vorgestellt. 
     Hier muss es genügen, auf die Enzyklika "Deus caritas est" ("Gott ist die Liebe") zu verweisen, die Papst BENEDIKT XVI. jüngst veröffentlicht hat. Positionen des Marxismus aufgreifend, schreibt er (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 22 vom 27. Januar 2006, S. 8):

"Richtig ist, daß das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit sein muß und das es das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung bildet, unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten.
[...]
Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik. Die Politik ist mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen. Ihr Ursprung und Ziel ist eben die Gerechtigkeit, und die ist ethischer Natur. So steht der Staat praktisch unabweisbar immer vor der Frage: Wie ist Gerechtigkeit hier und jetzt zu verwirklichen? Aber die Frage setzt eine andere, grundsätzlichere voraus: Was ist Gerechtigkeit? Dies ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen der Interessen und der Macht, die die Vernunft blendet, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.

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5.0 Literaturnachweis

5.1 Literatur zu PLATON und dem Problem der Gerechtigkeit

  • PLATON
    Sämtliche Werke Band 4
    Nach der Übersetzung von Friedrich SCHLEIERMACHER
    herausgegeben von Walter F. OTTO, Ernesto GRASSI, Gert PLAMBÖCK
    Hamburg 1958

  • Winfried BÖHM
    Geschichte der Pädagogik
    Von Platon bis zur Gegenwart
    München 2004

  • Timo HOYER
    Bildungsziel Gerechtigkeit
    Platons ganzheitliche Pädagogik
    Forum Classicum 48 (2005) Nr. 3, S. 199 - 211

  • Werner JAEGER
    Paideia
    Die Formung des griechischen Menschen
    Berlin 1959, Bd. 2 S. 270 ff.

  • John RAWLS
    Eine Theorie der Gerechtigkeit
    Frankfurt am Main 1979, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

  • Bernd RÜTHERS
    Das Ungerechte an der Gerechtigkeit
    Defizite eines Begriffs
    Zürich 1993, 2. Auflage

  • Friedrich UEBERWEG
    Grundriß der Geschichte der Philosophie
    Erster Teil herausgegeben von
    Karl PRAECHTER
    Die Philosophie des Altertums
    Tübingen 1953, 13. Auflage, S. 272, S. 333 ff.

5.2  Literatur zur Gehirnforschung

  • John C. ECCLES
    Das Gehirn des Menschen
    München 1975

  • ders.
    Die Evolution des Gehirns -
    die Erschaffung des Selbst
    München 1989

  • Hans Günther GASSEN
    Das Gehirn
    Darmstadt 2008

  • Arthur KOESTLER
    Das Gespenst in der Maschine
    Wien, Zürich, München 1968

  • ders.
    Der Mensch - Irrläufer der Evolution
    Eine Anatomie der menschlichen Vernunft und Unvernunft
    Bern und München 1978

  • Heinrich MEIER - Detlev PLOOG (Hrsg,)
    Der Mensch und sein Gehirn
    Die Folgen der Evolution
    München 1997

  • Ernst PÖPPEL
    Lust und Schmerz
    Über den Ursprung der Welt im Gehirn
    Berlin 1993

  • Karl R. POPPER - John C. ECCLES
    Das Ich und sein Gehirn
    München 1982

  • Gerhard ROTH
    Das Gehirn und seine Wirklichkeit
    Frankfurt 1994, 6. Auflage 2001 (a)

  • ders.
    Fühlen, Denken, Handeln
    Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
    Frankfurt 2001 (b)

  • Heinrich SCHMIDINGER - Clemens SEDMAK (Hrsg.)
    Der Mensch - ein freies Wesen?
    Autonomie - Personalität - Verantwortung
    Darmstadt 2005

  • Kurt R. SPILLMANN - Kati SPILLMANN
    Feindbilder:
    Entstehung, Funktion und Möglichkeiten Ihres Abbaus
    Internationale Schulbuchforschung 12 (1990), S. 253 - 284

Die zusammenfassende Literaturgrundlage für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier:  Literaturgrundlage

Weitere Literatur zur Hirnforschung finden Sie auf folgenden Webseiten:


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 20.10.08
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