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Das
Gedächtnis Übersicht 1.0 Natürliche Voraussetzungen 1.1 „Gedächtnis wie ein Sieb." Diese Redensart ist wahrlich nicht als Kompliment gemeint. Dennoch legt sie eine Frage nahe: Was leistet ein Sieb?
Deshalb hat die Metapher des Siebes Peter Jennrich für seinen Bericht über aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung (Die Zeit Nr. 48 vom 25. November 1983) zu einer Überschrift angeregt, die eine zentrale Funktion des menschlichen Gehirns auf den Punkt bringt: „Das Gedächtnis muss ein Sieb sein." 1.2 Das Gehirn ist ein Filter Könnte das Gehirn des Menschen alle durch die Sinnesorgane einfließenden Daten speichern, müsste es einen Durchmesser von über einer Meile haben. Mit diesem drastischen Vergleich verdeutlicht Alfred K. Treml (1987, S. 46) dessen Aufgabe und Funktion – die Informationen zu gewinnen und zu verarbeiten, die für den Menschen lebensweltlich bedeutsam sind. Das Gehirn hat also nicht die Aufgabe, die Welt so zu sehen, wie sie ist – es ist vielmehr ein Überlebens-, kein Erkenntnisorgan (Hans LENK 2000, S. 503; ähnlich Bas Kast im Tagesspiegel, 2. Juli 2004. Ein vertiefendes Zitat von Paul F. Baltes finden Sie im Anhang). Dazu einige Daten (nach Paul HofstÄtter, 1972, S. 182 – 187).
Horst Völz (1991, S. 488) gibt aufgrund anderer Ansätze folgende Werte für die Informationskapazität der einzelnen Sinnesorgane an (jeweils in bit/sec):
Auch Karl R. Gegenfurtner (2003, S, 5 f.) errechnet Datenmengen von einer so beträchtlichen Größenordnung, dass deren Reduzierung zwingend erforderlich ist. Die Sinnessysteme des Menschen sind dazu optimiert, die in der Umwelt vorhandenen relevanten Informationen aufzunehmen. Jedenfalls also kommen im Gehirn wesentlich mehr Informationen an, als es speichern kann. Deshalb ordnet es die ankommenden Impulse nach Wichtigkeit und „verrechnet“ sie mit den schon vorhandenen. Der Mensch ist also ein Gehirnwesen und kein Sinneswesen. Überlegen ist er anderen Lebewesen dadurch, dass die gehirninterne Verrechnungsfähigkeit im Laufe der Evolution ständig zugenommen hat (Treml 1987, S. 48). In pointierter, scheinbar paradoxer Formulierung gilt somit: Das Gehirn ist ein Organ zur Abwehr von Informationen. Alle Informationen, die im Gehirn ankommen, sind in der – binären – „bioloektrischen Einheitsschrift“ (Treml 1987, S. 47) geschrieben. Für das Gehirn existieren nur die ankommenden Signale der neuronalen Botschaften. Der eigentliche Sinneseindruck und das Bild, die Gestalt der erkannten Umwelt werden erst jetzt vom Gehirn selbst zusammengesetzt. Elektromagnetische Wellen werden zum Bild, zur Gestalt. Periodische Druckwellen der Luft werden Klänge und Musik. Bewegte Moleküle mit unterschiedlicher kinetischer Energie werden zu Wärme- und Kälteempfindungen. Hingegen wird eine Fülle von „Informationen“, die zwar physikalisch vorhanden, aber lebensweltlich irrelevant sind, nicht „wahrgenommen". 1.3 Folgerungen für das Lernen TREML hat diese Sachverhalte wieder aufgegriffen und beschreibt sie als evolutionäre Form von Lehren, Lernen und Erziehung (2000, S. 26 f.). Neue Informationen werden im Gegenwartsgedächtnis als einem ersten „Sieb“ selektiert. Was davon übrigbleibt, kommt in das Kurzzeitgedächtnis, ein weiteres Sieb, und wird dort abermals selektiert. Im Langzeitgedächtnis wird es in einen bestehenden Wissenszusammenhang eingegliedert und damit stabilisiert. Vertiefende Informationen zu diesem Ansatz finden Sie auf der Webseite „Evolutionäre Pädagogik und Didaktik". Im Anschluss an Völz (1982, S. 269; erneut 1991, S. 493) gibt Treml die folgenden Werte an (2000, S. 29):
1.4 Das Gehirn ist ein Hochleistungsorgan Auf der Grundlage physiologischer Fakten errechnet Manfred Spitzer (2002, S. 53 f.) die vom Gehirn aufgenommene Gesamtmenge von Informationen (Input) mit knapp 100 MegaByte pro Sekunde. Diese ungeheure Menge von Information muss zu Impulsen verarbeitet werden. Sie verlassen das Gehirn zum größten Teil und steuern unser Verhalten. Diesen Output gibt Spitzer mit 50 MegaByte pro Sekunde an. Insgesamt beruht die Handlungsfähigkeit des Menschen auf einer Doppelfunktion des Gehirns:
Arthur Schopenhauer (Parerga II) hat das mit folgender Sentenz auf den Punkt gebracht: "Zu
verlangen, daß einer alles, was er je gelesen, behalten haben sollte, 2.0 Begriffe und Definitionen Im Anschluss an Guy LefranÇois (1994, S. 163 ff.) läßt sich Folgendes zusammenfassen:
Zusammenfassung:
3.0 Die drei Komponenten des Gedächtnisses Wie auf der Webeseite „Das Gedächtnis – I. Aufgaben und Funktionen" dargestellt, lassen sich drei unterschiedliche Stufen des menschlichen Gedächtnisses unterscheiden. Sie hängen offenbar mit der oben beschriebenen Filterfunktion des Gehirns zusammen.
4.0 Physiologische Voraussetzungen 4.1 Das Prinzip „Unser
Gehirn So beschreibt Manfred Spitzer (2002, S. 3) Arbeit und Leistung des menschlichen Gehirns. Wie geschieht das? Spitzer beantwortet diese Frage – zusammenfassend und abstrahierend – wie folgt (a.a.O., S. 96): „Ein
Prinzip neuronaler Informationsverarbeitung besteht darin, In unserem Gehirn sind Repräsentationen der Welt und des Körpers vorhanden. Eine Repräsentation ist ein Neuron mit ganz bestimmten Synapsenstärken der eingehenden Verbindungen. Wird ein Neuron durch einen Input aktiviert, so repräsentiert es diesen Input (ders., a.a.O, S. 96 und 79). 4.2 Das limbische System Als »limbisches System« wird ein Konglomerat aus Hirnstrukturen bezeichnet, das vom Hirnstamm bis zur Großhirnrinde reicht und durch eine Vielzahl von Fasern miteinander verbunden ist. Alle diese Strukturen sind vor allem an der Auswahl, Verarbeitung und Bewertung der von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen beteiligt (Markowitsch 2002, S. 184, dazu S. 20 ff.). Zwei Strukturen des limbischen Systems sind für das Gedächtnis besonders wichtig, die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus („Seepferdchen“ – wegen seiner Gestalt so genannt). Beide Strukturen sind im Gehirn rechts und links vorhanden, also paarig angelegt.
In diesem Aufbau bildet sich die Tieren und Menschen gemeinsame Entwicklungsgeschichte des Gedächtnisses ab: Gedächtnis wird zuerst als affektbezogene Informationsverarbeitung erlebt. Bedeutsam für erzieherische Aspekte: Dieses Gedächtnissystem ist beim Menschen am höchsten entwickelt, aber auch am anfälligsten für Hirnschäden oder für traumatische Erlebnisse (ders., a.a.O. S. 25). Die Bedeutung der Emotionen für das - vor allem schulische - Lernen wird auf der Webseite "Emotion und Lernen" vertieft erörtert. 4.3 Prozesse der Gedächtnisbildung Das UZG basiert offenbar auf Gehirnströmen, die nach kürzester Zeit spurenlos zusammenbrechen, wenn die Information nicht abgerufen und gespeichert worden ist. KZG und LZG beruhen wahrscheinlich auf derselben materiellen Grundlage. Der Hippocampus hat beim Aufbau des expliziten LZG eine wichtige Funktion. Er entscheidet über die Bildung einer Gedächtnisspur (sog. Engramm). Am Aufbau des impliziten Gedächtnisses hingegen sind vor allem der Mandelkern, aber auch die Streifenkörper und das Kleinhirn beteiligt. Die physiologische Entsprechung eines Gedächtnisinhaltes – ihre Repräsentation – verteilt sich auf weit verzweigte neuronale Netze von höchster Komplexität. Jeder Gedächtnisinhalt entspricht einem einzigartigen räumlich-zeitlichen Aktivitätsmuster untereinander verbundener Neuronen. Episodische und Wissensinformationen werden in Netzen gespeichert, die in der Großhirnrinde liegen. Das prozedurale Gedächtnissystem hingegen ist an die Basalganglien gebunden (Markowitsch 2002, S. 103). Einer der Prozesse, die der Speicherung von Erinnerungsspuren zugrunde liegen, ist die sog. Langzeitpotenzierung. Veränderungen der beteiligten Zellen formen und stabilisieren die neuronalen Netze, die Gedächtnisinhalte bewahren. Dabei werden Synapsen so modifiziert, dass das entstehende Muster die neuen Gedächtnisinhalte codiert. Diese werden abgerufen, indem das alte Aktivitätsmuster wieder hergestellt wird. Zu diesem Zweck müssen die Nervenzellen neue Proteine herstellen (nach Serge Laroche 2003, S. 20 ff.). Jede Art von Lernen und Gedächtnis führt also zu einer dauerhaft veränderten Signalübertragung zwischen den Nervenzellen. Die molekularen Veränderungen sind erst nach Stunden oder Tagen abgeschlossen (ders., a.a.O., S. 24). Emotionale Zustände und Schlaf spielen dabei eine Rolle; auch hier ist wieder der Hippocampus beteiligt (Markowitsch 2002, S.117 u. 171, Spitzer 2002, S. 133). Während der Traumschlaf für das explizite Gedächtnis wichtig ist, fördert der Tiefschlaf eher die Leistungen des impliziten Gedächtnisses (Elisabeth Hennevin-Dubois 2003, S.64, 68). Diese Skizze muss mit einer skeptisch-ironischen Äußerung abgeschlossen werden, die der Nobelpreisträger James Watson jüngst im Gespräch mit Bas Kast und Hartmut Wewetzer formuliert hat (Tagesspiegel vom 13. Oktober 2004): „Ja,
die Synapsen werden dicker. Die Neurowissenschaftlerin Hannah MONYER formuliert das seriöser, aber nicht weniger deutlich (Gehirn und Geist Nr. 1-2/2005), S.37:
Dennoch kann hier zusammenfassend festgehalten werden (Spitzer a.a.O., S. 146; ähnlich Rainer Sinz, 1979, S. 16): Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke. 4.4 Festigung des Gedächtnisses Die Festigung des Gedächtnisses ist ein mehrstufiger Prozess. Die Dauer des Gedächtnisses hängt wesentlich von der Verarbeitungstiefe ab. Je mehr, je öfter, je tiefer Inhalte und Fähigkeiten verarbeitet werden, desto besser werden sie behalten. Je häufiger Verbindungen innerhalb der Netze und zwischen ihnen benutzt werden, desto fester können sie werden. Denn indem das Gehirn ständig Input verarbeitet, baut es sich um – neue neuronale Verbindungen werden geknüpft, so dass Eingangssignale besser verarbeitet werden können. Jeder Sportler, jeder Instrumentalist muss viel und ausdauernd üben, bis er wirklich gut ist (Spitzer a.a.O., S. 6, 65, 119; Markowitsch a.a.O., S. 86, 109). Plakativ fomuliert: Im Gehirn müssen "Trampelpfade" angelegt werden (Günter STOCKINGER, Spiegel spezial 9/1995, S. 116). Daraus
folgt: Wichtig ist für diese Vorgänge Aufmerksamkeit. Sind wir gegenüber einem Ausschnitt dessen aufmerksam, das unsere Sinne anspricht, so werden genau die neuronalen Strukturen angeregt, die diesen Ausschnitt zu verarbeiten haben (Spitzer a.a.O., S. 146). »Aufmerksamkeit« meint nicht nur kognitive Wachheit und Konzentration, sondern auch emotionale Beteiligung und Interesse („Dabei-sein"). Insgesamt lässt sich das LZG schulen oder, wie Jürgen HÜHOLDT es formuliert (1993, S. 191), "dynamisieren". Vertiefungen zu dieser Skizze finden Sie auf den Webseiten "Einstellungen zum Lernen - »Motivation«" sowie "Nutzanwendungen für den Unterricht". 4.5 »Spuren im Schnee« - eine sinnfällige Metapher für Lernen Manfred SPITZER hat die hochkomplexen Vorgänge des Lernvorganges mehrfach in einer ebenso sinnfälligen wie einleuchtenden Metapher zusammengefasst (zuletzt im "Tagesspiegel" vom 24. Juni 2007). Sie ist zugleich ein überzeugendes Beispiel für didaktische Reduktion.
5.0 Literaturgrundlage
6.0 Anhang Paul F. Baltes und Ulman Lindenberger schreiben (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 248 vom 23. Oktober 2004): "Gehirnplastizität, das im Gehirn vorhandene Entwicklungspotential, ist zunächst das Resultat evolutionärer Prozesse, denn das Gehirn ist ein Organ, in dem die historisch gewachsene Anpassung an die physischen und sozialen Umweltstrukturen der Vergangenheit angelegt ist. Es ist auf Informationsverarbeitung und die Entwicklung grundlegender Funktionssysteme des Wahrnehmens und Handelns, der Nahrungsaufnahme und sozialer Transaktionen ausgerichtet. Wenn die jetzt vorhandenen allgemeinen Umweltbedingungen denjenigen in der evolutionär wirksamen fernen Vergangenheit hinreichend ähnlich sind, werden diese Funktionsformen effizient und mit einem Minimum an zusätzlicher Umweltstützung ausgeformt. Deswegen wird die kulturelle Komponente im Entwicklungsgang zumal des jungen Gehirns leicht übersehen. Die "Reifung" des Gehirns erscheint biologisch determiniert, weil sie eine in der menschlichen Evolution entstandene, hochentwickelte Konvergenz von Genetik und Umwelt in sich trägt, die sich zumindest teilweise in der heutigen Ontogenese wiederholt." **** Was bedeutet das? Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt. Die Kontaktstelle, an der sich zwei Neuronen treffen, ist die Synapse. Wird ein Neuron aktiviert, steuert das Signal das Ende des Neurons an, „Präsynapse" genannt. Dort wird das Signal über Botenstoffe weitervermittelt, die in Bläschen gespeichert sind. Die Bläschen öffnen sich, die Botenstoffe streben zum benachbarten Neuron, der „Postsynapse". Lernvorgänge vergrößern die Synapsen; sie werden dabei mit zusätzlichen Botenstoffen bestückt. Das Molekül cAMP aktiviert „Creb", ein Gen im Zellkern, das wiederum zahlreiche Gene aktiviert. Dadurch bilden sich Eiweiße, die die Synapse „stärken": Sie wird größer und mit mehr Botenstoffen gefüllt, die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verbessert sich - wir haben gelernt. Diesen Vorgang ironisiert WATSON, wie oben zitiert. In diese Abläufe greifen Medikamente gegen das Vergessen ein. Der Nobelpreisträger Eric KANDEL hat den Wirkstoff MEM 1414 entwickelt. Er blockiert eine Substanz namens PDE, die das Molekül cAMP abbaut. Dessen oben beschriebene Funktion wird also aufrechterhalten und verstärkt. (Nach Bas Kast, Tagesspiegel vom 22. November 2004 – bearbeitet.) [
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von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 15.01.08
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