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Das Gedächtnis

II. Lernen und Vergessen

Übersicht
1.0 Natürliche Voraussetzungen
      1.1 „Gedächtnis wie ein Sieb.“
      1.2 Das Gehirn ist ein Filter
      1.3 Folgerungen für das Lernen
      1.4 Das Gehirn ist ein Hochleistungsorgan
2.0 Begriffe und Definitionen
3.0 Die drei Komponenten des Gedächtnisses
4.0 Physiologische Voraussetzungen
      4.1 Das Prinzip
      4.2 Das limbische System
      4.3 Prozesse der Gedächtnisbildung
      4.4 Festigung des Gedächtnisses
      4.5
»Spuren im Schnee« 
           
Eine sinnfällige Metapher für Lernen
5.0 Literaturgrundlage
6.0 Anhang
      Zitat BALTES-LINDENBERGER
      Lernen neurobiologisch gesehen

1.0 Natürliche Voraussetzungen

1.1 „Gedächtnis wie ein Sieb."

Diese Redensart ist wahrlich nicht als Kompliment gemeint. Dennoch legt sie eine Frage nahe:

   Was leistet ein Sieb?

  • Es läßt nicht nur Überflüssiges durchlaufen,

  • sondern hält Wichtiges fest, das man behalten möchte.

Deshalb hat die Metapher des Siebes Peter Jennrich für seinen Bericht über aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung (Die Zeit Nr. 48 vom 25. November 1983) zu einer Überschrift angeregt, die eine zentrale Funktion des menschlichen Gehirns auf den Punkt bringt:

„Das Gedächtnis muss ein Sieb sein."

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1.2 Das Gehirn ist ein Filter

Könnte das Gehirn des Menschen alle durch die Sinnesorgane einfließenden Daten speichern, müsste es einen Durchmesser von über einer Meile haben. Mit diesem drastischen Vergleich verdeutlicht Alfred K. Treml (1987, S. 46) dessen Aufgabe und Funktion – die Informationen zu gewinnen und zu verarbeiten, die für den Menschen lebensweltlich bedeutsam sind. Das Gehirn hat also nicht die Aufgabe, die Welt so zu sehen, wie sie ist – es ist vielmehr ein Überlebens-, kein Erkenntnisorgan (Hans LENK 2000, S. 503; ähnlich Bas Kast im Tagesspiegel, 2. Juli 2004. Ein vertiefendes Zitat von Paul F. Baltes finden Sie im Anhang).

Dazu einige Daten (nach Paul HofstÄtter, 1972, S. 182 – 187).

  • Die Aufnahmefähigkeit der menschlichen Sinnesorgane beträgt:
    o Augen 3 000 000 bit/sec
    o Gehör 20 000 – 50 000 bit/sec
    o Gefühl (hier: gesamte Körperoberfläche) 200 000 bit/sec
    o Geruchssinn 10 – 100 bit/sec
    o Geschmackssinn 10 bit/sec

  • Die Verarbeitungskapazität ist weitaus geringer. 
    Im optischen Kanal werden ca. 8 bit/sec verarbeitet.

  • Die Speicherkapazität des Gehirns beträgt höchstens 0,7 bit/sec.

Horst Völz (1991, S. 488) gibt aufgrund anderer Ansätze folgende Werte für die Informationskapazität der einzelnen Sinnesorgane an (jeweils in bit/sec):

  • Augen 107

  • Gehör 5 . 104

  • Gefühl 2 . 105

  • Geruchssinn 50

  • Geschmack 10

Auch Karl R. Gegenfurtner (2003, S, 5 f.) errechnet Datenmengen von einer so beträchtlichen Größenordnung, dass deren Reduzierung zwingend erforderlich ist. Die Sinnessysteme des Menschen sind dazu optimiert, die in der Umwelt vorhandenen relevanten Informationen aufzunehmen.

Jedenfalls also kommen im Gehirn wesentlich mehr Informationen an, als es speichern kann. Deshalb ordnet es die ankommenden Impulse nach Wichtigkeit und „verrechnet“ sie mit den schon vorhandenen. Der Mensch ist also ein Gehirnwesen und kein Sinneswesen. Überlegen ist er anderen Lebewesen dadurch, dass die gehirninterne Verrechnungsfähigkeit im Laufe der Evolution ständig zugenommen hat (Treml 1987, S. 48). In pointierter, scheinbar paradoxer Formulierung gilt somit:

Das Gehirn ist ein Organ zur Abwehr von Informationen.

Alle Informationen, die im Gehirn ankommen, sind in der – binären – „bioloektrischen Einheitsschrift“ (Treml 1987, S. 47) geschrieben. Für das Gehirn existieren nur die ankommenden Signale der neuronalen Botschaften. Der eigentliche Sinneseindruck und das Bild, die Gestalt der erkannten Umwelt werden erst jetzt vom Gehirn selbst zusammengesetzt. Elektromagnetische Wellen werden zum Bild, zur Gestalt. Periodische Druckwellen der Luft werden Klänge und Musik. Bewegte Moleküle mit unterschiedlicher kinetischer Energie werden zu Wärme- und Kälteempfindungen.

Hingegen wird eine Fülle von „Informationen“, die zwar physikalisch vorhanden, aber lebensweltlich irrelevant sind, nicht „wahrgenommen".

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1.3 Folgerungen für das Lernen

TREML hat diese Sachverhalte wieder aufgegriffen und beschreibt sie als evolutionäre Form von Lehren, Lernen und Erziehung (2000, S. 26 f.). Neue Informationen werden im Gegenwartsgedächtnis als einem ersten „Sieb“ selektiert. Was davon übrigbleibt, kommt in das Kurzzeitgedächtnis, ein weiteres Sieb, und wird dort abermals selektiert. Im Langzeitgedächtnis wird es in einen bestehenden Wissenszusammenhang eingegliedert und damit stabilisiert. Vertiefende Informationen zu diesem Ansatz finden Sie auf der Webseite „Evolutionäre Pädagogik und Didaktik".

Im Anschluss an Völz (1982, S. 269; erneut 1991, S. 493) gibt Treml die folgenden Werte an (2000, S. 29):

Informationsquelle 
(15 bit/sec)
Gegenwartsgedächtnis 
(0,5 bit/sec)
Kurzzeitgedächtnis 
(0,05 bit/sec)
Langzeitgedächtnis
Speicherkapazität bit/sec

150

1500

106 ... 108

Zuflussrate bit/sec

15

0,5

0,005

Verlust gegenüber Gegenwartsgedächtnis

1

30 : 1

300 : 1

Zeit für vollständige Füllung des Speichers

10 Sekunden

50 Minuten

ganzes Leben

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1.4 Das Gehirn ist ein Hochleistungsorgan

Auf der Grundlage physiologischer Fakten errechnet Manfred Spitzer (2002, S. 53 f.) die vom Gehirn aufgenommene Gesamtmenge von Informationen (Input) mit knapp 100 MegaByte pro Sekunde. Diese ungeheure Menge von Information muss zu Impulsen verarbeitet werden. Sie verlassen das Gehirn zum größten Teil und steuern unser Verhalten. Diesen Output gibt Spitzer mit 50 MegaByte pro Sekunde an.

Insgesamt beruht die Handlungsfähigkeit des Menschen auf einer Doppelfunktion des Gehirns:

  • Lernen und Erinnern
    Wichtige Informationen werden aufgenommen, gespeichert und stehen in entsprechender Situation zur Verfügung.

  • Vergessen
    Die jedes Handeln lähmende Überflutung des Bewußtseins durch eine Unzahl unstrukturierter Gedächtnisinhalte wird vermieden.

Arthur Schopenhauer (Parerga II) hat das mit folgender Sentenz auf den Punkt gebracht:

"Zu verlangen, daß einer alles, was er je gelesen, behalten haben sollte, 
ist wie verlangen, daß er alles, was er je gegessen hat, noch in sich trage. 
Er hat von diesem leiblich, von jenem geistig gelebt 
und ist geworden, was er ist."

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2.0 Begriffe und Definitionen

Im Anschluss an Guy LefranÇois (1994, S. 163 ff.) läßt sich Folgendes zusammenfassen:

  • Gedächtnis

Der Ausdruck Gedächtnis bedeutet die Erreichbarkeit von Information und setzt einen Lernprozess voraus. Erinnern impliziert, dass Information aus irgendeinem Speicher abgerufen werden muss. Offenbar gibt es zwei Arten bewusster Erinnerung, nämlich ein Speicherungsgedächtnis als eine Art Datenbank sowie ein Erkennungsgedächtnis, das Erinnerungen bei deren Abrufen aus der Datenbank prüft (John C. ECCLES 1982, S. 479).

Eine entscheiden Funktion haben dabei Auslöser, die Gedächtnisinhalte wieder bewusst werden lassen. Nicht eindeutig geklärt ist, inwieweit das Nicht-Erinnern auf ein Nicht-Lernen, also auf den Verlust der Gedächtnisspur nach vorherigem Lernen, zurückgeht, oder darauf, dass es nicht gelingt, die Information aus dem Speicher abzurufen.

Der Aufbau eines hochleistungsfähigen Wiederabrufsystems dürfte mit der Entwicklung der Sprache zusammenhängen, denn nur so ist bewusstes Sprechen möglich.

  • Erinnerung

Der Ausdruck Erinnerung wird oft als Synonym für Gedächtnis gebraucht. Das von einer Person im Moment Erinnerte darf jedoch nicht mit dem Inhalt seines Gedächtnisses gleichgesetzt werden. Der Anteil des Erlernten und im Gedächtnis Behaltenen kann weitaus größer sein als der Anteil des bewusst Erinnerten. Das wird dann sinnfällig, wenn uns ein als Auslöser wirkender Sachverhalt eine bestimmte Erinnerung wieder ins Bewusstsein ruft.

  • Vergessen

Vergessen wird als ein Informationsverlust definiert, nachdem eben diese Information gelernt, d.h. in das Langzeitgedächtnis überführt wurde. Vermutlich gibt es zwei Arten von Vergessen:

o Unfähigkeit, die Information abzurufen, weil es keinen geeigneten Hinweisreiz gibt;
o Veränderung der Gedächtnisspur – durch Zerfall, Verdrängung oder Überlagerung.

Vergessen betrifft also sowohl die Zeit- und Ereignisabhängigkeit der drei Gedächtniskomponenten (s. unten Nr. 3) als auch die Aufruf- und Ausleseprozesse.

Zusammenfassung:

  • Bislang ist jedoch nicht klar bewiesen, dass Vergessen überhaupt stattfindet. Möglicherweise wird nichts jemals vergessen, sondern lediglich nicht erinnert. 

  • Generell dürfte gelten: 
    Wichtige Informationen überlagern bzw. verdrängen ältere, nicht mehr relevante Inhalte. Vergessen ist also weniger der Zerfall und/oder das Verschwinden bisher aufgenommener Information. Vielmehr handelt es sich um deren Verschiebung, Herabstufung und Ummodellierung. Dazu tragen vor allem die Mechanismen der Interferenz bei (Markowitsch 2002, S. 172).

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3.0 Die drei Komponenten des Gedächtnisses

Wie auf der Webeseite „Das Gedächtnis – I. Aufgaben und Funktionen" dargestellt, lassen sich drei unterschiedliche Stufen des menschlichen Gedächtnisses unterscheiden. Sie hängen offenbar mit der oben beschriebenen Filterfunktion des Gehirns zusammen.

  • Ultra-Kurzzeit-Gedächtnis (UZG) (ikonisches oder echoisches Gedächtnis)

Das UZG funktioniert ähnlich wie ein 'negatives Nachbild', das wir nach einem Blick auf eine helle Flamme wahrnehmen. Dieses Nachbild erlischt, wenn es nicht binnen kürzester Zeit, die höchstens einige Sekunden dauert, bewusst gespeichert wird.

  • Kurzzeit-Gedächtnis (KZG) (primäres Gedächtnis)

Das KZG funktioniert offenbar gleichsam akustisch, ist also kein „sehendes“ Gedächtnis, wie das UZG, sondern ein gleichsam ein „sprechendes“. Dieses Sprechen kann auch lautlos, subvokal, geschehen. Die hier gespeicherten Informationen gehen nach kurzer Zeit wieder verloren, wenn sie nicht unter dem Einfluss von Faktoren, die in irgendeiner Form situativ von Bedeutung sind, in das Langzeitgedächtnis überführt werden.

Dabei handelt es sich i.d.R. um existentiell oder emotional wichtige Vorgänge, so dass sie unsere Aufmerksamkeit erregen. Wahrscheinlich ist die Speicherkapazität des KZG nicht groß und muss der Bearbeitung „wichtiger“ Informationen vorbehalten bleiben.

  • Langzeit-Gedächtnis (LZG) (sekundäres Gedächtnis)

Das LZG funktioniert wiederum in anderer Weise. Die „Bilder" des UZG und die „Worte“ des KZG werden hier in Form von Begriffen und Bedeutungen gespeichert, die lange Zeit abrufbar bleiben.

Die Inhalte des LZG sind keineswegs alle gleich dauerhaft, sondern unterliegen dem Vergessen. Nicht wenige Informationen werden hier nur nur kürzere Zeit gespeichert, so dass Hans-Joachim Markowitsch (2002, S. 86) zusätzlich den Begriff „intermediäres Gedächtnis“ einführt. Wir Lehrer werden mit diesem Phänomen konfrontiert, wenn Schüler behaupten, sie hätten einen bestimmten Lernstoff „nie gehabt“, obwohl er lt. Klassenbuch behandelt worden ist. Mehr dazu unten unter Nr. 4.3.

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4.0 Physiologische Voraussetzungen

4.1 Das Prinzip

„Unser Gehirn
macht aus flüchtigen Eindrücken
bleibende Verbindungen zwischen Nervenzellen.
Aus Erlebnissen werden Spuren im Gehirn.“

So beschreibt Manfred Spitzer (2002, S. 3) Arbeit und Leistung des menschlichen Gehirns.

Wie geschieht das? Spitzer beantwortet diese Frage – zusammenfassend und abstrahierend – wie folgt (a.a.O., S. 96):

„Ein Prinzip neuronaler Informationsverarbeitung besteht darin, 
dass Nervenzellen durch unterschiedliche Aspekte der Umgebung aktiviert werden."

In unserem Gehirn sind Repräsentationen der Welt und des Körpers vorhanden. Eine Repräsentation ist ein Neuron mit ganz bestimmten Synapsenstärken der eingehenden Verbindungen. Wird ein Neuron durch einen Input aktiviert, so repräsentiert es diesen Input (ders., a.a.O, S. 96 und 79).

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4.2 Das limbische System

Als »limbisches System« wird ein Konglomerat aus Hirnstrukturen bezeichnet, das vom Hirnstamm bis zur Großhirnrinde reicht und durch eine Vielzahl von Fasern miteinander verbunden ist. Alle diese Strukturen sind vor allem an der Auswahl, Verarbeitung und Bewertung der von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen beteiligt (Markowitsch 2002, S. 184, dazu S. 20 ff.).

Zwei Strukturen des limbischen Systems sind für das Gedächtnis besonders wichtig, die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus („Seepferdchen“ – wegen seiner Gestalt so genannt). Beide Strukturen sind im Gehirn rechts und links vorhanden, also paarig angelegt.

  • Amygdala
    Die Amygdala ist u.a. für die Verarbeitung von Emotionen entscheidend wichtig. Sie bewertet einkommende Informationen und trägt in hohem Maße dazu bei, ob sie gespeichert werden oder nicht (ders., a.a.O., S. 176, dazu S. 22).

  • Hippocampus
    Der Hippocampus ist in eine Vielzahl von Funktionen eingebunden. Als zentrale Struktur des limbischen Systems trägt er mit seinen Schaltkreisen entscheidend zur Übertragung von – vorwiegend – kognitiven Informationen ins LZG bei (ders., a.a.O., S. 181 f., dazu S. 22). Dennoch ist er nicht der alleinige Vermittler des Übertragungsprozesses (ders., a.a.O. S. 110 ff.).

In diesem Aufbau bildet sich die Tieren und Menschen gemeinsame Entwicklungsgeschichte des Gedächtnisses ab:

Gedächtnis wird zuerst als affektbezogene Informationsverarbeitung erlebt.

Bedeutsam für erzieherische Aspekte: Dieses Gedächtnissystem ist beim Menschen am höchsten entwickelt, aber auch am anfälligsten für Hirnschäden oder für traumatische Erlebnisse (ders., a.a.O. S. 25).

Die Bedeutung der Emotionen für das - vor allem schulische - Lernen wird auf der Webseite "Emotion und Lernen" vertieft erörtert.

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4.3 Prozesse der Gedächtnisbildung

Das UZG basiert offenbar auf Gehirnströmen, die nach kürzester Zeit spurenlos zusammenbrechen, wenn die Information nicht abgerufen und gespeichert worden ist.

KZG und LZG beruhen wahrscheinlich auf derselben materiellen Grundlage. Der Hippocampus hat beim Aufbau des expliziten LZG eine wichtige Funktion. Er entscheidet über die Bildung einer Gedächtnisspur (sog. Engramm). Am Aufbau des impliziten Gedächtnisses hingegen sind vor allem der Mandelkern, aber auch die Streifenkörper und das Kleinhirn beteiligt.

Die physiologische Entsprechung eines Gedächtnisinhaltes – ihre Repräsentation – verteilt sich auf weit verzweigte neuronale Netze von höchster Komplexität. Jeder Gedächtnisinhalt entspricht einem einzigartigen räumlich-zeitlichen Aktivitätsmuster untereinander verbundener Neuronen. Episodische und Wissensinformationen werden in Netzen gespeichert, die in der Großhirnrinde liegen. Das prozedurale Gedächtnissystem hingegen ist an die Basalganglien gebunden (Markowitsch 2002, S. 103).

Einer der Prozesse, die der Speicherung von Erinnerungsspuren zugrunde liegen, ist die sog. Langzeitpotenzierung. Veränderungen der beteiligten Zellen formen und stabilisieren die neuronalen Netze, die Gedächtnisinhalte bewahren. Dabei werden Synapsen so modifiziert, dass das entstehende Muster die neuen Gedächtnisinhalte codiert. Diese werden abgerufen, indem das alte Aktivitätsmuster wieder hergestellt wird. Zu diesem Zweck müssen die Nervenzellen neue Proteine herstellen (nach Serge Laroche 2003, S. 20 ff.).

Jede Art von Lernen und Gedächtnis führt also zu einer dauerhaft veränderten Signalübertragung zwischen den Nervenzellen. Die molekularen Veränderungen sind erst nach Stunden oder Tagen abgeschlossen (ders., a.a.O., S. 24). Emotionale Zustände und Schlaf spielen dabei eine Rolle; auch hier ist wieder der Hippocampus beteiligt (Markowitsch 2002, S.117 u. 171, Spitzer 2002, S. 133). Während der Traumschlaf für das explizite Gedächtnis wichtig ist, fördert der Tiefschlaf eher die Leistungen des impliziten Gedächtnisses (Elisabeth Hennevin-Dubois 2003, S.64, 68).

Diese Skizze muss mit einer skeptisch-ironischen Äußerung abgeschlossen werden, die der Nobelpreisträger James Watson jüngst im Gespräch mit Bas Kast und Hartmut Wewetzer formuliert hat (Tagesspiegel vom 13. Oktober 2004):

Ja, die Synapsen werden dicker.
Aber trotzdem,
wir verstehen die Sprache des Gehirns noch nicht.“

Die Neurowissenschaftlerin Hannah MONYER formuliert das seriöser, aber nicht weniger deutlich (Gehirn und Geist Nr. 1-2/2005), S.37:

"Wenn wir diese Mechanismen besser verstehen, können wir eines Tages vielleicht auch die Frage beantworten, wie Lernen beim Menschen genau funktioniert und welche Mittel dabei förderlich sind."

Dennoch kann hier zusammenfassend festgehalten werden (Spitzer a.a.O., S. 146; ähnlich Rainer Sinz, 1979, S. 16):

Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke.

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4.4 Festigung des Gedächtnisses

Die Festigung des Gedächtnisses ist ein mehrstufiger Prozess. Die Dauer des Gedächtnisses hängt wesentlich von der Verarbeitungstiefe ab. Je mehr, je öfter, je tiefer Inhalte und Fähigkeiten verarbeitet werden, desto besser werden sie behalten. Je häufiger Verbindungen innerhalb der Netze und zwischen ihnen benutzt werden, desto fester können sie werden. Denn indem das Gehirn ständig Input verarbeitet, baut es sich um – neue neuronale Verbindungen werden geknüpft, so dass Eingangssignale besser verarbeitet werden können. Jeder Sportler, jeder Instrumentalist muss viel und ausdauernd üben, bis er wirklich gut ist (Spitzer a.a.O., S. 6, 65, 119; Markowitsch a.a.O., S. 86, 109). Plakativ fomuliert: Im Gehirn müssen "Trampelpfade" angelegt werden (Günter STOCKINGER, Spiegel spezial 9/1995, S. 116).

Daraus folgt: 
Üben geht langsam und braucht Zeit.

Wichtig ist für diese Vorgänge Aufmerksamkeit. Sind wir gegenüber einem Ausschnitt dessen aufmerksam, das unsere Sinne anspricht, so werden genau die neuronalen Strukturen angeregt, die diesen Ausschnitt zu verarbeiten haben (Spitzer a.a.O., S. 146). »Aufmerksamkeit« meint nicht nur kognitive Wachheit und Konzentration, sondern auch emotionale Beteiligung und Interesse („Dabei-sein"). Insgesamt lässt sich das LZG schulen oder, wie Jürgen HÜHOLDT es formuliert (1993, S. 191), "dynamisieren".

Vertiefungen zu dieser Skizze finden Sie auf den Webseiten "Einstellungen zum Lernen - »Motivation«"  sowie "Nutzanwendungen für den Unterricht".

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4.5 »Spuren im Schnee« - eine sinnfällige Metapher für Lernen

Manfred SPITZER hat die hochkomplexen Vorgänge des Lernvorganges mehrfach in einer ebenso sinnfälligen wie einleuchtenden Metapher zusammengefasst (zuletzt im "Tagesspiegel" vom 24. Juni 2007). Sie ist zugleich ein überzeugendes Beispiel für didaktische Reduktion.

"Im Gehirn laufen ständig Impulse über die Synapsen der Nervenzellen; das passiert schon im Mutterleib., wenn das Ungeborene seine Umwelt ertastet oder Geräusche hört. Wenn solche Impulse immer wieder ähnlich ablaufen, entstehen quasi Spuren, zunächst in den einfachen Arealen, dann in den komplexeren, und je öfter diese Spuren benutzt werden, umsomehr verfestigen sie sich, wie bei einem Trampelpfad im Tiefschnee. Diese Spurenbildung nennen wir Lernen."

5.0 Literaturgrundlage

  • Die Literaturnachweise für diese Webseite
    sowie die weiteren Webseiten dieses thematischen Bereiches
    finden Sie hier.

  • Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis
    für die Themengruppe »Lernen – Voraussetzungen, Möglichkeiten, Probleme«
    finden Sie hier.

6.0 Anhang

Paul F. Baltes und Ulman Lindenberger schreiben (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 248 vom 23. Oktober 2004):

"Gehirnplastizität, das im Gehirn vorhandene Entwicklungspotential, ist zunächst das Resultat evolutionärer Prozesse, denn das Gehirn ist ein Organ, in dem die historisch gewachsene Anpassung an die physischen und sozialen Umweltstrukturen der Vergangenheit angelegt ist. Es ist auf Informationsverarbeitung und die Entwicklung grundlegender Funktionssysteme des Wahrnehmens und Handelns, der Nahrungsaufnahme und sozialer Transaktionen ausgerichtet. Wenn die jetzt vorhandenen allgemeinen Umweltbedingungen denjenigen in der evolutionär wirksamen fernen Vergangenheit hinreichend ähnlich sind, werden diese Funktionsformen effizient und mit einem Minimum an zusätzlicher Umweltstützung ausgeformt. Deswegen wird die kulturelle Komponente im Entwicklungsgang zumal des jungen Gehirns leicht übersehen. Die "Reifung" des Gehirns erscheint biologisch determiniert, weil sie eine in der menschlichen Evolution entstandene, hochentwickelte Konvergenz von Genetik und Umwelt in sich trägt, die sich zumindest teilweise in der heutigen Ontogenese wiederholt."

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Was bedeutet das?

Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt. Die Kontaktstelle, an der sich zwei Neuronen treffen, ist die Synapse. Wird ein Neuron aktiviert, steuert das Signal das Ende des Neurons an, „Präsynapse" genannt. Dort wird das Signal über Botenstoffe weitervermittelt, die in Bläschen gespeichert sind. Die Bläschen öffnen sich, die Botenstoffe streben zum benachbarten Neuron, der „Postsynapse". Lernvorgänge vergrößern die Synapsen; sie werden dabei mit zusätzlichen Botenstoffen bestückt. Das Molekül cAMP aktiviert „Creb", ein Gen im Zellkern, das wiederum zahlreiche Gene aktiviert. Dadurch bilden sich Eiweiße, die die Synapse „stärken": Sie wird größer und mit mehr Botenstoffen gefüllt, die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verbessert sich - wir haben gelernt. Diesen Vorgang ironisiert WATSON, wie oben zitiert.

In diese Abläufe greifen Medikamente gegen das Vergessen ein. Der Nobelpreisträger Eric KANDEL hat den Wirkstoff MEM 1414 entwickelt. Er blockiert eine Substanz namens PDE, die das Molekül cAMP abbaut. Dessen oben beschriebene Funktion wird also aufrechterhalten und verstärkt. (Nach Bas Kast, Tagesspiegel vom 22. November 2004 – bearbeitet.)

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 15.01.08
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