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Evolutionäre Pädagogik und Didaktik

Übersicht
1.0 Evolution
      1.1 Die Theorie
      1.2 Die Begriffe
      1.3 Anwendung auf Pädagogik
      1.4 Pädagogik - das Ergebnis von Evolution
2.0 Didaktik in evolutionärer Sicht
      2.1 Lehren und Lernen
      2.2 Grundaufgaben von Schule
      2.3 Grundverständnis von Unterricht
      2.4 Grundverständnis von Didaktik
      2.5 Zusammenfassung und Würdigung
3.0 Literaturnachweis
      3.1 Textgrundlage dieses Bausteins
      3.2 Weiterführende Literatur

1.0 Evolution

1.1 Die Theorie

Der Begriff »Evolution« ist fest mit dem Namen Charles DARWIN und seinem epochalen Werk "Die Entstehung der Arten" (1859) verbunden. Dennoch ist »Evolution« - Entwicklung - ein gedanklicher Ansatz, der über die Biologie hinaus allgemeine Bedeutung hat und sich als Erklärungsmuster auch für gesellschaftliche Prozesse eignet, wie insbesondere die Arbeiten von Niklas LUHMANN zeigen.
     So beschreibt Alfred K. TREML (1987/2000) in seiner "Einführung in die Allgemeine Pädagogik" Erziehung als einen Vorgang, der in Evolution eingebettet ist. Kürzlich hat er die Strukturen der Erziehung und des Unterrichts als Produkt der Evolution interpretiert (2002, S. 660). Sie sind damit das Ergebnis eines teleonomen Prozesses (zum Begriff vgl. die Webseite "Andere Sicht auf Didaktik"). Dieser Prozess ist also nicht als zielbezogen zu verstehen, sondern ergibt sich aus Funktionen und deren faktischer Eignung für jeweils aktuelle erzieherische Zwecke..

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1.2 Die Begriffe

Die Fachsprache der Evolutionstheorie verwendet Begriffe, die in der Umgangssprache aus verschiedenen Gründen - z.T. sogar extrem - negativ besetzt sind und damit den Zugang zur Evolutionstheorie erschweren. Um Missverständnisse auszuschließen, sei hier betont, dass »Selektion« und »Anpassung« rein beschreibende Kategorien sind und Vorgänge bezeichnen. Weder legitimieren sie missbräuchliche Funktionalisierungen, noch verlieren sie durch solche ihren Erkenntniswert. Deshalb vorab im Anschluß an TREML (a.a.O., S. 664 ff.) einige kurze Klärungen.

  • Kontingenz - Zufall
    Kontingenz, Zufälligkeit, steht im Gegensatz zur Notwendigkeit und bezeichnet die Möglichkeit eines Geschehens oder Nichtgeschehens. Ein Ereignis wird als »Zufall« bezeichnet, wenn es zwar selbst kausal bestimmt ist, aber mit einem anderen Ereignis nichtkausal zusammenfällt, »kontingent« ist.. Eine solche Situation hätte auch anders geschehen können, als es geschehen ist. Zufälle werden oft als Störung empfunden. In der Pädagogik sollten sie als Chancen verstanden und fruchtbar gemacht werden.
  • Selektion - Auswahl
    Möglichkeiten, Varianten, gibt es viele, doch nicht alle werden verwirklicht. Der Vorgang der Selektion, Auswahl, ist ein rein teleonomer Prozess, der ohne Absicht oder Bewusstein eines Subjekts stattfindet. Wichtig ist also, ob sich eine Variante dafür eignet, eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Ist das der Fall, bleiben sie erhalten - sie werden "stabilisiert".
  • Adaptation - Anpassung
    Adaptation, Anpassung, ist die Voraussetzung dafür, dass ein Sachverhalt bei wechselnden Umweltbedingungen erhalten bleibt. Deswegen ist sie das zentrale Auswahlkriterium. Ein System kann sich seiner Umwelt anpassen, aber auch die Umwelt an sich, das System, anpassen, sie gestalten. Die Umweltbedingungen des in der Zukunft liegenden Lebens, auf das Erziehung junge Menschen vorbereiten will, sind jedoch nicht vollständig vorherzusehen. Deswegen wird allgemein von »Anschlussfähigkeit« gesprochen - der Fähigkeit, auch sich ändernden Umweltbedingungen gewachsen zu sein.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der Literatur folgender Dreischritt üblich geworden ist:

  • Variation
  • Selektion
  • Stabilisierung

Evolution ist weder durch einen Anfang kausal noch durch ein Ende teleologisch zu erklären. Zeitlich tritt an die Stelle von

  • Absicht - Handlung - Wirkung
  • Variation - Selektion - Stabilisierung.

Sachlich werden nicht mehr

  • Ursache - Wirkung bzw. Zweck - Mittel,
  • sondern die Differenz zwischen
    System - Umwelt

beobachtet.

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1.3 Anwendung auf Pädagogik

Die Kategorien der allgemeinen Evolutionstheorie lassen sich auch auf die Pädagogik anwenden. Dabei werden auch auf Positionen der Systemtheorie und des Konstruktivismus einbezogen. Das führt insgesamt zu einem Angebot, das TREML (a.a.O., S. 667) mit den Worten beschreibt:

Evolutionäre Pädagogik verspricht nicht,
alles besser, aber vieles anders
beobachten und erklären zu können.

TREML (a.a.O., S. 657, vgl. dazu auch 1987, S. 24 f.) versteht Erziehung vor diesem Hintergrund als die funktionale Lösung eines evolutionären Grundproblems.

  • In der biologischen Evolution "lernen" die Gene.

  • Sobald Lebewesen über ein hochentwickeltes Nervensystem verfügen, kommt eine weitere Evolutionsebene hinzu, auf der ein "Lernen der Gehirne" möglich wird. Das verkürzt die Zeit für Anpassungsvorgänge und verbessert die Überlebenschancen.

  • Auf einer dritten Evolutionsebene tritt ein "Lernen der sozialen Systeme" hinzu. Zufälliges Lernen verläuft zeitaufwendig. Erziehung als systematisch organisiertes Lernen verkürzt den Zeitaufwand und vertieft das Lernergebnis. Das Individuum wird somit durch Erziehung mit den kulturellen Leistungen seiner Gesellschaft konfrontiert und zu einem für sein Leben nützlichen Lernprogramm angeregt.

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1.4 Pädagogik - das Ergebnis von Evolution

Auch die Strukturen von Unterricht und Erziehung können als Ergebnis von Evolution verstanden werden.

  • Im historischen Verlauf werden von vielen möglichen Varianten nur wenige ausgewählt.
  • In der Überlieferung werden von den verwirklichten Möglichkeiten wiederum nur wenige ausgewählt und weitergegeben.
  • Aus der Gesamtheit der Überlieferung wird wiederum nur ein Bruchteil aktuell aufgegriffen und zum Gegenstand der Kommunikation gemacht.

2.0 Didaktik in evolutionärer Sicht

2.1 Lehren und Lernen

Lehren und Lernen gehören in herkömmlicher Sicht zusammen und werden sogar als eine Einheit verstanden. Annette SCHEUNPFLUG (a.a.O., S. 83) sieht jedoch einen wichtigen Unterschied, der auf konstruktivistische Überlegungen zurückgeht.
     Danach ist Lernen ein autopoietischer Vorgang, der zwar angeregt, nicht aber nach dem Mechanismus von Ursache und Wirkung determiniert und kontrolliert werden kann (ebenda Anm. 52). TREML (2000, S. 132 f.) versteht Lehren als ein Angebot an »Variation«, Lernen als »Selektion«.

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2.2 Grundaufgaben von Schule

Die moderne Schule wurde zu einer Zeit "erfunden", als imitierendes und famulierendes Lernen in Familie und Beruf den Anforderungen der gesellschaftlichen Komplexität nicht mehr genügten. SCHEUNPFLUG (a.a.O., S. 62) sieht folgende Grundaufgaben:

  • Durch Vermittlung von abstrakten Grundfertigkeiten und von Lernfähigkeit wird die Fähigkeit angebahnt, unspezifische Situationen jetzt und in Zukunft zu bewältigen - »Anschlußfähigkeit«.
  • Auf der Basis von Ungleichheit führt Gleichbehandlung zu funktionaler Ausdifferenzierung.
  • Systematisch organisierter Unterricht ist sachlich und zeitlich ökonomischer, als auf jeweils konkrete Lernsituationen zu warten.

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2.3 Grundverständnis von Unterricht

Im Unterschied zum »wirklichen« Leben kann Unterricht als eine Form der systematischen Einübung in Evolution verstanden werden. Das Risiko des Scheiterns ist dabei herabgesetzt, weil die Evolution in Form eines Probehandelns simuliert wird. Dadurch werden Korrekturen, Wiederholungen, Neuanfänge möglich, die es sonst nicht gäbe (SCHEUNPFLUG a.a.O., S. 64 f.). Die dabei auftretenden Sachverhalte werden in der folgenden Tabelle (a.a.O., S. 71) zusammengefasst.

Umgang Selbstproduktion
Einübung in Variation Kennenlernen von Kontingenz Kreativität, Individualität, eigene Meinung
Einübung in Selektion Konzentration auf Themen, Umgang mit Beurteilung Stellung beziehen,
eigene Beurteilung
Einübung in Stabilisierung Lernen/Vergessen Lernfähigkeit

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2.4 Grundverständnis von Didaktik

Nicht nur der Unterricht, sondern auch die didaktische Theoriebildung kann mit den Kategorien der Evolutionstheorie betrachtet werden.

  • Didaktik stellt Orientierungswissen über den Umgang mit Unterricht zur Verfügung und verbessert damit die Fähigkeit, sich auf unspezifische Unterrichtssituationen einzustellen
  • Didaktik erweist sich als gedankliches Probehandeln von Unterricht und als dessen Simulation. Durch das Nachdenken über Unterricht wird der Umgang mit Unterricht selbst eingeübt.

Die Kategorien Variation, Selektion und Stabilisierung bewähren sich für die Beschreibung von Entwicklungen, die über ein Angebot von Möglichkeiten zu deren Auswahl durch Eignung bis hin zur Gewinnung von Handlungssicherheit reichen.

SCHEUNPFLUG (a.a.O., S. 86) fasst diese Überlegungen in der folgenden Tabelle zusammen:

  Didaktische Theorie als Beobachten von Unterricht Didaktische Theorie als Planung von Unterricht
Variation Vielfalt der Phänomene von Unterricht erkennen Unterschiedliche Unterrichtsmöglichkeiten denken
Selektion Begrenzungen von Unterricht erkennen Aus den Möglichkeiten auswählen
Stabilisierung Aufrechterhalten von Unterricht - Ökonomie des Denkens Möglichkeitenvielfalt und Realisierungsmöglichkeiten konsistent aufeinander beziehen

Für die Kommunikation über Didaktik sieht SCHEUNPFLUG (a.a.O., D. 87) durch diese beiden Kategorien strukturiert:

  • Raum,
  • Zeit.

Ferner ist zu unterscheiden zwischen

  • Beobachtung (Analyse, Verständnis) von Unterricht,
  • Planung von Unterricht.

Daraus ergibt sich die folgende Übersicht (a.a.O., D. 89)

Raum Zeit
Beobachtung
von Unterricht
System-Umwelt-Differenz im Rückblick Variation-Selektion
im Rückblick
Planung
von Unterricht
System-Umwelt-Differenz im Ausblick Variation-Selektion
im Ausblick

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2.5 Zusammenfassung und Würdigung

Der Wert einer evolutionären Interpretation von Pädagogik und Didaktik besteht grundsätzlich in der Tatsache, dass die überkommenen Theorien durch einen weiteren, sehr ernstzunehmenden Ansatz ergänzt werden. Zur teleologischen, zielbezogenen Betrachtung von Erziehung triit die teleonome Sichtweise hinzu (zu den Begriffen). Sie führt die pädagogischen Strukturen und Prozesse auf die Funkktion stabilisierender Selektionsvorteile (TREML 2000, S. 21) zurück

Was bedeutet das konkret? Dazu ein Zitat (SCHEUNPFLUG 2000, S. 135):

"Unterricht verbindet - so die evolutionäre Didaktik - die gesellschaftliche Evolution mit der individuellen. Über das Zusammenspiel von Variation, Selektion und Stabilisierung im Unterricht werden die Schülerinnen und Schüler unter herabgesetztem Risiko des Scheiterns auf das Leben vorbereitet. Denn dieses kann auch als durch die Mechanismen organisiert verstanden werden, die die Darwin beschrieben hat.
     Unterricht übt in diese Formen ein und bereitet darauf vor, diese selbst zu produzieren. "

Evolutionäre Pädagogik ist also ein Reflexionsangebot, das nicht nur eine neue Perspektive für das Verständnis von Unterricht eröffnet, sondern auch schmerzliche Paradoxien von Erziehung und Unterricht besser verstehen und - vielleicht - überwinden lässt.
     Ferner legt sie nahe, deren Aufgaben anders zu gewichten, als es bislang üblich war. Die Bedeutung vermittelter Inhalte nimmt infolge modernen Entwicklungen ab. Deshalb wird es wichtiger, mit evolutionären Mechanismen von Varianz, Kontingenz, Selektion umgehen zu lernen - mit einem Wort:

Anschlussfähig zu werden und zu bleiben.

3.0 Literaturnachweis

Hier werden nur die Titel aufgeführt, auf die sich dieser Text bezieht.
Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis sowie wichtige Grundlagenliteratur finden Sie auf der Webseite "Literaturgrundlage".

3.1 Textgrundlage dieses Bausteins

  • Annette SCHEUNPFLUG
    Evolutionäre Didaktik
    Unterricht aus system- und evolutionstheoretischer Perspektive
    Weinheim und Basel 2001
  • dies.
    Biologische Grundlagen des Lernens
    Berlin 2001
  • dies.
    Evolutionäre Pädagogik
    Einführung in den Thementeil
    Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002) Nr. 6, S. 649 - 651
  • Alfred K. TREML
    Einführung in die Allgemeine Pädagogik
    Stuttgart 1987
  • ders.
    Allgemeine Pädagogik
    Grundlagen, Handlungsfelder und Perspektiven der Erziehung
    Stuttgart 2000
  • ders.
    Evolutionäre Pädagogik
    Umrisse eines Paradigmenwechsels
    Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002) Nr. 5, S. 652 - 669

3.2 Weiterführende Literatur

  • Christel ADICK - Uwe KREBS
    Evolution, Erziehung, Schule
    Beiträge aus Anthropologie, Entwicklungspsychologie,
    Humanethologie und Pädagogik
    Erlangen 1992
  • Walter HERZOG
    Verhältnisse von Natur und Kultur
    Die Herausforderung der Pädagogik durch das evolutionsbiologische Denken
    Neue Sammlung 39 (1999) H., S. 97 - 129
  • Max LIEDTKE
    Evolution und Erziehung
    Ein Beitrag zur integrativen Anthropologie
    Göttingen 1972
  • Karl Ernst NIPKOW
    Möglichkeiten und Grenzen eines evolutionären Paradigmas
    Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002) Nr. 5, S. 670 - 689
  • Johanna UHER (Hrsg.)
    Pädagogische Anthropologie und Evolution
    Beiträge der Humanwissenschaften zur Analyse pädagogischer Probleme
    Erlangen 1995
  • Eckart VOLAND - Renate VOLAND
    Erziehung in einer biologisch determinierten Welt
    Herausforderung für die Theoriebildung einer evolutionären Pädagogik
    aus biologischer Perspektive
    Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002) Nr.5, S. 690 - 705
  • Franz WUKETITS
    Evolutionstheorien
    Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik
    Darmstadt 1988

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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