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Das
Gedächtnis Übersicht 1.0 Das Problemfeld 1.1 Selbstkritische Vorbemerkung Umfang und Komplexität des Themas lassen es als verwegen erscheinen, auf dem begrenzten Raum dieser und der folgenden Webseite dessen sachangemessene Darstellung zu versuchen. Der Verfasser wagt es dennoch. Er verweist auf die „Beschreibung des Vorhabens" – in den „Bausteinen“ lediglich eine Grund- und Erstinformation zu leisten, die eine eigene gründliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand weder ersetzen will noch kann. Der Zufall fügt es, dass Hans-Joachim Markowitsch, einer der führenden Hirnforscher, und sein Mitarbeiter Matthias Brand in der Zeitschrift »Praxis der Naturwissenschaften – Biologie in der Schule«, 53 (2004), H. 7, S. 1 - 7, in diesen Tagen einen leicht zugänglichen Aufsatz veröffentlicht haben. Dort finden Sie kompakte und kompetente Informationen, die Ihnen die nötigen Ergänzungen, Vertiefungen und ggf. Korrekturen des hier Dargestellten bieten. 1.2 Wozu ein Gedächtnis? Ein Mensch ohne Gedächtnis wäre kein Mensch. Er könnte nicht sprechen, weil er sich den Zusammenhang zwischen Worten und Dingen nicht merken könnte. Er könnte nicht gehen, weil sein Hirn die richtigen Bewegungsabläufe nicht auslösen könnte. Er besäße keine Persönlichkeit, weil er keine individuellen Reaktionsmuster abgespeichert hätte. Er würde nicht aus Erfahrung klug, weil er nichts behielte. So plastisch beschreibt Annette BOLZ (2003, S. 21) die Leistungen des Gedächtnisses. Markowitsch (2002, S. 46) faßt zusammen: „Gedächtnis ermöglicht uns, in der Welt selbständig zu bestehen." »Gedächtnis«
beginnt also keineswegs mit dem Menschen, sondern hat eine
Vorgeschichte, die in die Tiefe des Lebendigen reicht. Daraus folgt auch entwicklungsgeschichtlich, daß für das Gedächtnis wichtige Gehirnteile bei Lebewesen schon ausgebildet waren, lange bevor sich mit dem Homo sapiens sapiens das Gehirn des modernen Menschen entwickelte. Unserem Selbstverständnis mag es widerstreben – dennoch nehmen in unserem Kopf diese älteren Gehirnteile nach wie vor wichtige, wenn nicht gar zentrale Funktionen wahr. Vitalität, Emotionalität und Geistigkeit des Menschen geraten dadurch immer wieder in konflikthafte Interaktionen. Arthur Koestler hat das im Anschluß an den Hirnforscher Paul MacLean mehrfach plastisch vorgetragen (1968, S. 291 ff., insbesondere S. 302; 1978, S. 18; hier die wesentliche Passage). 1.3 Definition des Gedächtnisses »Gedächtnis« jedoch wissenschaftlich korrekt zu definieren, ohne tautologisch zu formulieren, ist nicht einfach. Rainer SINZ (1979, S. 19) formuliert: „Unter Gedächtnis verstehen wir
Wesentlich schlichter sind Definitionen, wie sie sich - zusammengefasst - aus der Literatur ergeben. Gedächtnis ist die Fähigkeit eines Organismus, Informationen
1.4 Der Begriff »Gedächtnis« Diese Definition ist bis heute kaum übertroffen worden. Dennoch bedarf sie einer umgangsprachlichen Aufbereitung. Der Begriff »Gedächtnis« erweckt den Eindruck, als handle es sich um ein ganzheitlich funktionierendes System. Doch ein »Gedächtnis als solches« gibt es nicht (Serge Laroche 2003, S. 19, Annette BOLZ 2003, S. 46). In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Aufgaben, zu deren Erfüllung „Gedächtnis“ erforderlich ist. Deshalb sind Unterscheidungen erforderlich. Die Komponenten, Aufgaben und Funktionen des Gedächtnisses lassen sich unter drei Aspekten betrachten.
Geistesgeschichtlich interessant und gedanklich bemerkenswert ist der umfangreiche Abschnitt, den der Kirchenvater AUGUSTINUS in den »Confessiones«, seinen »Bekenntnissen« widmet (1987, X 8,12 - 27,36; Erläuterungen dazu S. 893, Anm. 21 ff.). 2.0 Aufgaben, Funktionen und Komponenten 2.1 Aufgabe des Gehirns Die Aufgabe des Gehirns besteht nach Markowitsch (2002, S. 103) darin, Informationen
Der Neuropsychologe Alexander R. LURIJA beschreibt das Gehirn als ein funktionelles System mit drei grundlegenden Einheiten. Diese Darstellung ist unter didaktischem Blickwinkel interessant und wird nach Gerhard FRIEDRICH - Gerhard PREISZ referiert (2003, S. 188 f).
Jede bewusste Tätigkeit erfordert die Zusammenarbeit aller drei Einheiten des Gehirns. 2.2 Lokalisierung des Gedächtnisses Seit langem beschäftigt sich die Hirnforschung damit, einzelne Funktionen des Gehirns bestimmten Gehirnbereichen bzw. -strukturen zuzuordnen. Insbesondere wurden dazu Erkrankungen ausgewertet, die zu Gedächtnisausfällen führten Dabei wurden Hirnareale gefunden, die für bestimmte Funktionen zuständig sind und inzwischen genau beschrieben werden (vgl. dazu die Übersicht bei MARKOWITSCH 2002, S. 24 ff.). Nach neueren Erkenntnissen der Hirnforschung lassen sich die Funktionen des Gedächtnisses dennoch nicht eindeutig lokalisieren. Vielmehr werden im Anschluss an E. Roy John Modellvorstellungen bevorzugt, die eine netzwerkartige Struktur annehmen (Markowitsch 2002, S. 75, S. 107). Danach bildet ein komplexes Netz von Nervenzellen, das über das gesamte Gehirn verteilt ist, das Gedächtnis. Es dürfte sich dabei um Module handeln, die teilweise hierarchisch, teilweise parallel miteinander verschaltet sind. Neuronale Netzwerke sind Informationen verarbeitende Systeme, die aus einer großen Zahl einfacher Schalteinheiten zusammengesetzt sind. In ihnen wird Information durch Aktivierung und/oder Hemmung von Neuronen verarbeitet (Manfred Spitzer 2002, S. 49). Ernst P. FISCHER (2004, S. 390 f.) fasst wie folgt zusammen: "Natürlich hat die kognitive Leistung, die wir Gedächtnis nennen, eine materielle Basis [...]. Das Organ des Denkens hat ... einen Ort im Gedächtnis, woraus folgt, dass das Gedächtnis keinen Ort im Gehirn haben kann. [...] Alle Erfahrung kann gleichzeitig überall sein. Das ganze Gehirn ist das Gedächtnis." 2.3 Gedächtnis als zeitabhängiger Prozess Gedächtnis bezieht sich auf die Zeit. Drei „Gedächtnisse“ lassen sich unterscheiden. Dabei ist zu beachten, dass es sich lediglich um analytische Begriffe handelt, die der Verständigung dienen, nicht aber – z.B. als eine Art von Sortierkästen – wörtlich verstanden werden dürfen (ders., a.a.O. S. 6)
2.4 Inhalte des Gedächtnisses Das Langzeitgedächtnis setzt sich aus mehreren Systemen zusammen und speichert eine Vielzahl unterschiedlicher Inhalte. Deshalb unterscheidet man (so erstmals 1977 Karl R. Popper in Eccles-Popper 1982, S. 579 ff.) zwei Hauptfunktionen:
Manfred Spitzer (2002, S. 59 f., 77) bringt die Leistungen der beiden Systeme auf den Punkt: „Wir können viel und wissen wenig." Joaquin Fuster (2003, S. 14) schlägt für die beiden Systeme Bezeichnungen vor, die deren zentrale Funktionen noch deutlicher beschreiben:
Beide Systeme arbeiten eng zusammen, denn ein einzelnes Ereignis hat sowohl semantischen als episodischen Inhalt. Ein und dieselbe Information wird sowohl explizit als implizit repräsentiert (Laroche 2003, S. 19). Wesentliche Bereiche unseres Gedächtnisses sind stark mit Emotionen verknüpft. Und Erinnerungen werden nicht so abgerufen, wie sie gespeichert wurden, sondern wir beziehen bei deren Abruf inzwischen angesammeltes zusätzliches Wissen mit ein, und wir rufen Informationen entsprechend unserer momentanen Gemütslage ab (Markowitsch 2002, S. 83). Vor unserem geistigen Auge erscheint also niemals ein getreuliches Abbild des ursprünglich Erlebten. Vielmehr ist es eine Rekonstruktion, in die unser augenblickliches Identitätsgefühl eingeht, unsere Wünsche, Überzeugungen und Ziele, unsere allgemeinen Kenntnisse und die speziell verfügbaren Details (Pascale Piolino 2003, S. 72.) Beide Gedächtnissysteme sind hierarchisch organisiert. Zwischen den Gehirnregionen, die verschiedene Formen des Gedächtnisses beherbergen, bestehen vielfältige Beziehungen. Beide Hierarchien fußen auf dem stammesgeschichtlich erworbenen Gedächtnis in den primären sensorischen und motorischen Gehirnarealen. Auf der höchsten Ebene stehen neuronale Netzwerke, die abstrakte Begriffe und allgemeine Konzepte repräsentieren. Folgende Grafik fasst Aufbau und Zusammenhang der beiden Hierarchien zusammen (nach Fuster a.a.O.):
3.0 Literaturgrundlage
4.0 Anhang Arthur Koestler zitiert Paul Maclean wie folgt: „Der Mensch befindet sich in der mißlichen Lage, daß die Natur ihn im Prinzip mit drei Gehirnen ausgestattet hat, die trotz erheblicher Strukturunterschiede gemeinsam funktionieren und sich miteinander verständigen müssen. Das ältere dieser Gehirne stammt im wesentlichen aus der Reptilienphase. Das zweite hat er von den niederen Säugetieren geerbt, und das dritte hat sich in der späten Säugetierphase entwickelt; [...] dieses hat den Menschen erst zu dem gemacht, was er heute ist. In metaphorischer Form könnte man die drei Gehirne in dem einen Gehirn so erklären: Wenn ein Psychiater seinen Patienten auffordert, sich auf die Couch zu legen, dann verlangt er von ihm, sich neben einem Pferd und einem Krokodil auszustrecken." [ Zurück
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von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte
Änderung am: 15.01.08
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