»Lernen« Übersicht „Lernen
hat eine bittere Wurzel, aber es trägt süße Früchte.“ 1.0 Was ist »Lernen«? In der Fachliteratur finden sich vielerlei Versuche, Lernen anschaulich zu beschreiben oder begrifflich zu definieren. Bei deren Sichtung fällt auf, daß Lernen zu allen Zeiten mit bildhaften Analogien und Metaphern beschrieben und durch sie verstanden worden ist. Das gilt nicht nur für die Alltagssprache, sondern erst recht für die Wissenschaftssprache. Als Beispiele seien hier für jene die Verben »etwas begreifen« bzw. »etwas eintrichtern«, für diese der Begriff »Konstruktion« genannt. Und da in der Wissenschaft sprachliche Neuprägungen nötig sind, gewinnt hier die metaphorische Sprachbildung besondere Bedeutung (Alexander DEMANDT, 1978, S. 13). Da die Sprache das Vehikel des Denkens ist, offenbart die Wortwahl jeweils den gedanklichen Zugriff. Dem soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. 2.0 Funktion und Leistung von Metaphern Wozu hätte GOETHE sich nicht geäußert? In der Tat – die Suche nach einem passenden Zitat führt zu einem grundlegenden Fund. In seiner Farbenlehre schreibt er („Schlußbetrachtung über Sprache und Terminologie“, 1989, S. 226 Nr. 751):
Jean PAUL schreibt (1981, S. 184, § 50):
Repräsentativ für die zeitgenössische Wissenschaft sei Karl-Georg FABER vorgestellt . Wesentlich nüchterner als die zitierten Autoren bezeichnet er (1974, S. 242, 1982 ebda. leicht abgewandelt) die Metapher als eine
Ähnlich José ORTEGA Y GASSET (1959, S. 59):
Die Probe auf das Exempel leistet Douwe DRAAISMA (1999). In seinem Buch „Die Metaphernmaschine“ legt er eine „Geschichte des Gedächtnisses“ vor, die das wissenschaftliche Ringen um eine angemessene Theoriebildung zum Gedächtnis in den dabei verwendeten Metaphern abbildet.
3.0 Metaphern für Lernen 3.1 Zwei wirkungsmächtige Beispiele Zwei Metaphern sind für das landläufige Verständnis wie auch für die wissenschaftliche Deutung von Lernen repräsentativ geworden. Sie sind einander näher, als es auf den ersten Blick scheint:
Beide Metaphern blenden grundlegende Sachverhalte aus, und dennoch haben sie das didaktische Handeln tiefgreifend beeinflusst.
Detaillierte
Darstellungen der beiden Metaphern finden Sie im Anhang: 3.2 Beispiele aus der Wissenschaftssprache Douwe DRAAISMA (1999) verzeichnet eine eindruckvolle Fülle von Metaphern, die in zweieinhalb Jahrtausenden Wissenschaftsgeschichte für das Gedächtnis und damit auch für das Lernen verwendet worden sind. Hier einige markante Beispiele:
Insgesamt lässt sich – mit DRAAISMA – sagen (a.a.O., S. 11): „Die
Geschichte des Gedächtnisses erinnert 3.3 Das Bild vom Lernen in der Alltagssprache Im Alltag verwenden wir vielerlei Metaphern für Lernen, ohne uns jeweils ihren Bedeutungsgehalt bewußt zu machen. Dafür zwei schlichte, allgegenwärtige Beispiele: Wenn ich etwas »begreife«, habe ich schließlich »verstanden«. Die alltags- und umgangssprachlichen Metaphern systematisch zu ermitteln ist eine aufschlussreiche Arbeit. Harald GROPENGRIESZER (2006, S. 14 f.) hat sie geleistet. Das von ihm gefundene Material ist erstaunlich reichhaltig und kann deshalb hier nicht ausgebreitet werden. Er ordnet es folgenden Haupttypen zu:
3.4 Nutzanwendungen Ohne Metaphern und Analogien kann Lernen offenbar weder beschrieben noch über Lernen gesprochen werden. Vor allem die alltagssprachlichen Metaphern unterscheiden sich jedoch in ihrer sprachlich-analytischen Qualität erheblich. Deswegen empfiehlt sich eine sorgfältig-bewusste Wortwahl. So sollten wir Lehrer Schülern z.B. weder etwas „eintrichtern“, ihnen „beibringen“ oder gar „einpauken“ wollen. Ein geeignetes Kriterium für die Wahl wirklichkeitsgerechter Metaphern können die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung sein. Sie legen es nahe, Metaphern aus dem Wortfeld »Bauen, Konstruktion« zu bevorzugen und die aktiven Aspekte des Lernen zu betonen. Einzelheiten und Vertiefungen dazu finden Sie auf den folgenden Webseiten: 4.0 Anhang 4.1 Der »Nürnberger Trichter« Vermutlich zum ersten Mal wird der didaktische Trichter in der Nürnberger Literatur 1545 in dem Buch »Deutsche Arithmetika« von Michael Stifels erwähnt: »Unangesehen, dass ein ungelehrter Mensch nicht danach fragt, dass er ungelehrt ist - und wohl sagen darf - er sollte das Maul nicht auftun, so ihm einer die Kunst könnte mit einem Trichter eingießen.« Im Jahre 1647 veröffentlichte der Nürnberger Senator Georg Philipp Harsdörffer ein Lehrbuch der Poesie mit dem Titel »Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne behuf der lateinischen Sprache in VI Stunden einzugießen«. Harsdörffer , ein Barockmann, Historiker, Dichter und Gründer des Pegnesischen Blumenordens, hat in diesem Werk Regeln für das Schreiben von Gedichten in Deutsch aufgestellt. Damals war es allgemeine Meinung, für die Kunst der Poesie sei die Beherrschung des Lateins eine unerlässliche Voraussetzung. Das Buch war zu seiner Zeit so begehrt, dass schon nach drei Jahren die zweite Auflage erschien. Bald wurde es kurz der »Nürnberger Trichter« genannt und hat ihm dessen unsterblichen Ruhm eingebracht. In der
Stadtbibliothek Nürnberg befindet sich wohl die älteste Darstellung des Nürnberger
Trichters. Auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert sind drei Männer
abgebildet, die einem auf dem Boden Liegenden die gesamte Weisheit mit einem
großen Trichter eingießen. Man kann auf diesem Kupferstich alle möglichen
Gegenstände erkennen, die in diesen Trichter hineingeschüttet werden. Das
Bild trägt die Überschrift Quelle: Harsdörffers Lehrbuch wurde zum Vorbild für Johann Christoph WAGENSEILs Pera librorum iuvenilium (fünf Bände, 1695; frei übersetzt: Rucksack mit Büchern für die Jugend). Diese Bücher waren ein Kompendium, das das damals verbindliche Schulwissen nicht nur enthielt, sondern zugleich auch leicht und wirksam vermitteln sollte. Johann Christoph WAGENSEIL (1633 - 1705) war Professor an der Universität Altdorf (zitiert nach Jürgen OELKERS, Anregung 44 (1999) S. 258, Anm. 6). Zurück zur Übersicht Zurück zum Text 4.2 Die »Leere Tafel« Johann Amos COMENIUS schreibt in seiner Großen Didaktik von 1657 (herausgegeben von Andreas FLITNER, Düsseldorf 1966, S. 39):
Offenbar bezieht er sich auf eine Formulierung in dessen Abhandlung "Über die Seele" (III 4, 429 b 31 - 430 a 1 ed. Bekker) und interpretiert sie sehr kühn im Sinne seines Erkenntnisinteresses. Um die Metapher richtig zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie damals eine Schreibtafel beschaffen war. Sie bestand aus einem oder zwei hölzernen Brettchen (sog. Diploma), das mit einer Wachsschicht überzogen war. In diese Schicht konnte man die Buchstaben einritzen oder eindrücken und anschließend, indem man sie glattstrich, auch wieder löschen. Schon ARISTOTELES' großer Lehrer PLATON hatte in seinem Dialog »Theaitetos« (191 c-d) die Metapher von der leeren Schreibtafel angebahnt, aber selbst nicht verwendet, obwohl das in der wissenschaftlichen Literatur allgemein so angenommen wird (so bei Karl PRAECHTER, Die Philosophie des Altertums, Tübingen 195313, S. 289, und neuerdings bei Douwe DRAAISMA, 1999, S. 33). Sokrates setzt sich in diesem Dialog mit unterschiedlichen Versuchen auseinander, die Natur des Wissens zu definieren. U.a. wird auch die Frage erörtert, ob und wie falsche Vorstellungen zustande kommen können. Um seine Position anschaulich zu machen, beschreibt er das Gedächtnis und dessen Funktion als einen Wachsblock oder -klumpen. Dieses Wachs nehme unsere Wahrnehmungen und Gedanken als "Eindrücke" auf, wie sie "beim Siegeln mit dem Prägestempel eines Ringes" entstehen. Aristoteles hat eben dieses Bild von Wachs und Siegel aufgegriffen. In seiner Abhandlung „Über Gedächtnis und Erinnerung" schreibt er (I 450 a 32 ed. Bekker), was wir mit unseren Sinnesorganen aufgenommen hätten, hinterlasse in unserem Erinnerungsvermögen ein Bild "wie die, die mit dem Siegelring einen Abdruck in Wachs machen". Unsere Sprache hat diesen Vergleich bis auf den heutigen Tag bewahrt, denn wir sprechen von "prägenden Eindrücken", und was wir behalten wollen, "prägen wir uns ein". Die Metapher von der leeren Tafel ist nach PLATO und ARISTOTELES von vielen antiken Autoren verwendet worden. Der lateinische Begriff »tabula rasa« geht wahrscheinlich auf den Universalgelehrten Albertus MAGNUS (1206 - 1280) zurück. John LOCKE (1632 - 1704) vergleicht den jungen Menschen in seinem Buch "Einige Gedanken über Erziehung" von 1693 mit einem "unbeschriebenen Blatt Papier" (herausgegeben von J. B. DEERMANN, Paderborn 1976, S. 198. Beide Stellen zitiert nach KAUDER, S. 41). Auch in seinem "Versuch über den menschlichen Verstand", II c.1. § 2) bezeichnet er sie als "white paper". Gottfried Wilhelm LEIBNIZ (1646 - 1716) hat das wirkungsmächtige Bild - John LOCKE folgend - mehrfach und durchaus kontrovers aufgegriffen. Auch David HUME (1711 - 1776) in seiner "Untersuchung über den menschlichen Verstand" von 1739 und danach viele andere Philosophen verwenden es. In unserer Zeit hat Sigmund FREUD 1925 in seiner "Notiz über den Wunderblock" (Gesammelte Werke, hrsg. von Anna FREUD, Frankfurt 19755, Bd. 14, S. 3 - 8) das Bild von der "Schreibtafel oder dem Blatt Papier" neu und weiterführend auf das menschliche Gedächtnis angewandt und interpretiert. Eine tiefschürfende und überaus aspektreiche Untersuchung der Metaphern für das Gedächtnis hat Douwe DRAAISMA (1999) vorgelegt. Den aktuellen Stand der neurobiologischen Forschung zur »Tabula rasa« finden Sie bei Steven PINKERT (2003). Weitere Literatur zur Hirnforschung finden Sie auf den Webseiten
Zurück zur Übersicht Zurück zum Text 5.0 Literaturgrundlage
Hier
werden nur die Titel aufgeführt, auf denen der vorstehende Text
basiert.
Ein
zusammenfassendes Literaturverzeichnis [ Zurück
zur Übersicht ] Ausgearbeitet
von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 15.01.08
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