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Tugenden oder Werte ?

II. Autonomie - Emanzipation - Mündigkeit - Selbstbestimmung

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Die Begriffe und ihre Bedeutung
      2.1 Autonomie
      2.2 Emanzipation
      2.3 Mündigkeit
3.0 Emanzipation und Mündigkeit als politische Begriffe
      3.1 Bedeutungserweiterung
      3.2 Bedeutungsschichten
4.0 Ausblick
      4.1 Emanzipation als pädagogischer Begriff
      4.2 Sind „Emanzipation" und „Mündigkeit" Tugenden oder Werte?
      4.3 Einbettung in den Zusammenhang
5.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Auf der Webseite „Tugenden oder Werte - I. Die Kardinaltugenden" wird in Nr. 3.6 Josef PIEPERs Aussage über die Kardinaltugend der Klugheit zitiert:

„Die Klugheit ist der Inbegriff sittlicher Mündigkeit und Freiheit."

Zwischen dem überkommenen Begriff der Tugend und dem modernen, von Ambivalenz nicht freien Begriff der Werte besteht also eine Verbindung. Der zitierte Satz ist geradezu die Brücke zwischen beiden Bereichen. Deswegen soll in den folgenden Ausführungen die Bedeutungsgeschichte dreier zentraler Werte nachgegangen werden.
     Lehrer und Erzieher tun gut daran, sich der Vielschichtigkeit und Bedeutungsvielfalt dieser Begriffe bewusst zu sein. Folgenreiche Missverständnisse können dann eintreten, wenn sie in der nicht reflektierten, gleichsam naiven Annahme verwendet werden, sie verstünden sich von selbst. Vertiefungen zu dieser Problematik finden Sie auf der Webseite „Werte, Gegen-Werte, Un-Werte".

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2.0 Die Begriffe und ihre Bedeutung

„Autonomie" „Mündigkeit", „Emanzipation" und „Selbstbestimmung" sind Begriffe, die in der gegenwärtigen Diskussion über Werte in hohem Grade positiv besetzt sind und als sog. Primärtugenden zu Leitbegriffen einer Epoche geworden sind.
     Deshalb prägen sie auch die intensive und breite Diskussion über Erziehungsziele und haben bestimmenden Einfluss auf die Definition der Aufgaben gewonnen, die der Schule in unserer Zeit gestellt sind. An dieser Stelle genüge der Hinweis auf die Postulate von Erziehungswissenschaftlern wie Wolfgang KLAFKI und Wolfgang SCHULZ oder Fachdidaktikern wie Annette KUHN.
     Alle drei Begriffe sind ursprünglich scharf umgrenzte Fachausdrücke der Rechtssprache, doch haben sie sich zu außerordentlich vielschichtigen Ausdrücken der geschichtsphilosophischen und politischen Fachsprache entwickelt.

2.1 Autonomie

Der Begriff „Autonomie"   bezeichnet zunächst die Unabhängigkeit eines Gemeinwesens und seiner Gesetzgebung von fremder Oberherrschaft.
     Bei KANT beschreibt er eine Weise des Individuums, sich selbst zu bestimmen, nämlich in der Weise, dass die Ursache für das Handeln des Menschen nicht in seiner Natur liegt, sondern in reiner, praktischer Vernunft. Da diese Aussage wegen ihres abstrakten Charakters von den Fragen der täglichen Lebensführung weit entfernt ist, bedarf sie einer Interpretation.

„Autonomes", also eigengesetzliches Handeln ist im wörtlichen Sinne

  • weder legal (gesetzmäßig) noch legitim (rechtlich gerechtfertigt),
    sondern kann
  • nur als freiwillige Bindung an das Sittengesetz , den „Kategorischen Imperativ",

angemessen und gerechtfertigt sein.

Im Verhältnis zu anderen Menschen bezeichnet 'Autonomie' die Abwesenheit nicht legitimierter, für manche Autoren das Fehlen jedweder Fremdbestimmung.

Wenn Sie sich in die semantischen, philosophischen und politischen Aspekte des Begriffs vertiefen wollen, finden Sie weiterführende Informationen bei Herlinde PAUER-STUDER (2005).

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2.2 Emanzipation

Der Begriff Emanzipation" bezeichnet als Fachausdruck des römischen Rechts ursprünglich den Rechtsakt, durch den der Sohn aus der väterlichen Gewalt entlassen wurde. Es war die Entscheidung des Vaters, ob er den Sohn 'emanzipierte' oder nicht.
     In verallgemeinerter Bedeutung beschrieb Emanzipation auch analoge Akte, durch die der Betroffene den Rechtsstatus der Mündigkeit gewinnt. Immer handelt es sich um Vollzug und Abschluss eines Rechtsaktes. Für die Bedeutungserweiterung des Begriffs bezeichnend ist, dass er dynamischen und damit prozesshaften Charakter erhalten hat. In diesem Zusammenhang ging aus dem ursprünglich passivischen Verb „emanzipiert werden" der damit nicht übereinstimmende reflexive Sprachgebrauch „sich emanzipieren" hervor.

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2.3 Mündigkeit

Auch Mündigkeit ist zunächst ein rein rechtlicher Begriff. Er bezeichnet die Befugnis, seine Interessen selbst und ohne fremde Fürsprache oder Fürsorge wahrzunehmen sowie die Bürgerrechte als Gleicher unter Gleichen auszuüben.

Mündig wird ein Mensch in diesem Sinne durch einen Rechtsakt, der eine ohne weitere Vorbedingungen geltende neue Rechtslage schafft, also eine klare Linie zwischen dem vorigen und dem neuen Zustand zieht.

KANT beschreibt die selbstverschuldete Unmündigkeit als einen Mangel
     o nicht „des Verstandes,
      o sondern der Entschließung und des Mutes,
         sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen".

„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
ist also der Wahlspruch der Aufklärung ".
(1784/1983, Band 6 S. 53)

Mithin besteht „Mündigkeit" für KANT darin, dieser Aufforderung Folge zu leisten.

Diese Definition verwandelt eine ehemals statische in eine dynamische Kategorie. Mündigkeit ist dann kein Zustand mehr, sondern wird zum Prozess oder gar Entwicklungsauftrag. Sie wird damit zu einem Begriff, der zu sich selbst in Widerspruch geraten kann, wie ein - tiefernster - Ausspruch von Alexander MITSCHERLICH zeigt:

„Niemand von uns ist mündig."

2.4 Selbstbestimmung

Selbstbestimmung wird immer wieder als hoher Wert geltend gemacht, der sich ohne nähere Definition gleichsam von selbst versteht. Soll sie jedoch keine „pseudonormative Leerformel" ohne konkrete Handlungsziele bleiben, muss sie konkretisiert und empirisch zugänglich gemacht werden. Günter HUBER (1976, S. 49) führt vier Bestimmungsstücke von Selbstbestimmung an:

  • Orientierung an der Realität
    Die Umwelt wird nach nützlichen Informationen für das weitere Verhalten abgesucht, statt lediglich auf aktuelle von außen kommende Forderungen zu reagieren.
  • Sensitivität für Normrelevanz
    Die Bedeutung und Gültigkeit von Normen in spezifischen Situationen ist bekannt und wird anerkannt. Die oft widersprüchliche Bewertung von Handlungsmöglichkeiten ist bekannt.
  • Flexibilität anstelle von Stereotypie
    Im Umgang mit anderen Menschen ist es für ein angemessenes Verhalten wichtig, sich der Situation entsprechend verhalten zu können, ohne von starren Mustern abhängig zu sein.
  • Orientierung an der Legitimität
    fremder und eigener Bestimmungen des Verhaltens

Dass »Selbstbestimmung« kein selbstverständlicher, sondern ein überaus komplexer Begriff ist, zeigt die Untersuchung wertender Begriffe auf der Webseite „Werte, Gegen-Werte, Un-Werte".
    
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung besteht nicht im Ausleben eigener Bedürfnisse, sondern ist nur über die Verwirklichung von Werten zu erreichen.
     Eine tiefschürfende Untersuchung des Begriffes Selbstverwirklichung leistet Christoph MENKE (2005).

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3.0 Emanzipation und Mündigkeit als politische Begriffe

3.1 Bedeutungserweiterung

Von Emanzipation im weiteren Sinne wird immer dann gesprochen, wenn Menschen von fremder Vormundschaft befreit werden oder sich selbst von dieser befreien, so dass sie nunmehr mündig sind. Emanzipation wird damit, beginnend in der frühen Neuzeit, zu einem Bewegungs- und Zielbegriff (GRASS - KOSELLECK S. 153), zu einem Wort, das „die Kraft eines Leitbegriffs in sich sammelt" (a.O. S. 165), schließlich zu einem „Erfüllungsbegriff" (a.O. S. 168).

Mit dieser Entwicklung verbunden war auch eine Verinnerlichung. „Mündige Menschheit" bezeichnet nicht deren Befreiung von der Vorherrschaft der Marsmenschen, sondern eine innere Verfassung der Menschen (SPAEMANN S. 96).

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3.2 Bedeutungsschichten

Wie in einem Brennglas wird die Bedeutungsentfaltung von Emanzipation in dem Artikel festgehalten, den SCHEIDLER 1840 für das Lexikon von ERSCH/GRUBER geschrieben hat. Er sieht folgende Schichten:

  • privatrechtliche Emanzipation,
  • bürgerliche und politische Gleichstellung,
  • Aufhebung sachlicher Abhängigkeitsverhältnisse,
  • Emanzipation als politischer Lebensprozess,
  • das ganze Leben als universeller Emanzipationsprozess.

Daraus folgt für ihn ein dreifacher Emanzipationskampf, nämlich

  • gegen die Naturabhängigkeit,
  • um die Unabhängigkeit des Menschen vom Menschen in einer gerechten Verfassung,
  • Kampf des Menschen mit sich selbst
    o gegen die Abhängigkeit von seiner Sinnlichkeit,
    o die Abhängigkeit vom blinden Mechanismus der Gewohnheit
       und des Autoritätsglaubens.

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4.0 Ausblick

4.1 Emanzipation als pädagogischer Begriff

Wie diese Übersicht zeigt, ist Emanzipation zu einem Ziel, zu einem Ideal erklärt worden. Aus dem rechtlichen Begriff wird ein pädagogischer. Das macht ihn für Lehrer und Erzieher zu einer zentralen, aber komplexen und schwierigen Kategorie.
     Wenn Emanzipation und Mündigkeit Ziele sind, sind sie eben noch keine gegenwärtige Wirklichkeit, sind Menschen zwar als Erwachsene rechtlich mündig, aber nicht sachlich.
Damit stellt sich die Frage, wer denn ihr Vormund sei, und die weitere, ob diese Konsequenz nicht sinnwidrig ist.
     Kein geringerer als Theodor ADORNO hat deshalb die Kritik formuliert, der Appell zur Mündigkeit sei fast eine Tarnung des allgemeinen Unmündig-gehalten-Werdens.

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4.2 Sind „Emanzipation" und „Mündigkeit" Tugenden oder Werte?

Abschließend ist noch zu prüfen, ob Emanzipation und Mündigkeit Kategorien der Ethik sind, wie deren Bezeichnung als Werte nahelegt.
     Die Antwort dürfte davon abhängen, ob Werte wie diese im Sinne der alten Tugenden als Gebote verstanden oder als individuelle Rechte gesehen und in Anspruch genommen werden.
     Im Übrigen bleibt deren Charakter als Normen offen. Autonomie und Mündigkeit können zwar als Normen geltend gemacht werden, durch die Dritte in ihrer Beziehung zu einem Individuum gebunden werden. Fraglich ist jedoch, ob sie auch vom Individuum in seinen Beziehungen zu anderen als verbindlicher Maßstab, also als Norm, empfunden werden.

4.3 Einbettung in den Zusammenhang

Das Thema dieser Webseite lässt sich als Teilaspekt einer Frage verstehen, die für das Selbstverständnis der Menschen und damit für erzieherisches Handeln besonders bedeutsam ist:

Was ist Freiheit? Was ist ihr Wesen?
Was sind ihre Grenzen,
was ihre Wirkungen auf das Tun und Lassen des Menschen?

Monika SÄNGER (2000) hat dazu eine aspektreiche Materialsammlung vorgelegt und sie didaktisch aufbereitet. Deswegen ist diese eine gediegene Grundlage dafür, das Thema im Unterricht differenziert zu behandeln.

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5.0 Literaturnachweis

Hier wird nur die spezielle Literatur dieses Bausteins aufgeführt. 
Das vollständige Literaturverzeichnis  für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier:
Literaturgrundlage

  • Theodor W. ADORNO
    Erziehung zur Mündigkeit
    Frankfurt 1970

  • Erich E. GEISZLER
    Der mündige Bürger
    Wirklichkeit oder bloße Illusion?
    MUT Nr. 374 vom 24. Oktober 1998

  • Karl Martin GRASS - Reinhart KOSELLECK
    Emanzipation
    in:
    Otto BRUNNER u. a. (Hrsg.)
    Geschichtliche Grundbegriffe
    Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland
    Stuttgart 1975,, Band 2 S. 153 - 197

  • Christian GREMMELS
    Mündigkeit - Geschichte und Entfaltung eines Begriffs
    Die Mitarbeit 18 (1969), S. 360 - 372

  • Immanuel KANT
    Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
    Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm WEISCHEDEL
    Band 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie
    Politik und Pädagogik
    Darmstadt 1983

  • Christoph MENKE
    Innere Natur und soziale Normativität
    Die Idee der Selbstverwirklichung
    in:
    Hans Joas - Klaus Wiegandt (Hrsg.)
    Die kulturellen Werte Europas
    Frankfurt am Main 2005, S. 304 - 352

  • Herlinde PAUER-STUDER
    Autonomie
    Ein Begriff und seine Bedeutung
    in:
    Heinrich Schmidinger - Clemens SEDMAK (Hrsg.)
    Darmstadt 2005, S. 183 - 207

  • Robert SPAEMANN
    Autonomie, Mündigkeit, Emanzipation
    Zur Ideologisierung von Rechtsbegriffen
    Kontexte 7 (1971), 94 - 102

  • Monika SÄNGER
    Freiheit und Determination
    21 Arbeitsblätter mit didaktisch-methodischen Kommentaren
    Stuttgart 2000

  • Heinrich Schmidinger - Clemens SEDMAK (Hrsg.)
    Der Mensch - ein freies Wesen?
    Autonomie - Personalität - Verantwortung
    Darmstadt 2005

  • Manfred SOMMER
    Mündigkeit: Begriff und Metapher
    in:
    Identität im Übergang: Kant
    Frankfurt 1988, Suhrkamp stw 751, S. 117 - 139

Die zusammenfassende Literaturgrundlage für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier:  Literaturgrundlage

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 26.05.15
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