Tugenden oder Werte ? Übersicht 1.0 Das Problemfeld In der aktuellen Diskussion verweisen Begriffe wie Wertepluralismus" und Wertewandel" auf die zentrale Bedeutung, die den Werten" zuerkannt wird. Die Werte werden jedoch für unterschiedliche und kontroverse Positionen in Anspruch genommen. 2.0 Die Begriffe und ihre Bedeutung Der Begriff Werte" ist ein modernes Wort; früher sprach man von Tugenden. Dieser Begriff mutet heute altfränkisch an, zumal der Singular Tugend" unter dem Einfluss des idealistischen Persönlichkeitsbegriffs auf die Disziplinierung der Sexualität verkürzt wurde. In der Unterscheidung von Primär- und Sekundärtugenden wird dieses altehrwürdige Wort jedoch weiterhin in allgemeiner Form gebraucht. Bevor mit den Begriffen Tugenden" und Werten" gearbeitet werden kann, muss deren Bedeutungskern freigelegt werden. 2.1 Tugenden Der Begriff Tugend" bezeichnet
im ethischen Sinne die Sittlichkeit, im konventionellen die Sittenreinheit der
Lebensführung. Er dient im Übrigen zur Übersetzung eines griechischen Wortes, das in
der europäischen Geistesgeschichte zentralen Rang einnimmt: areté". 2.2 Werte Was Werte" sind, scheint selbstverständlich. Die hochabstrakte Allgemeinheit dieses Begriffes macht es jedoch erforderlich, seinen Bedeutungsgehalt und seine Verständigungsfunktion zu ermitteln und zu untersuchen. Zunächst fällt die Bedeutungsvielfalt auf. Sie ist
deswegen wichtig, weil sie in einer Zeit des - oft kontrovers und konflikthaft gefärbten
- Wertepluralismus zu einem Grundkonsens beiträgt und dennoch unterschiedliche
Bedeutungen zulässt.
Diese Doppeldeutigkeit ist Nachteil und Vorzug zugleich - Nachteil, weil sie die Verständigung erschwert, Vorteil, weil sie zwei anscheinend gegenläufige Aspekte miteinander verklammert und deswegen auch ausbalancieren kann. 2.3 Philosophiegeschichtlicher Exkurs Den Begriff Werte" hat der
Philosoph Hans REINER im Anschluss an Max SCHELER und
Absolute Werte werden als in sich bedeutsam erlebt, relative Werte hingegen sind durch die Erfüllung eines eigenen oder fremden Bedürfnisses wichtig. Die traditionelle Ethik hingegen unterscheidet (Otto F. BOLLNOW 1966, S. 19) hingegen drei Ebenen:
Eine vermittelnde Position nimmt Hasso VON RECUM (1992, S. 390) ein. Er unterscheidet zwischen Selbstentfaltungswerten sowie Pflicht- und Akzeptanzwerten. Zuletzt wurde diese Terminologie von Clemens ALBRECHT (2001 S. 885) aufgegriffen. Neuerdings grenzt Hans JOAS (2005, S. 14 f.) Werte gegenüber Normen einerseits und Wünschen andererseits ab. Er gewinnt damit eine eindeutig positive Definition. Werte bezeichnet er als attraktiv, Normen als restriktiv. Werte sind "emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte" (a.a.O., S. 15). Udo di FABIO (2005, S. 63) definiert Werte wie folgt: "Werte
sind unbedingte Vorrangregeln mit moralischer Qualität: Darum haben sie eine hohe normative Orientierungsfunktion (a.a.O., S. 65): "An
Werte glaubt man wie an religiöse Offenbarungen, Er folgt mit diesen Gedanken Niklas LUHMANN (1993, S. 18). Werte bedeuten für diesen, nüchtern, aber kategorisch formuliert, "Höchstrelevanz mit normativem Gehalt." Wenn Sie den Definitionsversuchen zum Begriff »Werte« vertiefend nachgehen wollen, finden Sie dazu bei Helmut THOME eine instruktive Übersicht sowie einen ausführlichen Literaturnachweis (2005, S. 389 ff., 438 - 443). 2.4 Sind Tugenden" und Werte" Synonyme? In den vorstehenden Ausführungen werden die beiden Begriffe verwendet, als seien sie bedeutungsgleich. Wie die Übersichtsskizze der Ethik in Nr. 2.3 zeigt, unterscheiden sie sich. Eberhard STRAUB (2000) hat sehr entschieden geltend gemacht, Tugenden seien keine Werte - und umgekehrt. Tugenden würden gelebt, geübt, ausgeübt. Den Argumentationszusammenhang für diese Auffassung finden Sie auf der Webseite Werte, Gegen-Werte, Un-Werte". 2.5 Gibt es eine Rangordnung der Werte? In These 3 auf der Webseite Schule in einer Zeit des Wertewandels und Wertekonflikts" hat der Verfasser die Auffassung vertreten,
Diese Auffassung wird für den
Argumentationszusammenhang und die Vermittlungsabsicht der o.g. Webseite aufrechterhalten,
obwohl sie in dieser absoluten Form nicht gültig ist und so auch nicht gemeint war. Es gibt also eine Rangordnung der Werte. Um das zu verdeutlichen, werden im Folgenden die Kardinaltugenden vorgestellt. Schon die alten Moralphilosophen haben jedoch ihre Tugendgebote keineswegs immer verabsolutiert, sondern oft in größeren Wertzusammenhängen reflektiert. Gerade in der Gegenwart ist die Rangfolge der Werte strittig und unterliegt der Dynamik des gesellschaftlichen Wandels. Die folgende Übersicht wird aufzeigen, dass das auch in der Vergangenheit nicht anders war. 3.0 Die Kardinaltugenden In der europäischen Geistesgeschichte sind die Kardinaltugenden ein zentrales Thema philosophischen und theologischen Denkens; exemplarisch seien hier die Namen PLATON und THOMAS VON AQUIN genannt. Wie die Rede des Agathon in PLATONs Dialog Das Gastmahl" (196 a - e) zeigt, müssen sie bereits damals im allgemeinen Bewusstsein vorhanden gewesen sein. 3.1 PLATON PLATONs gesamtes Philosophieren ist eine intensive und umfassende Auseinandersetzung mit den sittlichen Leitlinien menschlichen Handelns. Als Kardinaltugenden nennt er
3.2 Tugenden im alten Rom Die Wertvorstellungen des alten Rom sind
aus mehreren Gründen ideengeschichtlich interessant. Schon früh haben die Römer eigene
und sehr spezifische Wertvorstellungen entwickelt. Diese waren religiös fundiert und
zugleich ausgeprägt gesellschaftlich orientiert. Typisch für die Grundhaltung der Römer
ist es, dass sie als Pflichten und Gebote verstanden wurden, die unbedingt
zu befolgen waren.
3.3 THOMAS VON AQUIN THOMAS VON AQUIN wird hier als der repräsentative Denker der christlichen Ethik vorgestellt. Er übernahm die Kardinaltugenden der Antike, doch ergänzte er sie in dem System seiner Ethik durch ein christliches Gegenstück, wie es von dem Apostel PAULUS (1. Brief an die Korinther 13, 13) formuliert worden ist - die Dreiheit von
Diese christlichen Tugenden gründen in der hellenistischen Philosophie, wie Reinhard BRANDT (2007) ausführt. Sie hat einen systematischen Zusammenhang mit den drei großen Bereichen der Metaphysik entwickelt:
PAULUS bezeichnet die Liebe als "die größte", und dennoch setzt er sie auf den dritten Rang. Im Ordo-Denken des Mittelalters war das maßgeblich wichtig. In der Zeit der Aufklärung hat der Pfarrer Johann Joachim SPALDING der Liebe den ersten Rang gegeben (Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, 1748). Wie BRANDT darlegt, folgt Immanuel KANTs gesamte kritische Moralphilosophie diesem Grundriss. KANTs aufklärerische Leistung ist unlängst von Jürgen HABERMAS gewürdigt worden. Sie finden den Text auf der Webseite "Aufgabe und Problem - Einführung in des Thema »Werte-Erziehung«" Den Rang einer Kardinaltugend nimmt die Nächstenliebe ein, weil sie in der christlichen Ethik einen besonderen Stellenwert hat. Im Evangelium nach Matthäus (22, 27-28) wird Jesus von Nazareth zitiert. Sich auf das Alte Testament beziehend (5. Mose 6,5), spricht er:
3.4 Frühe Neuzeit Bei Arnold GEULINCX, einem niederländischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, findet sich eine Aufzählung von Kardinaltugenden, die - aus der Sicht unserer Tage - zur Problematik "sekundärer" Tugenden überleitet:
Hier sei angemerkt, dass die - heute eher skeptisch oder ablehnend betrachteten - bürgerlichen Tugenden in ihrer Zeit einen besonderen Stellenwert gewonnen hatten. Sie waren die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Damit trugen sie zur Unabhängigkeit des Bürgertums gegenüber den Wertvorstellungen und Herrschaftsansprüchen des Adels bei und hatten - modern gesprochen - eine geradezu emanzipatorische Funktion. 3.5 Hallescher Pietismus und preußische" Tugenden Geradezu exemplarisch wird die Bedeutung der Tugenden in der Pädagogik des Theologen und - modern gesprochen - Sozialpädagogen August Hermann FRANCKE sichtbar. Nicht nur seine Leistung, sondern auch die von ihm formulierten Maximen können nur dann angemessen gewürdigt werden, wenn man sie vor dem Hintergrund eines Elends sieht, wie es heutzutage die Straßenkinder in der Dritten Welt durchleiden. Fünf Werte und Tugendfelder waren in FRANCKEs Handeln besonders wichtig:
Das sind keine Kardinaltugenden im Verständnis unserer Zeit. Im Halleschen Pietismus bei bildete jedoch für jede dieser Tugenden der christliche Glaube den unmittelbaren Bezugspunkt. Tugendhaftigkeit war - im weiteren Sinne des Wortes - Gottesdienst. Der Einfluss FRANCKEs und seiner
zahlreichen Schüler auf die Entwicklung Preußens war beachtlich. Er wurde kürzlich in
einer Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle eindrucksvoll dokumentiert und in
differenzierter Form rehabilitiert. Wenn Sie sich kurz über H. A. FRANCKE informieren
wollen, finden Sie hier
eine Übersicht seiner Lebensdaten, Tätigkeiten und Leistungen. FRANCKEs
sozialpädagogische und bildungspolitische Leistung wird dargestellt und vorurteilsfrei
gewürdigt von Peter MENCK (2001). 3.6 Die Rangordnung der Tugenden Die Reihenfolge in der Aufzählung der Kardinaltugenden ist zugleich auch eine Rangordnung. In seiner tiefschürfenden Analyse und Interpretation der Kardinaltugenden kommt Josef PIEPER zu folgenden Feststellungen.
Der Bedeutungshorizont des Wortes
Klugheit" enthält Aspekte, die dessen umgangssprachliche Verwendung nicht ohne
Weiteres assoziieren lässt. Hier ist vor allem an die Fähigkeit zu selbständigem
Urteil und begründeten Entscheidungen unter pluralistischen
Bedingungen" zu denken. Darauf hat jüngst Clemens ALBRECHT
(2001 S. 891) sehr dezidiert aufmerksam gemacht. 3.7 Der Bezugspunkt der Kardinaltugenden Die vorstehenden Gedanken sind nur unter
der Voraussetzung schlüssig, dass sie über den Menschen hinausweisen, also - in
philosophischer Begrifflichkeit - transzendent sind. Der Bezugspunkt aller
Aussagen, die PLATON zu Fragen der Ethik macht, ist die Idee des Guten.
Sie ist der Urgrund alles sittlichen Handelns. 3.8 Der Kategorische Imperativ Immanuel KANT hat auf die Frage nach dem Maßstab sittlichen Handelns eine Antwort formuliert, die die in Nr. 3.5 erörterte Problematik offen lässt. Sein Kategorischer Imperativ" bindet die Prinzipien, nach denen der Einzelne handeln soll, an die Bedingung, sie müssten sich zugleich dazu eignen, Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung zu sein. Den Begründungszusammenhang und die Formulierungsvarianten finden Sie auf der Webseite Der Kategorische Imperativ". 3.9 Die pädagogische Dimension Hier braucht nicht betont zu werden, dass
die vorgestellten Sachverhalte und Überlegungen nicht gleichsam pur"
unterrichtet werden können, sondern in ein jeweils altersgemäßes didaktisches Konzept
eingebettet werden müssen.
4.0 Literaturnachweis Aus praktischen Gründen werden alle Literaturnachweise dieses thematischen Bereiches auf der Webseite Werte-Erziehung - Literaturgrundlage" zusammengefasst. Das entlastet die einzelne Webseite und vermeidet Wiederholungen. Um nachzulesen, klicken Sie hier: Literaturnachweise. [ Zurück zur Übersicht ] Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 08.01.09 |