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Werte, Gegen-Werte, Un-Werte

„For there is nothing either good or bad,
but thinking makes it so."
(Shakespeare, Hamlet II, 2)

Übersicht 
1.0 Das Problemfeld
      1.1 Tugenden oder Werte?
      1.2 Begriffe sind Interpretationen
      1.3 Die Konnotationen sind das Problem
      1.4 Werte sind Setzungen
2.0 Das Analyse-Viereck
      2.1 Der Grundgedanke
      2.2 Anwendung und Beispiele
      2.3
Eine fernöstliche Parallele
3.0 Literaturnachweis
4.0 Anhang: Textbelege KANT

1.0 Das Problemfeld

1.1 Tugenden oder Werte?

Der Philosoph Hermann LÜBBE (2005) hat kürzlich an eine bemerkenswerte Tatsache erinnert: Der Begriff »Wert« stammt aus der Ökonomie. Sie ist für alles zuständig, das einen "Preis" hat, also für "Werte". In den kanonischen Schriften der moralischen und religiösen Überlieferung Europas bleibe der Wertebegriff marginal. Er schreibt:

KANT ist es gewesen, der dann wie kein anderer den Wertebegriff entökonomisiert und moralisiert hat, nämlich im Begriff des unvergleichlichen und somit uneinschätzbaren "inneren Wertes" der menschlichen "Würde", die sich im glücklichsten Fall in unserem "guten Willen" manifestiert, den KANT als einzigen Wert in den Rang eines "absoluten Wertes" erhob. 
Textbelege, die diese Aussage begründen, finden Sie im Anhang.

In die Terminologie der zeitgenössischen Ethik hat der Philosoph Hans REINER den Begriff »Werte« im Anschluss an Max SCHELER und Nicolai HARTMANN eingeführt. REINER unterscheidet (1964 S. 216 ff., 1974 S. VIII)

  • objektiv bedeutsame
  • und subjektiv bedeutsame Werte

und bezeichnet sie auch als absolute und als relative Werte.

In der aktuellen Diskussion wird nur noch von Werten gesprochen. Deshalb wird der Begriff auch hier bevorzugt. Die fast schon altertümlich wirkenden Begriffe »Tugenden« und »Pflichten« sind kaum noch gebräuchlich, obwohl sie nach wie vor notwendige Klärungen leisten. »Normen« gar sind unbehaglich und lösen Abwehr aus. Wenn Sie sich für Vertiefungen dieser Begrifflichkeiten interessieren, rufen Sie bitte folgende Webseiten auf:

1.2 Begriffe sind Interpretationen

Begriffe heißen „Begriffe", weil sie dazu dienen, Sachverhalte sprachlich-gedanklich zu „begreifen", also fassbar zu machen, so dass wir über sie nachdenken, sprechen und uns verständigen können. Deswegen sind sie weder „gleich gültig" noch beliebig, sondern Interpretationen oder - mit einem anderen Wort - Definitionen, „Abgrenzungen". Das gilt insbesondere für Begriffe mit grundlegender Bedeutung, wie es die Werte sind.

Werte oder - traditionell gesprochen - Tugenden sind nicht eindimensional, sind keine Monolithe. In unserem Bewusstsein bestehen sie vielmehr aus einem Bündel von Teilwerten bzw. Teiltugenden. Die für sie gebräuchlichen Begriffe freilich sind jeweils als Bezeichnung - die „Denotation" - scheinbar ein-deutig. Wird von Werten bzw. Tugenden gesprochen, so ist mit ihnen eine Vielzahl unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Assoziationen verbunden, die aus dem persönlichen Erfahrungshintergrund sowie dem subjektiven Verständnis des Einzelnen herrühren. Das gilt für den Sprechenden ebenso wie für den Hörenden und ist immer wieder Quelle heftigen Streites oder bitterer Missverständnisse.

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1.3 Die Konnotationen sind das Problem

Das Problem liegt also weniger in den Begriffen selbst. Vielmehr besteht es in einem ihre Konturen verhüllenden Deutungsnebel. Er bildet sich aus den stillschweigend mitgedachten und jeweils für gültig gehaltenen individuellen Interpretationen, die in vielen Fällen auf Um- und Neudeutungen hinauslaufen. Die Sprachwissenschaft stellt für diesen Sachverhalt den Fachbegriff „Konnotationen" zur Verfügung. 

Die Konnotationen sind das Problem. Sie müssen untersucht, abgeklärt, eingegrenzt und vor allem aufeinander abgestimmt werden. Dann ist es leichter möglich, sich ohne Missverständnisse darüber zu verständigen, was mit dem einzelnen Begriff jeweils bezeichnet wird und wirklich gemeint ist.
     Am Beispiel der Freiheit zeigt Wilhelm WEISCHEDEL (1977, S. 111 - 156) eindrucksvoll die kontextabhängige Vielschichtigkeit und Gegenläufigkeit  eines zentralen Wertes auf.

1.4 Werte sind Setzungen

Konnotationen ergeben sich vor allem im unbewussten, nicht reflektierten Sprachgebrauch. Werden Konnotationen bewusst, vorsätzlich oder gar willkürlich zur Geltung gebracht, kann das dazu führen, dass Werte umgewertet, abgewertet, entwertet, aufgewertet werden. Im äußersten Fall maßen sich im politischen Feld Menschen an. die Werte allgemeingültig zu interpretieren, zu bestimmen, zu setzen, so dass es zu „Wertetyrannei" kommen kann.
     Eberhard STRAUB (2000) hat deshalb davor gewarnt, die Eignung des Begriffes »Werte« zu überschätzen. Bei Beachtung dieser Warnung wird er hier und in anderen Bausteinen dennoch verwendet.

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2.0 Das Analyse-Viereck

Das als Motto gewählte Shakespeare-Zitat bedarf im Hinblick auf die folgenden Überlegungen eines Kommentars. Keineswegs ist es ein Freibrief für einen prinzipienlosen Werterelativismus. Vielmehr betont es die Verantwortung, die wir Menschen dafür haben, dass das Gute gut ist und nicht zur Rechtfertigung des Bösen dient. Die philosophische Frage, ob es einen transzendenten Urgrund des Guten gebe oder ob alle Kategorien der Ethik und der Moral Setzungen seien, bleibt davon unberührt. Sie wird auf der Webseite „Werte-Erziehung - Einführung in das Thema" behandelt und auf der Webseite „Sechzehn Thesen zur Orientierung erzieherischen Handelns" wieder aufgegriffen.

Unabhängig davon lässt sich die Spannung zwischen Normen und unterschiedlichen Auffassungen in ein Gleichgewicht bringen. Aus den in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen moralischen Überzeugungen der Menschen lässt sich ein gemeinsamer Kern gewinnen, der zu zwar minimalen, aber allgemeingültigen normativen Prinzipien führt. Mehr dazu finden Sie auf der Webseite Toleranz - Kardinaltugend der Demokratie" .

2.1 Der Grundgedanke

Zu jedem Wert gibt es einen positiven Gegenwert. Beide sind also einander paarig zugeordnet und halten einander im Gleichgewicht. Jedem der beiden Werte entspricht eine Entartungsform, eine entwertende Übertreibung. Auch sie sind einander als analoge „Un-Werte" paarig zugeordnet.

Der Grundgedanke dieser Zuordnungen wurde bereits von ARISTOTELES beschrieben. Er versteht die ethische Tugend als Gleichgewichtszustand zwischen Übertreibung und Unterlassung. Entsprechend definiert er auch die Einzeltugenden (Nikomachische Ethik II 5, 1109 a 20 ff.; III 8, 1114 b 26 ff.). Der Begriff »Mittelmaß«, der in unserem Sprachgebrauch meist abwertend oder gar geringschätzig klingt, lässt den positiven Charakter dieser Definition von Tugend nicht zur Geltung kommen.
     In unserer Zeit hat Paul HELWIG, 1936/1967, ARISTOTELS' Grundgedanken wieder aufgegriffen und vertieft. Friedemann SCHULZ VON THUN, 1989, hat daraus systematisch ein funktionales Analyseverfahren entwickelt. Rainer WINKEL (1986) leitet interessante hilfreiche Folgerungen für die Pädagogik ab.

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2.2 Anwendung und Beispiele

Das Analyseprinzip wird zunächst an einigen eher sekundären Werten vorgestellt und danach auf grundlegende Werte angewandt. Dabei zeigt sich, daß in manchen Werten mehrere Aspekte enthalten sind und mit diesem Verfahren sichtbar gemacht werden können. Das erweist sich vor allem bei der Auslegung von Grundwerten als nützlich.
     Die Darstellung deutet ein Viereck an. Die Eckpunkte oben bestehen aus dem jeweiligen Wert und seinem positiven Gegenstück, die Eckpunkte unten benennen die Entartungsformen. Durch die Diagonalen werden Wert und negativer Gegensatz, Un-Wert und positiver Gegenwert zueinander in Beziehung gesetzt. Der für sich allein unproduktive Positiv-Negativ-Gegensatz wird also nicht aufgehoben, sondern in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Die Negativdefinitionen, mit denen sich ARISTOTELES begnügen musste, werden durch deutlichere Abgrenzungen überwunden.

Insgesamt entsteht damit ein Spannungsfeld, innerhalb dessen das Zusammenspiel der vier Ausprägungen eines Wertes sowie seine Interpretationsmöglichkeiten sich dynamisch verstehen und sichtbar darstellen lassen. Darüber hinaus können Ungleichgewichte erkannt und die Richtung notwendiger Korrekturen benannt werden.

Sparsamkeit
Geiz
Freigebigkeit
Verschwendung
Pünktlichkeit
Zwangshaftigkeit
Flexibilität
Unzuverlässigkeit
Selbstbeherrschung
Erstarrung
Spontaneität
Unbeherrschtheit
Nähe
Zudringlichkeit
Distanz
Vereinsamung
Gefühlskontrolle
Gefühllosigkeit
Gefühlsausdruck
Gefühlsüberschwang
Großzügigkeit
Gleichgültigkeit
Prinzipienfestigkeit
Engherzigkeit, Rigidität
begründete Einflussnahme
dominante Überfürsorge
einfühlsame Zurückhaltung
Vernachlässigung
Freiheit
Beziehungslosigkeit
Bindung
Knebelung
Freiheit
Beliebigkeit
Verhaltenssicherheit
Erstarrung
Autonomie
Selbstherrlichkeit
Gesetzestreue
Unterwerfung
Selbstverwirklichung
Eigensucht
Gemeinsinn
Selbstaufgabe
Selbstverwirklichung
Herrschsucht
Hingabe an eine Aufgabe
Selbstentfremdung
Selbstverwirklichung
Ich-Bezogenheit
Hingabe an einen Menschen
Ich-Verlust, Selbst-losigkeit
Individualismus
Selbstisolation
Partnerschaft, Zugehörigkeit
Kollektivismus
Toleranz
Gleichgültigkeit, Indifferenz
Überzeugungsgewissheit
Ausschließlichkeitsanspruch

Das Verfahren eignet sich auch dazu, aktuelle Aufgaben von Unterricht und Erziehung zu untersuchen. Im ersten Beispiel zeigt sich, dass eine häufig erörterte didaktische Kontroverse wesentlich konstruktiver bearbeitet werden kann, als es i.d.R. geschieht.

Produktorientierung
sinnlose Faktenhuberei

Prozessorientierung
leerer Selbstzweck

Das zweite und dritte Beispiel öffnen einen Horizont, innerhalb dessen sich die Werte-Erziehung als zentrale Aufgabe des öffentlichen Schulwesens differenziert und dadurch überzeugend begründen lässt.

weltanschauliche Neutralität
Indifferenz, Standpunktlosigkeit
Wertgebundenheit
Indoktrination
Wertepluralismus
Werterelativismus
Wertmonismus
Dogmatismus

Ein weiteres Beispiel untersucht den Konflikt zwischen Anforderungen des Berufes und den persönlichen Interessen in einer Form, die beiden Polen besser gerecht wird, als es der sonst zu beobachtende eindimensionale Betrachtung möglich ist. 

pflichtgemäßer Einsatz für den Beruf berechtigte Abgrenzung des Privaten
Überlastung bis hin zur Selbstaufgabe verantwortungslose Nachlässigkeit

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2.3 Eine fernöstliche Parallele

Zu den von Aristoteles entwickelten Grundgedanken gibt es eine interessante Parallele im fernöstlichen Denken. Vermutlich im 6. Jahrhundert v.Chr. soll der chinesische Philosoph Lao-Tse alle Werte erst dadurch zu Werten haben werden lassen, dass er Liebe zu ihrer Voraussetzung machte. Wem »Liebe« zu pathetisch oder sentimental klingt, möge stattdessen Empathie oder einfach Mitmenschlichkeit denken. Er formuliert, in moderne Begriffe übertragen, wie folgt:

  • Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich.

  • Wahrhaftigkeit ohne Liebe macht kritiksüchtig.

  • Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos.

  • Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart.

  • Erziehung ohne Liebe macht widersetzlich.

  • Klugheit ohne Liebe macht gerissen.

  • Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch.

  • Ordnung ohne Liebe macht kleinlich.

  • Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch.

  • Macht ohne Liebe macht gewalttätig.

  • Ehre ohne Liebe macht hochmütig.

  • Besitz ohne Liebe macht geizig.

  • Glaube ohne Liebe macht fanatisch.

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3.0 Literaturnachweis

Aus praktischen Gründen werden alle Literaturnachweise dieses thematischen Bereiches auf der Webseite „Werte-Erziehung - Literaturgrundlage" zusammengefasst. Das entlastet die einzelne Webseite und vermeidet Wiederholungen.

4.0 Anhang: Textbelege KANT

Der Verfasser hält es für richtig, diese Würdigung mit repräsentativen Textstellen zu belegen. Die Hervorhebung stammen von ihm.

"Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen.
Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden."
     Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59 f.

"Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat, und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d.i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigem Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird.
     Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann."
Die Metaphysik der Sitten, S. 568 f.

"Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.
     Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat. Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; Witz, lebhafte Einbildungskraft und Launen einen Affektionspreis; dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt) haben einen innern Wert."
     Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68

"Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur."
     Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69

"Und hierin liegt eben das Paradoxon; daß bloß die Würde der Menschheit, als vernünftiger Natur, ohne irgend einen andern dadurch zu erreichenden Zweck, oder Vorteil, mithin die Achtung für eine bloße Idee, dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe, und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn sonst würde es nur als dem Naturgesetze seiner Bedürfnis unterworfen vorgestellt werden müssen. Obgleich auch das Naturreich sowohl, als das Reich der Zwecke, als unter einem Oberhaupte vereinigt gedacht würde, und dadurch das letztere nicht mehr bloße Idee bliebe, sondern wahre Realität erhielte, so würde hierdurch zwar jener der Zuwachs einer starken Triebfeder, niemals aber Vermehrung ihres innern Werts zu statten kommen; denn, diesem ungeachtet, müßte doch selbst dieser alleinige unumschränkte Gesetzgeber immer so vorgestellt werden, wie er den Wert der vernünftigen Wesen, nur nach ihrem uneigennützigen, bloß aus jener Idee ihnen selbst vorgeschriebenen Verhalten, beurteilte. Das Wesen der Dinge ändert sich durch ihre äußere Verhältnisse nicht, und was, ohne an das letztere zu denken, den absoluten Wert des Menschen allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch sei, selbst vom höchsten Wesen, beurteilt werden. Moralität ist also das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt. Der Wille, dessen Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille."
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 73 f.

Zitiert wird aus folgender Ausgabe:

  • Immanuel KANT
    Werke in sechs Bänden,
    herausgegeben von Wilhelm WEISCHEDEL
    Band 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie
    Darmstadt 1983

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Die zusammenfassende Literaturgrundlage für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier:  Literaturgrundlage

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 08.05.10
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