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Schule in einer Zeit
des Wertewandels und Wertekonflikts
Sechzehn Thesen
zur Orientierung erzieherischen Handelns
1.0 Der Problemhorizont
1.1 Die Situation
Die Gegenwart wird - nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa und in aller Welt - durch Ausbrüche individueller und
kollektiver Gewalttätigkeiten geprägt. Deren Heftigkeit hat geradezu atavistische
Dimensionen, und deren sachliche und psychologische Folgen sind erschreckend.
Der Sachverhalt, ohnehin beunruhigend, wird dadurch verschärft,
dass er - unabhängig von generell gegebenen Ursachen - auch in Zusammenhang mit dem
Zusammenbruch des Kommunismus zu stehen scheint. Der Sieg der Freiheit über ein
gesellschaftliches System umfassender Unterdrückung ist ein epochales Ereignis, doch er
hat offenbar eine tiefe Erschütterung ausgelöst. Kräfte sind freigesetzt worden, die in
bestürzender Rückwirkung Freiheit, Frieden und Menschlichkeit bedrohen.
Das gefährdet
nicht nur die Menschen selbst,
sondern untergräbt auch ihre ethischen Überzeugungen
und dadurch die Grundlagen ihres Handelns.
In unserem Lande erleben wir
Erscheinungen, die insgesamt als Rückfall in überwunden geglaubten Rechtsextremismus
wirken. Hier genüge die Erwähnung der Namen Hoyerswerda, Rostock und Mölln. Auf dem
Balkan haben sich blindwütige Exzesse eines übersteigerten Nationalismus ereignet, den
wir für vergangen hielten. Die Anschläge auf das World Trade Center in New York
und neuerdings auf die Schule in Beslan, Kaukasus, offenbaren
eine verstörende Mischung aus Rachedurst und gutem Gewissen, aus Mordlust und
Sendungsbewusstsein. Er konfrontiert uns mit Handlungen einer zielstrebigen Grausamkeit,
die sich sich allem Bemühen entziehen, deren Motive sach- und problemgerecht zu deuten.
1.2 Die Aufgabe der Schule
Gerade in dieser Situation sind wir alle
dazu verpflichtet, dem Verfall elementarer Gesittung entgegenzutreten. Insbesondere die
Schule und die in ihr tätigen Menschen sollten dazu einen Beitrag leisten, indem sie
Ursachen untersuchen, Zusammenhänge aufdecken und nach ihren Einsichten handeln.
Insbesondere gehört dazu, sich der Werte zu vergewissern, an denen sich unser
Handeln - im Tun wie im Unterlassen - orientieren muss.
Nur so kann ein Bewusstsein entwickelt werden, das zwischen den
Polen ratloser Resignation einerseits und unrealistischer Selbstüberschätzung
andererseits Grundlagen für sinnvolle erzieherische Handlungsmöglichkeiten gewinnt.
Auf dieser Webseite können dazu nur Ansätze geleistet werden.
Insbesondere werden hier die Konsequenzen von Wertewandel und Wertepluralismus erörtert.
2.0 Wertewandel und
Orientierungskrise
2.1 Grundsätzliche Aspekte
Alle einschlägigen Veröffentlichungen
(grundlegend z.B. Alvin TOFFLER, 1970, Ronald INGLEHART,
1989, Helmut KLAGES, 1985, 1992 und 2006, Udo di FABIO, 2005)
stimmen darin überein, dass die Gegenwart von tiefgehenden Veränderungen der
Wertorientierungen sowie den daraus folgenden Wirkungen auf Menschen und gesellschaftliche
Institutionen geprägt ist.
Die jüngsten Ereignisse machen deutlich, dass nicht nur in
unserer unmittelbaren Lebenswelt ein Wertewandel zu beobachten ist. In der globalen
Dimension begegnen sich offenkundig unterschiedliche Wertsysteme - eine Begegnung,
die nunmehr die Form eines katastrophalen Zusammenpralls angenommen hat und den Frieden in
der Welt gefährdet.
Mithin gibt es zwei Problemebenen. Weil jedoch die
Mobilität der Menschen vor allem in Westeuropa beachtliche ethnische Minderheiten hat
entstehen lassen, die aus dem islamischen Kulturkreis stammen, sind beide Ebenen eng
miteinander verschränkt.
Je nach Standpunkt wird dieser Sachverhalt lediglich neutral,
meist jedoch entweder zustimmend oder ablehnend gewertet.
Beide Positionen werden der
vielschichtigen Problematik nicht gerecht, weil sie einseitig sind. Werte sind keine
Monolithe, sondern vielschichtige Begriffe. Zu jedem Wert gibt es einen positiven
Gegen-Wert. Jedem der beiden Werte entspricht eine Entartungsform, eine entwertende
Übertreibung (schon von ARISTOTELES in seiner Nikomachischen Ethik, neuerdings von
Paul HELWIG, 1967, entwickelt und von Friedemann SCHULZ VON THUN, 1989,
ausgestaltet; vgl. auch die Webseite Einführung in
das Thema". Bemerkenswert sind die Folgerungen, die Rainer WINKEL, 1986,
für die Pädagogik zieht. Vertiefende Darstellungen finden Sie auf den Webseiten
"Tugenden oder Werte? - I. Die
Kardinaltugenden sowie Werte, Gegen-Werte, Un-Werte".
Aus diesen Überlegungen folgt
zunächst
These 1
Alle Werte sind in ein Spannungsfeld eingebettet, innerhalb dessen eine Balance gesucht
werden muss und gefunden werden kann.
Aus diesem Sachverhalt folgt eine Konsequenz; sie führt zu
These 2
Überkommene Werte büßen ihre ehemals absolute Gültigkeit im Laufe der Zeit ein,
bleiben jedoch weiterhin wichtig. Neu entstandene Werte sind keineswegs immer so eindeutig
positiv, wie es von ihren Verfechtern oft dargestellt wird, sondern können Individuum und
Gesellschaft auch gefährden. In Fortsetzung und Erweiterung von These 2 gilt
These 3
Die grundsätzlich wertende Unterscheidung von Primärtugenden (z. B. Autonomie,
Selbstverwirklichung, Emanzipation, Spontaneität) und Sekundärtugenden (z. B.
Disziplin, Gehorsam, Pünktlichkeit, Ordnung, Pflichterfüllung, Fleiß, Zuverlässigkeit)
sowie die Verabsolutierung der einen und die Geringschätzung der anderen sind
unbegründet. Im pädagogischen Feld können sie sogar Verwirrung und dadurch Schaden
anrichten. Die sog. Sekundärtugenden sind Voraussetzung der
Primärtugenden - dieser Zusammenhang darf weder verkannt noch gar
verschleiert werden.
Immer kommt es auf den größeren
Handlungs- und Wertzusammenhang an. Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite Werte, Gegen-Werte, Un-Werte".
Die vorstehenden Differenzierungen ergänzt und
begrenzt
These 4
In allem Wertewandel gibt es auch Grundwerte, die unveränderlich
gelten. Für uns sind das insbesondere die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1
und 2 GG) und die Menschenrechte (Deklaration der UNO). Deren universelle Geltung
in der globalen Dimension ist freilich strittig. Wie jedoch Karl Otto HONDRICH
jüngst ausgeführt hat (FAZ Nr. 238 vom 13. Okt. 2001) gibt es Grundwerte, die vor
allen und unabhängig von allen Kulturunterschieden gelten.
Das sind Prozesse und
Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens, denen sich niemand entziehen kann:
Das Gesetz der
Gegenseitigkeit (Wie du mir, so ich dir),
das Gesetz der Präferenz für das
Eigene,
das Gesetz der Unantastbarkeit des Heiligsten (Tabu) ..."
Und Julian NIDA-RÜMELIN
hat am 8. November 2001 die Überlegung vorgetragen, dass sich aus den in vielerlei
Hinsicht unterschiedlichen moralischen Überzeugungen der Menschen ein gemeinsamer
Kern gewinnen lasse. Daraus ergäben sich dann minimale, aber
allgemeingültige normative Prinzipien. Einzelheiten dazu finden Sie auf der
Webseite Toleranz - Kardinaltugend der
Demokratie". Der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und -pflichten
wird auf der Webseite Pflichten - Thesen zur
Wiedergewinnung einer Kategorie der Ethik" erörtert.
Neuerdings hat er (Tagesspiegel vom 17. Mai 2003) betont, "dass
es
objektiv bestehende moralische Sachverhalte gibt
und die Wahrheit dieser Sachverhalte vom erkennenden Subjekt
unabhängig ist.
Moral ist eben nicht nur Konstruktion."
Zusammenfassend formuliert:
Allen Kulturen ist die Einsicht gemeinsam, dass man anderen Menschen nicht antun
darf, was man selbst nicht zu ertragen bereit ist (Goldene Regel").
Dafür repräsentativ ist ein Zitat aus dem
alttestamentlich-deuterokanonischen Buch Tobit (4,15a):
Was
dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu."
JESUS
von Nazareth hat dieses Verhalten in seiner Bergpredigt" (Evangelium
nach Matthäus 7,12, ähnlich Evangelium nach Lukas 6,31) positiv formuliert:
Alles nun, das euch die Leute tun
sollen, das tut ihnen auch."
Arthur SCHOPENHAUER
hat in seiner Auseinandersetzung mit der Ethik Immanuel KANTs als
"wahren, reinen Inhalt aller Moral" den Grundsatz formuliert
(1977/2007, S. 35 f., S. 97, S. 110):
Neminem
laede, imo omnes, quantum potes, iuva."
Niemandem schade, vielmehr hilf allen, soweit du kannst."
2.2 Folgerungen für Erziehung
Die theologischen und philosophischen
Grundlegungen der Ethik sind komplex und kontrovers. Hier muss offen bleiben, ob die
Prinzipien der Ethik metaphysisch begründet, naturrechtlich vorgegeben oder
gesellschaftlich gesetzt sind (Vertiefungen dazu finden Sie auf den Webseiten Tugenden
oder Werte? I. Die Kardinaltugenden" sowie
Immanuel KANT - Der kategorische Imperativ). Das
ändert jedoch nichts an der Aufgabe der Schule, jungen Menschen Orientierungshilfe zu
geben. Dafür gilt grundsätzlich die folgende
These 5
Wertepluralismus kann nicht die Notwendigkeit außer Kraft setzen, dass Werte und
die aus ihnen folgenden Standards den Kern jeder Kultur bilden. Ohne Orientierung an
Werten, die als verbindlich anerkannt werden und beliebiger Ausdeutung entzogen sein
müssen, ist eine sittliche Existenz nicht möglich.
Wertepluralismus besteht also nicht in
Unverbindlichkeit, sondern führt zu Respekt vor anderen Wertorientierungen. Wer jedoch
alle Wertorientierungen für gleich gültig hält, dem ist am Ende jede
Wertorientierung gleichgültig. Paul NOLTE hat dafür
kürzlich den Begriff "Totaler Pluralismus" geprägt und
eindringlich auf dessen zerstörerische Wirkungen hingewiesen (Tagesspiegel
vom 25. Juli 2004).
Für verantwortliches erzieherisches Handeln folgt aus diesen
Thesen als Nutzanwendung
These 6
Unterricht und Erziehung müssen dazu beitragen, dass junge Menschen die
spannungsreiche Vielschichtigkeit von Werten nicht nur erkennen, sondern Werte auch als
eine sie bindende Richtschnur ihres Handelns annehmen.
Erwachsen zu sein heißt auch, die Spannung zwischen polaren
Werten und Gegen-Werten auszuhalten und eine Balance zwischen ihnen zu suchen, vor allem
aber die entwertende Übertreibung eines jeden Wertes zu vermeiden.
Damit Schule diese Aufgabe leisten kann, bedarf es einer
tragfähigen Grundannahme über die Natur des Menschen sowie über die Voraussetzungen,
mit denen Kinder in die Schule eintreten; sie wird formuliert in
These 7
Junge Menschen sind weder reine Seelen noch hoffnungslose Fälle. Ein
realistisches Menschenbild verzichtet auf idealistische Überhöhungen und akzeptiert
Fehlhaltungen, ohne sie für moralische oder ethische Defekte zu halten. Andererseits ist
deren bedauernswertes Vorkommen kein hinreichender Grund, erzieherische Bemühungen von
vornherein für erfolglos, also für sinnlos zu halten und deswegen gar nicht erst zu
versuchen.
Entsprechendes Handeln in Unterricht und Erziehung macht es
erforderlich, auch die Aufgaben von Schule mehrdimensional, als Balance zwischen
gleichberechtigten Polen zu verstehen.
Dazu
These 8
Schule ist sowohl den jungen Menschen und deren Förderung als auch der
Gesellschaft und deren Ansprüchen verpflichtet. Schule hat nicht nur die Aufgabe, die
überkommene Kultur zu bewahren, sondern auch zu deren weiterer Entwicklung beizutragen.
Sie dient also sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft.
Betrachtet man allein den jungen Menschen und seine Ansprüche an
verantwortliches pädagogisches Handeln, so zeigt sich wiederum eine doppelte
Verpflichtung.
Das führt zu
These 9
Schule muss die jungen Menschen dazu befähigen, ihr zukünftiges Leben
erfolgreich und würdig zu gestalten und zu bestehen. Sie darf sie aber auch um dieses
Zieles willen nicht dazu zwingen, auf das positive Erleben der Gegenwart zu verzichten.
Die letzten beiden Thesen veranlassen zu Folgerungen, die in
Unterricht und Erziehung den Umgang mit jungen Menschen bestimmen sollten; sie werden
formuliert in
These 10
Lehrer und Erzieher dürfen ihren Willen auch im Namen höherer oder besserer
Einsicht nicht rigoros oder verständnislos durchsetzen. Umgekehrt dürfen sie junge
Menschen nicht sich selbst überlassen, sondern müssen auch dazu bereit sein, ihnen Ziele
zu setzen, Normen und Grenzen aufzuzeigen und Widerstand zu leisten. Verantwortliche Erziehung darf
sich weder zu Zwang und Überwältigung verhärten noch in Beziehungslosigkeit und
Vernachlässigung auflösen. Zuwendung darf weder von ausdrücklichen noch von
unausgesprochenen Bedingungen abhängig sein.
Zieht man die Summe aus den in der wissenschaftlichen Literatur
und in der seriösen Publizistik vorgetragenen Befunden sowie den vorstehenden
Ausführungen, so führt das zu
These 11
Die Vorgänge und Entwicklungen in der Gesellschaft machen Erziehung immer
nötiger, doch lassen sie sie zugleich immer schwieriger werden.
Dennoch eine Ermutigung in Form von
These 12
Die in den vorstehenden Thesen dargestellten Spannungen sind nicht nur eine
Belastung, sondern auch eine Aufforderung und eine Chance zu deren produktiver Gestaltung.
3.0 Konkretes Handeln in
Unterricht und Erziehung
3.1 Vorbemerkung
Die vorstehenden Thesen haben lediglich
den Charakter von Leitlinien. Für die tägliche Arbeit in Unterricht und Erziehung
bedürfen sie der Operationalisierung. Das ist ohne Bezug auf konkrete Situationen und auf
begrenztem Raum nur schwer zu leisten, soll jedoch wenigstens in Ansätzen versucht
werden.
Vorab dazu
These 13
Erzieherisches Verantwortungsbewusstsein darf seine Möglichkeiten direkter
Beeinflussung nicht überschätzen und muss deshalb Pädagogisierung"
(Hermann GIESECKE) vermeiden. Nicht Einwirkungen werden erfolgreich sein, sondern die
Authentizität und Überzeugungskraft des erzieherischen Vorbildes - kurz gesagt, die
personale Autorität.
Gerade Lehrer werden immer wieder mit der Frage nach dem
Sinn konfrontiert.
Dazu Überlegungen in
These 14
Der gläubige Christ findet die Antwort auf die Frage nach dem Sinn in seinem
Glauben an Gott, an dessen Schöpfung und Weltordnung. Zweifelhaft bleibt, ob das in jeder
konkreten erzieherischen Situation tragfähig sein kann. Auch der nicht gläubige Schüler
hat Anspruch auf eine Antwort, und der nicht gläubige Lehrer muss antworten können.
Deswegen der Versuch eines Hinweises:
Die Neigung, in allen Geschehnissen einen »Sinn« oder eine
»Bestimmung« zu suchen, ist zutiefst menschlich (Nicolai HARTMANN 1966, S. 13) und
beruht wahrscheinlich auf der Struktur des Gehirns (Bas KAST 2003, S. 120). Dennoch ist
Sinn womöglich nicht als eine jenseitige und auffindbare Größe vorgegeben, sondern
folgt aus den Aufgaben, die dem Menschen in dieser Welt gestellt sind. Die Frage nach dem
Sinn kann - und muss - also durch eigene Wertentscheidungen beantwortet
werden. Sinnstiftung müssen wir mithin selbst leisten.
Der Philosoph Nicolai HARTMANN hat das in die Formel
gebracht (1955, S. 265):
Nicht Glück
ist das Sinngebende,
sondern Sinnerfüllung ist das Beglückende."
Weniger pointiert, doch gerade in der
Schlichtheit der Formulierung bewegend, schreibt der Philosoph Hans REINER (1987,
S. 46):
Jedem
Menschen ist in die Hand gegeben und nahegelegt,
durch das Tun des Guten
sein Dasein zu einem sinn- und wertvollen Dasein zu machen."
Das Gute zu tun, ist jedoch nicht
nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Pflicht.
Im Neuen Testament, (Brief des Jakobus 4, 17) heißt es:
Wer nun
weiß, Gutes zu tun, und tut's nicht, dem ist es Sünde."
Was bedeutet »Sünde«
in moderner Sprache? Dass ein Mensch seinen Aufgaben nicht nachkommt,
seine menschlichen Pflichten nicht erfüllt.
Der berühmte Physiker
Albert EINSTEIN hat das wie folgt konkretisiert:
Der Mensch kann in seinem kurzen und
gefahrenreichen Leben einen Sinn nur finden,
wenn er sich dem Dienst an der Gesellschaft widmet.
Der Theologe Klaus-Peter
JÖRNS (2001) formuliert:
Der
Sinn des Lebens ist keine abstrakte Größe und kein über dem Leben
ausgerufener Zweck (wie Arbeit, Fruchtbarkeit etc.), dem das Lebens
dienstbar gemacht werden müsste. Der Sinn des Lebens liegt im Geflecht
der Lebensbeziehungen selbst."
Detlef W. PROMP (1990,
S. 111) sieht den Sinn des Lebens im Leben selbst und dessen Fortsetzung:
Alle heute lebenden Menschen sind
durch eine ununterbrochene Kette von Vorfahren direkt mit dem Ursprung des Lebens auf der
Erde vor ca. 4 Milliarden Jahren verbunden. [...] Aus dem Faktum des ununterbrochenen
Lebensstroms lässt sich ableiten, dass das elementarste biologische Interesse das
Interesse an der Fortführung des Lebensstroms sein muss."
Die radikalste Position nimmt der
Kulturphilosoph Theodor LESSING (1916/1927) ein. Er versteht Geschichte als
Sinngebung des Sinnlosen".
Friedrich NIETZSCHE akzentuiert diesen Aspekt
mit der Feststellung:
Wie weit man
in einer sinnlosen Welt zu leben aushält,
hängt davon ab, daß man ein kleines Stück von ihr organisiert."
(Zitiert nach Wilhelm WEISCHEDEL 1972 a, S.446).
Ein völlig anderen Blick auf die
Sinnfrage eröffnet ein chinesisches Sprichwort (zitiert nach Daniel DETTLING,
Tagesspiegel vom 10. März 2002):
Wer nach dem
Sinn des Lebens sucht,
hat ihn längst verloren."
Diese ambivalente Einsicht legt mehrere
Deutungen nahe. Sollte die Aussage zutreffen, dann ist es notwendig und lohnend,
sich auf die Suche zu machen.
Fündig können Sie vor allem bei den
folgenden Autoren werden.
Eine systematisch-knappe, dabei informative Darstellung der
Sinnfrage gibt Wilhelm WEISCHEDEL (1982 b, S. 164 - 174) in dem Kapitel Das
Philosophieren zwischen Sinngewißheit und Nihilismus".
Tiefschürfend und klärend erörtert Helmut GOLLWITZER
(1971) die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dabei ist hilfreich, dass der Autor nicht
lediglich Glaubensgewissheiten verkündet, sondern die Gebrochenheit unserer Zeit
aufgreift.
Und kein geringerer als Max HORKHEIMER schreibt
(Kritik der instrumentalen Vernunft, 1967, S. 227):
"Einen
unbedingten Sinn zu retten, ohne Gott, ist eitel."
Hinzuweisen ist vor allem auf die Arbeit der
Schweizer Professorin Tatjana Schnell. In ihrem Buch »Psychologie des Lebenssinns« bereitet sie
die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Untersuchungsergebnis für die
Aufgaben konkreter Lebensführung systematisch und aspektreich auf. Ihre
Arbeit wird auch im Internet
dokumentiert.
Die
Sinnfrage wird ferner von den nachstehenden Autoren erörtert:
-
Julian
BAGGINI
Der Sinn des Lebens
München 2005
-
Volker
GERHARDT
Der Sinn des Sinns
Versuch über das Göttliche
München 2014
-
Christoph
FEHIGE - Georg MEGGLE - Ulla WESSELS (Hrsg.)
Der Sinn des Lebens
München 2002, 4. Auflage
-
Terry
EAGLETON
Der Sinn des Lebens
Berlin 2008
-
Viktor E. FRANKL
Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn
Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk
München 1982
-
Nicolai HARTMANN
Sinngebung und Sinnerfüllung
Blätter für Deutsche Philosophie 1934
abgedruckt in:
Kleine Schriften I S. 245 - 279
Berlin 1955
-
Hans
KÜNG
Der Anfang aller Dinge
Naturwissenschaft und Religion
München 2005
-
Markus RÜTHER
Sinn im Leben: eine ethische Theorie
Frankfurt am Main 2023
-
Tatjana
SCHNELL
Pychologie des Lebenssinns
Heidelberg 2020, 2. Auflage
-
Hans
SCHOLL
Grundlinien einer systematischen Theologie
Aus philosophischer Sicht
Frankfurt am Main, Berlin 2008
-
Paul TIEDEMANN
Über den Sinn des Lebens
Die perspektivische Lebensform
Darmstadt 1993
- Christian WOLF
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Einige Erwägungen zum Thema anlässlich des Sonntagsgesprächs
der Universität Leipzig am 21. November 2004
http://www.uni-leipzig.de/sonntag/ws0405/041121_wolff.pdf
Weitere einschlägige Titel
enthält das zusammenfassende Literaturverzeichnis. Abschließend noch ein Hinweis auf Befunde der Gehirnforschung.
Ob Menschen für die Sinnfrage offen sind, hängt womöglich von den erzieherischen
Bedingungen ab, die auf die Entwicklung ihrs Gehirns eingewirkt haben. Mehr dazu finden
Sie auf der Webseite "Anlage
oder Umwelt? - Anlage und Umwelt! Befunde der Neurowissenschaften".
3.2 Empfehlungen und Anregungen
1. |
Den Schülern
sollten systematisch Chancen für Erfolgserlebnisse vermittelt werden; nichts ist so
erfolgreich wie der Erfolg. |
2. |
Die Schüler
sollten erleben, dass ihnen Leistungen zugetraut und ihre Leistungen anerkannt werden.
Fehlleistungen sollten weder überbewertet noch herausgestellt werden. |
3. |
Wir Lehrer
sollten wissen und berücksichtigen, dass alle - also auch junge - Menschen sich selbst
als die Urheber ihrer Handlungen erleben möchten. Direkte erzieherische Einflussnahme
kann also sehr schnell paradoxe Wirkungen auslösen. Deshalb sollten wir Schülern
möglichst viel Gelegenheit zu eigenverantwortlichem Handeln geben und notwendiges
erzieherisches Handeln weitgehend indirekt gestalten. |
4. |
Wir Lehrer
sollten gewünschtes Verhalten (im weitesten Sinne des Wortes) bekräftigen und dadurch
fördern, unerwünschtes Verhalten jedoch - soweit nicht eine Intervention zwingend
erforderlich ist - übersehen. Loben und Anerkennen sind produktiver als Tadeln und
Kritisieren. |
5. |
Bei unserem
Verhalten sollten wir bedenken, dass wir Lehrer - im Positiven wie im Problematischen -
als Modelle wirken. Unsere Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass unser Handeln mit
unserem Reden übereinstimmt. |
6. |
Die Schüler
sollten erleben, dass ihre Lehrer Zuwendung und Anerkennung nicht von guten Leistungen und
stets einwandfreiem Verhalten abhängig machen. Junge Menschen brauchen Zuwendung oft dann
am meisten, wenn sie sie am wenigsten verdienen. |
7. |
Die Schüler
sollten nicht nur in der Entwicklung ihrer intellektuellen Kompetenz unterstützt, sondern
vor allem auch darin bestärkt werden, Beherrschung ihrer Affekte und Emotionen als eine
lohnende Aufgabe anzusehen. Beides hängt zusammen, denn Selbstbeherrschung setzt
Urteilsfähigkeit voraus, Autonomie und Emanzipation gründen auf Selbstbeherrschung. |
8. |
Die Schüler
sollten in ihren Zukunftsängsten nicht bestärkt, sondern trotz aller Ungewissheiten und
Bedrohungen zu einer positiven Haltung ermutigt werden. Sie brauchen dazu
Gesprächspartner, die sie ernst nehmen, ihnen Orientierungshilfen geben und sie bei einer
realistischen Zukunftsplanung unterstützen. |
9. |
Die Schüler
sollten nicht nur im Unterricht, sondern auch in künstlerischen und sozialen Vorhaben
Gelegenheit zu verantwortlichem Handeln für die eigene Person und andere Menschen
erhalten. Verantwortung schließt auch ein, für Fehlverhalten einzustehen und Schaden,
den man angerichtet hat, auszugleichen. Ferner besteht Verantwortung auch darin,
Konsequenzen eigenen Handelns auf sich zu nehmen; Lehrer sollten sie ihren Schülern nicht
abnehmen wollen, sondern sie bei deren Bewältigung unterstützen. |
10. |
Umfang und
Abstraktionsgrad der im Unterricht vermittelten Inhalte können die Schüler die Beziehung
zum Sinn ihres Lernens verlieren lassen. Deshalb sollten Gelegenheiten gesucht und genutzt
werden, Bezüge zur täglichen Lebenswelt herzustellen; dabei ist es besser, sie dies
erleben zu lassen, als sie lediglich zu belehren. |
11. |
Schule ist mehr
als eine Stätte, in der Schüler lediglich den Unterricht absitzen. Trotz begrenzter
Mittel und intensiver Raumnutzung sollten Möglichkeiten gesucht werden, Schüler die
Schule auch als einen erfreulichen Lebensraum erfahren zu lassen. |
These 15
Wertepluralismus und Toleranz werden falsch verstanden, wenn man sie als Alibi
für Hedonismus und Privatismus, für Verantwortungslosigkeit und moralischen Minimalismus
missbraucht. Sie begründen auch
keinen Werterelativismus, sondern setzen vielmehr Urteilsvermögen, starken Charakter und
ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein voraus. Bei den Schülern zu deren Entwicklung
beizutragen ist eine zentrale Aufgabe von Erziehung.
Hinweise und Anregungen für eine didaktisch wirksame Vermittlung
der Werteproblematik finden Sie auf der Webseite Werte,
Gegen-Werte, Un-Werte".
Diese Überlegungen münden in die abschließende
These 16
Werte haben sich gewandelt und werden sich auch weiterhin wandeln, dennoch sind
sie unentbehrlich. Verantwortliche Lebensgestaltung und die dazu befähigende Erziehung
sind nur möglich, wenn sie ihre Grundlage, ihr Fundament, in einer Wertordnung finden,
deren Zentrum die Würde des Menschen (Details bei Hubert CANCIK 1998) ist.
Wertorientierte
Erziehung ist demnach immer
Erziehung zur Achtung vor dem Anderen.
Wie junge Menschen
entsprechende Anregungen aufgreifen und verarbeiten, wird auf der Webseite
Zehn Gebote für den Umgang mit Menschen" dokumentiert.
4.0
Literaturnachweis
Aus praktischen Gründen werden alle
Literaturnachweise dieses thematischen Bereiches auf der Webseite Werte-Erziehung
- Literaturgrundlage"
zusammengefasst. Das entlastet die einzelne Webseite und vermeidet Wiederholungen.
Dennoch sei schon hier auf eine Veröffentlichung aufmerksam
gemacht, weil sie das zentrale erzieherische Thema von Freiheit und Verantwortung aspektreich
aufbereitet und für den Unterricht unmittelbar zugänglich macht.
- Monika SÄNGER
Freiheit und Determination
21 Arbeitsblätter mit didaktisch-methodischen Kommentaren
Stuttgart 2000
In den »Bausteinen«
finden Sie weiterführende Erörterungen zu dieser Thematik auf der
Webseite
"Erziehung zu Verantwortung - Handreichung zum Problem des freien
Willens".
Besondere Beachtung verdient auch der
folgende Titel, weil die Bedeutung, aber auch Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Werte
nüchtern, tiefschürfend und problemnah erörtert werden.
- Wilhelm WEISCHEDEL
Skeptische Ethik
Frankfurt am Main 1977, 2. Auflage
Die geistesgeschichtlichen
Grundlagen der Wertordnung des Grundgesetzes finden Sie dargestellt bei
-
Hubert
CANCIK
»Die Würde des Menschen ist unantastbar«
Religions- und philosophiegeschichtliche Anmerkungen zu Art. 1, Satz 1
GG
in:
Antik - Modern
Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte
Stuttgart 1998, S. 267 - 291
-
ders.
Gleichheit und Freiheit
Die antiken Grundlagen der Menschenrechte
in:
Antik - Modern
Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte
Stuttgart 1998, S. 293 - 315
Wenn Sie sich zu
Grundfragen der Ethik übersichtliche und substanzielle Informationen
suchen, greifen Sie zu folgenden Titeln:
Speziell für junge
Menschen unserer Zeit ist folgender Titel gedacht:
Die
zusammenfassende Literaturgrundlage
für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier: Literaturgrundlage
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am:
14.05.24
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