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Ich und Persönlichkeit
Ihre Entwicklung in der
Sicht der Neurowissenschaften
Übersicht
1.0 Was ist der
Mensch?
2.0 Das Ich - Funktionen und Leistungen
2.1 Vorläufer
2.2 Die acht Ich-Zustände
2.3 Die Entwicklung des Ichs
2.4 Die Funktionen des Ichs
3.0 Die Ausbildung der Persönlichkeit
3.1 Sachverhalte
3.2 Folgerungen
4.0 Literaturnachweis
1.0 Was ist der
Mensch?
Eine alte Antwort gibt der griechische
Dichter PINDAROS (Pythische Gedichte 8, 95 f.):
"Eintagsfliegen.
Was ist er? Was ist er nicht?
Eines Schattens Traum -
der Mensch."
In schroffem Gegensatz zu dieser
resignativ-pessimistischen Sicht steht das christlich geprägte Verständnis vom Menschen.
Hier ist der Mensch - in plakativer Verkürzung - das Ebenbild Gottes.
Die Entwicklung des Menschenbildes im
europäischen Denken kann hier nicht weiter verfolgt werden. Vier Bilder vom Menschen,
wie sie im wissenschaftlichen Denken des 20. Jahrhunderts entworfen worden sind, sollen
jedoch vorgestellt werden,. Die Darstellung folgt in ihrer Pointiertheit Gerhard ROTH
(2001 b, S. 20 - 68). Er fasst sie wie folgt zusammen (S. 68):
-
Für den orthodoxen Behaviorismus
sind Tiere und Menschen lernende Automaten, die nur durch externe Ereignisse und nicht
durch interne Faktoren (Wünsche, Motive, Triebe, Denken Einsicht) gesteuert werden. Sie
passen sich der Umwelt vollkommen an und sichern dadurch ihr Überleben.
-
Bei Sigmund FREUD ist der
Mensch als bewusstes Ich ein Spielball zwischen Realität, Es und Über-Ich
und damit einer Instanz, die nicht weiß, was mit ihm und in ihm geschieht.
-
Nach Konrad LORENZ werden
Menschen und Tiere von Trieben und Instinkten gesteuert und sind stets durch Triebstau
gefährdet, dem man nur durch kompensatorische Aktionen entgeht.
-
Soziobiologie und
Verhaltensökologie schließlich betrachtet Tiere und Menschen als Vehikel
egoistischer Gene, die im Laufe der Evolution immer raffiniertere Programme für ihre
eigene Vermehrung entwickeln.
Der krasse Reduktionismus dieser
Positionen löst die Frage aus, ob moderne Wissenschaft differenziertere und dadurch
überzeugende Erkenntnisse gewonnen hat, ohne dabei ihre strengen Kriterien preiszugeben.
Das scheint in den Neurowissenschaften der Fall zu sein.
Die darauf antwortende Darstellung beruht
im Wesentlichen auf Gerhard ROTH (2001 b).
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2.0 Das Ich -
Funktionen und Leistungen
2.1 Vorläufer
Als erster Gelehrter des europäischen
Kulturkreises hat der griechische Philosoph PLATON eine Seelenlehre entworfen, die
unterschiedliche Seelenteile mit jeweils unterschiedlichen Funktionen annimmt
(Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite "Das Gespann - PLATONs Gleichnis von
der Seele".
In der Neuzeit hat David HUME
vermutet, das Ich stelle ein Bündel unterschiedlicher Zustände dar (ROTH a,a,O. S. 325).
Diese Vorstellung ist von der modernen Hirnforschung bestätigt worden.
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2.2 Die acht
Ich-Zustände
Roth (a.a.O., S. 325 f.) beschreibt acht
Ich-Zustände. Sie lassen sich - Forschungsergebnis von Erkrankungen des Gehirns -
unterschiedlichen, dabei jedoch überlappenden Netzwerken kortikaler und subkortikaler
Zentren zuordnen. Allgemein gilt, dass emotionale Ich-Komponenten eher in der rechten,
kognitive und sprachvermittelte eher in der linken Hirnhälfte angesiedelt sind.
Folgende Ich-Zustände lassen sich
benennen:
-
Das Körper-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, dass der Körper, in dem ein Mensch steckt, sein
Körper ist.
-
Das Verortungs-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, sich gerade an diesem Ort und nicht woanders zu
befinden.
-
Das perspektivische Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, den Mittelpunkt der von ihm erfahrenen
Welt zu bilden.
-
Das Ich als Erlebnissubjekt
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, er selbst habe Wahrnehmungen, Ideen,
Gefühle, und nicht etwa ein anderer.
-
Das Autorschafts- und Kontroll-Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, dass er Verursacher und Kontrolleur
seiner Gedanken und Handlungen ist.
-
Das autobiographische Ich
gewährleistet dem Menschen das Bewusstsein, auch heute derjenige zu sein, der er
gestern war, und lässt ihn in seinen verschiedenen Empfindungen Kontinuität erleben.
-
Das selbst-reflexive Ich
macht es möglich, dass der Mensch über sich selbst nachdenkt.
- Das ethische Ich - das Gewissen -
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, es gebe in ihm eine Instanz, die ihm
sagt oder befiehlt, was er zu tun und zu lassen habe.
Diese vielen »Iche« erleben wir in
aller Regel als ein einheitliches Ich. Gleichzeitig empfinden wir jedoch ein Auf und Ab
der unterschiedlichsten Selbst-Empfindungen, in denen von einem Moment auf den anderen das
Körperliche, das Perzeptive, das Emotionale oder das Kognitive vorherrscht. Die
verschiedenen Ich-Zustände verbinden sich in ständigem Wechsel miteinander und schaffen
so den "Strom der Ich-Empfindung" (ROTH (a.a.O., S. 327).
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2.3 Die
Entwicklung des Ichs
Nach der Geburt entwickelt sich das Ich
in vier Phasen:
- Unterscheidung des eigenen Körpers von
der Umwelt
- Wahrnehmung eigener Handlungen als Auswahl
unter verschiedenen Möglichkeiten
- Fähigkeit, sich im Spiegel erkennen zu
können
- Entwicklung der Fähigkeit zu sprechen
2.4 Die
Funktionen des Ichs
Das Ich ist das Zentrum einer
virtuellen Welt, die wir als unsere Erlebniswelt erfahren - als Wirklichkeit.
Diese erlebte und als authentisch empfundene Wirklichkeit kann sich durchaus von der Realität
unterscheiden (vgl. dazu Roth 2001 a, S. 314 - 338, insbesondere S. 334). Viele Jahre
hindurch wird sie in mühevoller Arbeit konstruiert. Sie besteht aus Wahrnehmungen,
Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühlen, Wünschen und Plänen, die unser Gehirn
hat. So bildet sich allmählich ein Ich heraus, das sich zunehmend als vermeintliches
Zentrum der Wirklichkeit und als handelndes Subjekt erfährt.
Dennoch handelt es sich um eine Illusion.
Wahrnehmungen, Gefühle, Intentionen und motorische Akte sind zeitlich längst entstanden,
bevor sich das Ich entwickelt. Das Ich ist auch nicht der große Steuermann,. als das es
sich empfindet. Das alles führt zu der Frage, welche Funktionen das Ich
hat.
ROTH beantwortet sie, indem er folgende drei Funktionen nennt
(a.a.O., S. 339):
-
Zuschreibungs-Ich
Das Gehirn wird zu einer kortikalen Erlebniseinheit. Dadurch bildet sich
Identität aus. Dieser Prozess ist stark an die Ausbildung eine autobiographischen
Gedächtnisses gebunden.
-
Handlung-Ich bzw. Willens-Ich
Eine virtuelle Instanz entsteht, die sich Intentionen, Absichten, und
Handlungsfähigkeit zuschreibt. Ohne sie wäre eine effektive Handlungssteuerung schwierig
oder gar nicht möglich.
- Interpretations- und
Legitimations-Ich
Das bewusste sprachliche Ich fügt die eigenen Handlungen vor sich selbst und
insbesondere vor der sozialen Umwelt zu einer plausiblen Einheit zusammen und rechtfertigt
sie.
Eine Eigenart des Ichs
muss hier herausgestellt werden: Die Existenz seines Produzenten, des Gehirns, vermag es
nicht wahrzunehmen. Nur weil das so ist, vermag das Gehirn die komplexen Leistungen zu
vollbringen, die es vollbringt.
"Die Wirklichkeit und ihr
Ich sind Konstruktionen, welche das Gehirn in die Lage versetzen, komplexe Informationen
zu verarbeiten, neue, unbekannte Situationen zu meistern und langfristige Handlungsplanung
zu betreiben. [...] Erst die Entwicklung eines selbstbewussten Ich macht den Menschen zu
einem hochflexiblen Akteur." (ROTH (a.a.O., S. 340)
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3.0 Die
Ausbildung der Persönlichkeit
3.1
Sachverhalte
ROTH (a.a.O., S. 341 f.) nennt auf der
Grundlage der einschlägigen Fachliteratur fünf Grundfaktoren, die eine Persönlichkeit
bestimmen - die sog. »Big five«:
- Extraversion
- Verträglichkeit
- Gewissenhaftigkeit
- Neurotizismus
- Offenheit für Erfahrungen
ROTH betont (a.a.O., S. 342):
Eine
Persönlichkeitspsychologie, die
interindividuelle Unterschiede nicht nur beschreiben, sondern auch erklären will, muss
auch an der biologischen Basis des Verhaltens ansetzen.
Wie die Anteile und das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt
gesehen werden, wird auf folgenden Webseiten im Einzelnen erörtert:
Hier ist festzuhalten:
Aus heutiger biologischer Sicht formen mehrere Faktoren die Persönlichkeit:
- Erster Faktor
sind zweifellos die von den Eltern geerbten Gene. Das Gewicht dieses Faktors ist
nach wie vor unklar. Niemand weiß genau, was ein Gen oder einer Gruppe von Genen für die
Leistungen des Gehirns besitzt. Das gilt vor allem für komplexe kognitive und emotionale
Eigenschaften des Individuums.
- Ein zweiter
wichtiger Faktor sind die Umwelteinflüsse, die auf die auf das Gehirn des
Embryos und Fötus einwirken.
- Ein dritter
und besonders wichtiger Faktor sind die Erlebnisse des Neugeborenen in den ersten
Stunden, Tagen, Wochen, Monaten nach der Geburt.
Das alles ist qualitativ nicht zu
bezweifeln, aber quantitativ schwer abzuschätzen und experimentell nicht zu überprüfen.
Nur indirekte Rückschlüsse, wie sie vor allem in der Zwillingsforschung gezogen werden,
sind möglich.
ROTH referiert die einschlägigen
Forschungsergebnisse und fasst sie - mit aller gebotenen Vorsicht - wie folgt zusammen
(a.a.O., S. 353 f.):
- Im strengen Sinne scheint die
Persönlichkeit zu 40 bis 50 Prozent genetisch programmiert zu sein.
- Ca. 30 bis 50 Prozent gehen auf Prägungs-
und Erlebnisprozesse in den ersten fünf Lebensjahren zurück.
- Nur zu etwa 20 Prozent scheint die
Persönlichkeitsstruktur durch spätere Erlebnisse, insbesondere durch elterliche und
schulische Erziehung beeinflusst zu werden.
- Allgemein scheint zu gelten:
Eine Persönlichkeit reift eher aus, als sich aufgrund von Umwelterfahrungen in ihrem
Kern zu ändern. Sie sucht sich eher die Umwelt, die emotional zu ihr passt, als sich
an eine Umwelt anzupassen.
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3.2 Folgerungen
Die hier vorgestellten
Forschungsergebnisse widerlegen sowohl die Anhänger eines starren genetischen
Determinismus als auch die Bannerträger eines allumfassenden pädagogischen
Sendungsbewusstseins.
Das mag beide Seiten enttäuschen. Für eine realistische und
zugleich ihrer Verantwortung bewusste Erziehungspraxis in Elternhaus, Kindergarten und
Schule eröffnet sich jedoch ein weites und in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes
Tätigkeitsfeld. Mit Recht haben seinerzeit Heinrich ROTH, Detlef W. PROMP
und letzthin Wolf SINGER die zentrale Bedeutung pädagogischen Handelns
herausgestellt.
Nur wenige Kinder können ohne unsere
Hilfe "werden, was sie sind", wie es PINDAROS, den Spruch von
Apollon-Tempel zu Delphi ausdeutend, fordert (vgl. dazu die Webseite "»Entwicklung« - Annäherung an das Thema").
Fast alle sind sie auf einfühlsame und klug ermutigende, auf altersgerechte und
verläßliche Erziehung angewiesen. Wir Lehrer haben eine große Aufgabe.
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4.0
Literaturnachweis
- Joseph LeDoux
Das Netz der Persönlichkeit
Wie unser Selbst entsteht
Düsseldorf 2003
- Gerhard ROTH
Das Gehirn und seine Wirklichkeit
Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen
Frankfurt am Main 1994, 6. Auflage 2001 (a)
- ders.
Fühlen, Denken, Handeln
Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
Frankfurt am Main 2001 (b)
Ein zusammenfassendes
Literaturverzeichnis für die Themengruppe "Entwicklungspsychologische Grundlagen des
Unterrichts" finden Sie auf der Webseite "Literaturgrundlage".
Dort
wird auch eine Folge von Aufsätzen vorgestellt, die Ergebnisse der
Hirnforschung auf die Frage nach der menschlichen Persönlichkeit und ihrer
Entstehung anwendet.
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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