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Entwicklung der
Persönlichkeit -
eine Abfolge »psycho-sozialer
Krisen«
Übersicht
1.0 Erik H. ERIKSON »Identität«
1.1 Einführung
1.2 Was sind »Krisen«?
1.3 Identität
2.0 Die Stadien von Identität
2.1 Die Übersichtsgraphik
2.2 Der Grundgedanke
2.3 Die Phasen des Lebenszyklus
2.4 Vorläufer der Identität
2.5 Die Entfaltung der Identität
2.6 Für jede Phase ein charakteristisches
Motto
3.0 Literaturnachweis
1.0 Erik H.
ERIKSON »Identität«
1.1 Einführung
Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Erik
H. ERIKSON (1902 - 1994) hat sich Zeit seines Lebens mit der Entwicklung der
menschlichen Persönlichkeit auseinandergesetzt. ERIKSON - Schüler und Freund Sigmund
FREUDs - hat dessen Einsichten zur Psychoanalyse eigenständig weiterentwickelt
und vertieft. Er versteht jedoch die Entwicklung der Persönlichkeit im Gegensatz zu FREUD
als einen Prozess, der das ganze Leben eines Individuums andauert und in einen
vielschichtigen sozialen bzw. gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist.
ERIKSON sah den Mittelpunkt seiner Arbeit
darin, die Entwicklung der Identität des Individuums zu verstehen und verständlich zu
machen. Seine Auffassungen hat er nicht spekulativ gesetzt, sondern aus seinen
umfangreichen Erfahrungen als Kindertherapeut empirisch abgeleitet. Weil er mit Störungen
der seelischen Entwicklung befasst war, ist es verständlich, dass er die Entwicklung der
Identität als eine Abfolge »psycho-sozialer Krisen« interpretiert. Sein
Einfühlungsvermögen und seine konstruktive Haltung ließen ihn zum »Pionier des
Urvertrauens« werden - diesen Ehrentitel verlieh ihm Katharina Rutschky (1994)
in ihrem Nachruf.
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1.2 Was sind
»Krisen«?
In der Umgangssprache hat der Begriff
»Krise« einen negativen Klang .Das kann den Zugang zu ERIKSONs Einsichten verstellen.
Sein Sprachgebrauch knüpft jedoch an einen Fachbegriff der (altgriechischen) Medizin an.
Allgemein gesprochen, ist eine »Krise« der Moment, in dem sich entscheidet, ob eine
Entwicklung erfolgreich verläuft oder misslingt.
1.3 Identität
ERIKSON hat seine
Einsichten zur Identität und ihrer Entwicklung immer wieder modifiziert und in
entsprechenden Diagrammen zusammengefasst. Einige seiner Grundgedanken werden im Folgenden
wiedergegeben. Sie beruhen vor allem auf dem aussagestärksten Diagramm (ERIKSON 1969, S.
285). Identität erweist sich in dessen Darstellung als ein komplexes und differenziertes
Beziehungsgeflecht.
Die technischen Grenzen des Medium lassen es leider nicht zu, die
inhaltlichen Aussagen dieses Diagramms hier in der originalen Form zu präsentieren.
Deswegen soll eine Übersichtsgraphik wenigstens dessen Struktur sichtbar
machen. Die wesentlichen Aussagen des Diagramms werden sodann als gegliederter
Text vorgestellt.
Übersichtliche Kürzel sind als Links gestaltet
und erleichtern es Ihnen, die dem einzelnen Feld des Diagramms zugeordnete Information
aufzufinden. Umgekehrt können Sie auch aus dem Text das Diagramm aufsuchen.
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2.0 Die Stadien
von Identität
2.1 Die
Übersichtsgraphik
Das diesen Ausführungen vor allem
zugrunde liegende Diagramm (ERIKSON 1969, S. 285) hat folgende Struktur:
Drei
Strukturelemente fallen ins Auge:
Im Mittelpunkt
steht somit die Phase, in der sich
das Gelingen oder Misslingen der Identitätsbildung entscheidet.
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2.2 Der
Grundgedanke
ERIKSON beschreibt also die Entwicklung
der psychosozialen Persönlichkeit als eine Abfolge von Entwicklungsaufgaben, die jeweils
phasenspezifisch aktuell werden und nacheinander gelöst werden müssen - mit eher
positivem oder eher negativem Ergebnis. Dieser Sachverhalt veranlasst ihn dazu, sie
als »psycho-soziale Krisen« zu bezeichnen.
Für jede Phase dieser Abfolge gibt es ein Kriterienpaar
relativer seelischer Gesundheit bzw. Gestörtheit. In einer "normalen"
Entwicklung wird das positive Kriterium dauerhaft überwiegen, doch das negative nie
völlig verdrängen. Alle Phasen sind systematisch miteinander verbunden. Sie alle hängen
von der rechtzeitigen Entwicklung jeder einzelnen Komponente ab. Die »rechte« Zeit und
das Tempo der Entwicklung werden sowohl von der Individualität des einzelnen als auch von
dem Charakter seiner sozialen Umwelt bestimmt.
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2.3 Die Phasen
des Lebenszyklus
Die folgende Darstellung gibt die
zentralen Aussagen des Diagramms wieder (ERIKSON, 1969 S. 285). Herangezogen wurden ferner
die Diagramme ERIKSON, 1980, S. 214, sowie 1995, S. 72, ferner ERIKSONs Text 1965, S. 269
f. Die Kommentare sind angeregt durch Dieter BAACKE, 1978, S. 109 ff.
Phase |
Aufgabe /
"Krise" |
Ergebnis:
»Grundtugenden« |
Kommentar |
Säuglings
alter |
(a.1)
Urvertrauen
gg.
Misstrauen |
Antrieb und Hoffnung |
"Urvertrauen"
bildet sich heraus, wenn ein Kind sich völlig auf persönliche Zuwendung, körperliche
Wärme, Liebe, Nähe und fühlbaren Schutz ihrer Mutter verlassen kann. Damit bildet sich
die Glaubwürdigkeit anderer und die Zuverlässigkeit seiner selbst aus. Kinder, die auf
diese Sicherheiten verzichten müssen, entwickeln leicht ein "Ur-Misstrauen" als
Folge psychischer oder physischer Vernachlässigung. |
Kleinkind
alter |
(b.2)
Autonomie
gg.
Scham und
Zweifel |
Selbstbeherrschung
und Willenskraft |
In
dieser Phase lernt das Kind, seine Schließmuskeln und sonstigen Funktionen nach eigenem
Willen zu beherrschen. Es gewinnt ein Gefühl von Autonomie. Eine zu strenge Kontrolle und
Sauberkeitserziehung hingegen lässt Scham und Zweifel entstehen, die das Kind unsicher
machen. |
Spiel
alter |
(c.3)
Initiative
gg.
Schuld
gefühl |
Entschlusskraft, Richtung
und Zweckhaftigkeit |
Im
Spielalter gewinnt das Kind eine größere Bewegungsfreiheit, verfügt zunehmend über die
Sprache und entwickelt allmählich einen Werksinn. Es erobert sich die nähere Umwelt
durch Tatendrang und Initiative. Hingegen entsteht Schuldgefühl, wenn die Kinder die
Rivalität zu den Eltern zu stark empfinden oder Misserfolge bei ihren Initiativen haben,
so dass sie annehmen, nichts leisten zu können. |
Schul
alter |
(d.4)
Werksinn
gg.
Minderwertig
keitsgefühl |
Kompetenz, Methode und Können |
In
dieser Phase entwickelt sich ein Leistungsbewusstsein, oder es entsteht ein
Minderwertigkeitsgefühl. Das Kind hat nun das Schulalter erreicht und ist in der Lage,
eine Arbeit erfolgreich abzuschließen. Es befindet sich zu Beginn der Phase konkreter
Operationen (PIAGET). Häufiges Misslingen kann ein Kind in seinem Selbstwertgefühl
schädigen und dazu verleiten, sich wieder klein zu machen und den totalen Schutz der
Eltern zu beanspruchen. |
Adoleszenz |
(e.5)
Identität
gg.
Identitäts
diffusion |
Hingebung und Treue |
Gelingt
die Identitätsbildung, gehen alle in der Kindheit gesammelten positiven Ich-Werte in das
Identitätsgefühl ein. Das Individuum versteht sich selbst als eine Person mit
Einheitlichkeit und Kontinuität. Zugleich erkennt es sich als jemanden, der darum auf
andere angewiesen ist und umgekehrt weiß, dass diese auch ihn brauchen. Die Jugendzeit
ist somit die Summe vorheriger Entwicklungen. Sind die vorbereitenden
Identitätsbildungsprozesse in der Kindheit negativ verlaufen, tritt eine
Identitätsdiffusion bzw. -konfusion ein. |
Frühes
Erwachsenen
alter |
(f.6)
Intimität
gg.
Isolierung |
Bindung und Liebe |
Jetzt
bildet sich die Fähigkeit zur Intimität heraus. Dazu ERIKSON: "Man muss sich selbst
gefunden haben, bevor man fähig ist, sich an jemand anderen zu verlieren." Das
Gegenteil ist die Neigung, andere Menschen abzuwehren, sich zu isolieren und Beziehungen
zu zerstören. |
Erwachsenen
alter |
(g.7)
Generativität
gg.
Stagnation |
Produktivität
und Fürsorge |
Erst
gelungene Intimität macht zur Generativität fähig, dem Interesse an der Gründung und
Erziehung einer neuen Generation. Das Gegenteil, die Selbst-Absorption, besteht in
Verzicht auf reiche Beziehungen zu anderen Menschen und in Desinteresse auf vererbende
Weitergabe kultureller, sozialer und sonstiger Traditionen. |
Reifes
Erwachsenen
alter |
(h.8)
Integrität
gg.
Lebensekel |
Entsagung
und Weisheit |
Das
reife Erwachsenenalter umfasst die Zeit bis zum Tode. Das Individuum hat nun lntegrität
gewonnen, also seinen einen und einzigen Lebenszyklus mit seinen Erfolgen und Niederlagen,
mit Krankheit und Gesundheit als sinnhaft angenommen. Andernfalls tritt Lebens-Ekel ein -
Zweifel an der Fähigkeit, dem eigenen Leben (und auch dem anderer) einen vernünftigen
und hinreichenden Sinn zu geben. |
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2.4 Vorläufer
der Identität (Spalte 5)
ERIKSON zeigt auf, dass es im kindlichen
Ich Vorläufer der Identität gibt. Der jeweiligen Altersstufe entsprechend sind es
- (a.5)
Unipolarität gg. vorzeitige Selbstdifferenzierung
- (b.5)
Bipolarität gg. Autismus
- (c.5)
Spiel-Identifikation gg. Phantasie-Identitäten
- (d.5)
Arbeitsidentifikation gg. Identitätssperre
- (e.5)
Identität gg. Identitätsdiffusion
- (f.5)
Solidarität gg. soziale Lähmung
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2.5 Die
Entfaltung der Identität (Zeile e)
Die Identität selbst ist kein statisches
oder homogenes Phänomen. Sie entwickelt sich im Zusammenhang mit der jeweils zu lösenden
Entwicklungsaufgabe - »Krise«.
Identität entfaltet sich wie folgt:
- (e.1)
Zeitperspektive gg. Zeitdiffusion
- (e.2)
Selbstgewissheit gg. peinliches Identitätsbewusstsein
- (e.3)
Experimentieren mit Rollen gg. negative Identitätswahl
- (e.4)
- Zutrauen zur eigenen Leistung gg.
Arbeitslähmung
- (e.5)
Identität gg. Identitätsdiffusion
- (e.6)
Sexuelle Identität gg. bisexuelle Diffusion
- (e.7)
Führungspolarisierung gg. Autoritätsdiffusion
- (e.8)
Ideologische Polarisierung gg. Diffusion der Ideale
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2.6 Für jede
Phase ein charakteristisches Motto
Die abstrakte Begrifflichkeit der
vorstehenden Ausführungen macht Zugang und Verständnis der darin beschriebenen Stadien
von Entwicklung nicht leicht. Deshalb wird hier der versucht, jede Phase der
Identitätsentwicklung in Form eines charakteristischen Mottos anschaulich zu machen.
1. Ich bin, was
man mir gibt.
2. Ich bin, was ich will.
3. Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann.
4. Ich bin, was ich lerne.
5. Ich bin ich selbst.
Das heißt:
ich bin die Person, die ich in meinen eigenen Augen bin,
und
ich bin die Person, für die mich die anderen halten.
6. Ich bin, was
ich für andere Menschen bin.
7. Ich bin, was ich zu leisten vermag.
8. Ich bin, was ich als sinnhaft empfinde.
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3.0
Literaturnachweis
Hier werden nur die Titel genannt, die
diesem Baustein zugrunde liegen. Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis für die
Themengruppe "Entwicklungspsychologische Grundlagen des Unterrichts finden Sie auf
der Webseite "Literaturgrundlage".
- Dieter BAACKE
Die 13- bis 18jährigen
München 1978, S.109 ff.
- Erik H. ERIKSON
Kindheit und Gesellschaft
Stuttgart 1965, 8. Auflage 1982
- ders.
Identifikation und Identität
in:
Ludwig von FRIEDEBURG
Jugend in der modernen Gesellschaft
Köln 1969, 6. Auflage, S. 277 - 287
übernommen aus
Psyche 10 (1956). S. 124 - 155, 175 - 176
- ders.
Der vollständige Lebenszyklus
Frankfurt am Main 1988, 3. Auflage 1995
- ders.
Identität und Lebenszyklus
Frankfurt am Main 1989, 18. Auflage 2000
- ders.
Jugend und Krise
Stuttgart 1974, 2. Auflage
- ders.
Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit
1966
- Katharina RUTSCHKY
Pionier des Urvertrauens
Zum Tode des Psychoanalytikers Erik Erikson
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 111 vom 14. Mai 1994
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Literaturgrundlage]
Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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