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Anlage oder Umwelt ?

Thesen im Anschluss an Heinrich ROTH

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
      1.1 Grundsätzliches
      1.2 Annahmen und Positionen zur Wirkung der Vererbung
      1.3 Annahmen  und Positionen zur Wirkung der Umwelt
      1.4 Zusammenfassung
2.0 Ergebnisse einzelner Forschungsbereiche
      2.1 Tierverhaltensforschung
      2.2 Entwicklungspsychologie
      2.3 Konstitutionsforschung
      2.4 Zwillingsforschung
      2.5 Intelligenzforschung
      2.6 Psychoanalyse
      2.7 Unterschied der Geschlechter als Anlage-Umwelt-Problem
      2.8 Vergleichende Kulturanthropologie
      2.9 Lernforschung
      2.10 Theorie der Bildsamkeit
3.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Der Erziehungswissenschaftler Heinrich ROTH hat in den alten Streit um den Begriff der »Begabung« eine Interpretation eingeführt, die einerseits heftig abgelehnt wurde und andererseits zu bildungspolitischer Euphorie beitrug. »Begabung« war bislang eher statisch verstanden und als etwas gleichsam schicksalhaft Gegebenes aufgefasst worden. Nunmehr setzte sich in den bildungspolitischen Diskussionen der sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine dynamische Sichtweise durch. Die Aufgabe von Bildung, von Unterricht und Erziehung wurde jetzt sehr pointiert darin gesehen, junge Menschen "zu begaben".

ROTH selbst hat so plakativ nicht gedacht, sondern sich mit dem Verhältnis von Anlage (bzw. "Erbe") und Umwelt differenziert auseinandergesetzt. Sein bleibendes Verdienst besteht darin, ein dynamisches Verständnis des Begabungsbegriffs angebahnt zu haben. Seine Standpunkte können mithin als repräsentativ gelten. Deshalb werden sie hier in Thesenform vorgestellt.

Einen modernen Ansatz aus biosoziologischer Sicht vertritt Detlef W. PROMP (1990). Sie finden ihn auf der Webseite "Entstehung des Individuums und Sozialisation" dargestellt.
     Aktuelle Einsichten, die in der Hirnforschung gewonnen wurden, werden auf der Webseite "Anlage oder Umwelt? - Anlage und Umwelt! Befunde der Neurowissenschaften" referiert.

1.1 Grundsätzliches

Die Erziehungswissenschaft muss sich sowohl gegen falsch interpretierte Vererbungstheorie als auch gegen falsch interpretierte Milieutheorie zur Wehr setzen.

  • Pädagogik kämpft also um   den freien Raum zwischen Anlage (Erbe) und Umwelt.
  • Die Alternative "Anlage gegen Umwelt" bzw. "Umwelt gegen Anlage" wird der Realität nicht gerecht. Das Verhältnis ist vielmehr komplex und vielschichtig.

Es geht um folgende Punkte:

  • die Anlage,
  • die Umwelt,
  • das jeweilige Übereinstimmungsverhältnis von Anlage und Umwelt,
  • die selbstbestimmende Kraft des handlungsfähigen Menschen,
  • die ihn dabei unterstützende Fremderziehung
    als Hilfe zur Selbsthilfe von außen.

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1.2 Annahmen und Positionen zur Wirkung der Vererbung

ROTH setzt sich (a.a.O. S. 155 ff.) mit gängigen Annahmen zur Wirkung der Vererbung auseinander und kommt dabei zu folgenden Positionen:

  • An jedem Merkmal eines Lebewesens sind Anlage und Umwelt beteiligt. Wir haben also immer nur den Phänotyp vor uns, nie den Genotyp.
  • Verschiedene Genotypen können in der gleichen Umgebung ähnliche phänotypische Erscheinungen erzeugen,
    gleiche Genotypen können in verschiedener Umwelt verschiedene phänotypische Erscheinungen erzeugen.
  • Die Anlagefaktoren zielen immer auf Variabilität und Individualisierung. Jedes Individuum hat eine einmalige Chromosomenkombination.
  • Kein genetisch bestimmtes Merkmal ist starr festgelegt, sondern manifestiert sich in einer bestimmten Variationsbreite, über die die Umwelt entscheidet (Beispiel: Körpergröße).
  • Anlagen einerseits und Eigenschaften/Verhaltensweisen andererseits stehen in dynamischer Beziehung zueinander, in der der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle spielt.
  • Statt des Begriffspaares »Anlage und Umwelt« gilt das Begriffspaar »Reifen und Lernen«.
  • Leibnahe Schichten sind mehr anlagebedingt, leibfernere Schichten mehr umweltbedingt (Temperament, Vitalität / Intelligenz, Denken).

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1.3 Annahmen und Positionen zur Wirkung der  Umwelt

ROTH setzt sich (a.a.O. S. 163 ff.) mit gängigen Annahmen zur Wirkung der Umwelt auseinander und kommt dabei zu folgenden Positionen:

  • Tierversuche enthüllen die differenzierende Wirkung von Umweltbedingungen.
  • Nicht nur das Ererbte ist relativ umweltstabil, sondern auch erworbene Eigenschaften (z.B. Prägungen).
  • Umweltkonstanz kann Anlagekonstanz vortäuschen.

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1.4 Zusammenfassung

  • Wenn keine Anlage vorhanden ist, wird keine Umwelt wirksam; wenn keine Umwelt vorhanden ist, wird keine Anlage wirksam.
  • Prozentangaben für Anlagen/Umwelt (z.B. 70% : 30%) werden der komplexen und dynamischen Wirklichkeit nicht gerecht.
  • Es gibt nicht nur "Muss-Anlagen" (PFAHLER), sondern auch eine "Muss-Umwelt".
    Die Regel ist der gemischte Fall. Der Anteil beider muss immer wieder neu ermittelt werden.

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2.0 Ergebnisse einzelner Forschungsbereiche

2.1 Tierverhaltensforschung

  • Kaspar-Hauser-Versuche
    o Manche Leistungsformen entstehen durch Reifen, nicht durch Lernen.
    o Für manche Reifungsprozesse gibt es besonders sensible Phasen.
       Ohne rechtzeitige Lernprozesse wird die volle Leistungshöhe nicht erreicht.
  • Attrappenversuche
    o Fluchtreaktion (z.B. von Vögeln) ist angeboren, das genaue Bild des Feindes 
       wird durch Erfahrung gelernt.
    o Das Mutterbild ist nicht angeboren, sondern wird durch Prägung gelernt .
  • Angeborene auslösende Reize
    o Aggression, Kindchenschema
    o LORENZ: Angeborene Formen möglicher Erfahrungen
  • Prägungen im Kindesalter
    o PORTMANN:
       Anfangs weit offene Strukturanlagen. Deshalb großer Anteil der Prägung zuzurechnen.
    o Beispiel Hospitalismus:
       Ausfall von angeborenen Umwelterwartungen und Umweltreizen hat verheerende
       und bleibende negative Folgen.
  • Züchtungsversuche
    o Leistungsformen beruhen immer auf einer bestimmten Kombination von Erbfaktoren.
    o Intelligenz ist eine aus vielen Primärfaktoren zusammengesetzte Leistungsform.
       Ihre einzelnen Faktoren dürften teils getrennt, teils kombiniert vererbt werden;
       der Erbgang ist im Einzelnen nicht bekannt.

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2.2 Entwicklungspsychologie

  • Schon früh treten Verhaltensformen auf, die relativ beständig bleiben. Es ist nicht festzustellen, ob sie vererbt und angeboren oder erworben oder geprägt worden sind.
  • Bei den Grundleistungsformen der Lebensmeisterung sind Reifefaktor und Reifemoment wichtiger als das Training.
  • Entwicklungsgeschichtlich spätere und kulturbedingte Leistungsformen hängen mehr und mehr von Lehre und Lernen ab.
  • Der Mensch unterliegt Entwicklungsgesetzlichkeiten,
    doch sie belegen keine Ohnmacht der Erziehung.
    Vgl. dazu auch die Webseite "Anlage oder Umwelt? - Anlage und Umwelt! Befunde der Neurowissenschaften"

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2.3 Konstitutionsforschung

  • Das Denkvermögen nicht ist als fertiges Werkzeug angeboren. Es wird vielmehr Schritt für Schritt gemäß Erfahrung und Erziehung aufgebaut.

2.4 Zwillingsforschung

  • Forschungsergebnisse sind offenkundig von unterschiedlichen Vorgaben abhängig.
    Im Ganzen gilt jedoch:
    o Ein großer Teil der Charaktereigenschaften ist durch Vererbung festgelegt.
    o Unterschiede in der Intelligenz-Punktzahl gehen ungefähr
       parallel mit den Unterschieden in der Umwelt.
    o Nur große Umweltunterschiede haben bemerkenswerte Unterschiede
      der Charaktereigenschaften zur Folge.

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2.5 Intelligenzforschung

  • Intelligenz wird durch längeren Schulbesuch erheblich gefördert.
    Das belegen Untersuchungen der amerikanische Armee an Rekruten
    im Ersten und Zweiten Weltkrieg
    o Median im Ersten Weltkrieg 62
    o Median im Zweiten Weltkrieg 104
    o Über dem Median im Ersten Weltkrieg 17,% im Zweiten Weltkrieg 5D%.
  • Konstanz und Variabilität von IQ und Umwelt entsprechen einander.
    Das bedeutet:
    Anlage und Umwelt wirken gleichsinnig zusammen.
  • Untersuchungen von Pflegekindern
    o Je jünger Kinder an Pflegeeltern vermittelt werden,
       desto mehr gleichen sie sich in ihren Intelligenzleistungen an.
    o Je besser die Pflegestelle, desto höher die Intelligenzleistung (statistisch ermittelt !)
    o Korrelation mehr mit den leiblichen Eltern als mit den Pflegeeltern.

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2.6 Psychoanalyse

  • Sie belegt die generell wichtige Wirkung früher Erfahrungen in der Kindheit.
  • Gleichzeitig ist sie ein Verfahren von erzieherischer Genialität, Der Patient kann seine Anlagen und seine Umwelt neu in sein gegenwärtiges Leben integrieren, sein Leben gleichsam von neuem beginnen.

2.7 Unterschied der Geschlechter als Anlage-Umwelt-Problem

  • Interessant, aber hier nicht so bedeutsam wie die Ergebnisse der vergleichenden Kulturanthropologie.

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2.8 Vergleichende Kulturanthropologie

  • Vorgegeben sind lediglich die gleiche biologische Ausrüstung aller Menschen und die grundlegenden Lebenserfahrungen wie Geburt, Hilflosigkeit, Krankheit, Schmerz, Alter und Tod. Die Tatsachen der Natur begrenzen die Formen der Kultur.
  • Weder biologischer Determinismus noch kultureller Determinismus, aber eindrucksvollste Belege für die plastische Natur des Menschen.
  • Die grundlegenden Kategorien aller Kulturen sind einander ähnlich: Sprache, ästhetischer Ausdruck und Vergnügen, Überlieferungen zu den Lebensproblemen, Verfahren zur Erhaltung der Gruppe einerseits und der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse andererseits.
  • eindrucksvolle Belege für die Wirksamkeit - vor allem früher pädagogischer Maßnahmen.
  • Zentral wichtig vor allem folgende Schwerpunkte:
    o Pflegegewohnheiten in Verbindung mit dem System von Belohnungen und Strafen
    o Sozialisationsprozesse und deren Bedingungen
    o Entfaltung des Selbstwertgefühls und deren Rahmenbedingungen

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2.9 Lernforschung

Sie wird bei ROTH nicht erwähnt. Dennoch steuert sie wichtige Gesichtspunkte bei, vor allem wenn man denkt an

  • Lernen am Modell und durch Identifikation.
    Verhaltensweisen scheinen vererbt, zu sein obwohl sie durch frühkindliche Imitation und Identifikation erworben worden sein können.

2.10 Theorie der Bildsamkeit

Auf der Grundlage dieser Zusammenschau entwickelt ROTH (a.a.O., S. 263 - 267) eine »Theorie der Bildsamkeit«. Sie kann hier nicht referiert werden, doch sind ihre behutsam und differenziert abwägenden Standpunkte nach wie vor lesens- und beachtenswert - auch wenn man sie im Lichte neuerer Forschungsergebnisse betrachtet (vgl. die Webseiten "Anlage oder Umwelt? - Anlage und Umwelt!" Befunde der Neurowissenschaften sowie "Ich und Persönlichkeit - Ihre Entwicklung aus der Sicht der Neurowissenschaften")

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3.0 Literaturnachweis

Der Text wurde ausgearbeitet im Anschluss an

  • Heinrich ROTH
    Pädagogische Anthropologie
    Band 1, S. 151 - 267
    Hannover 1966,  3. Auflage 1971

Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis für die Themengruppe "Entwicklungspsychologische Grundlagen des Unterrichts finden Sie auf der Webseite "Literaturgrundlage".


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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