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»Entwicklung«

Versuch einer Annäherung an das Thema

Übersicht
1.0 Der Begriff »Entwicklung«
2.0 Zitate
       2.1 PINDAR  und die Inschrift von Delphi

       2.2 GOETHE: Urworte, Orphisch
2.3 Relativierung
3.0 Nachweise
       3.1 Zitate
       3.2 Literatur

1.0 Der Begriff »Entwicklung«

»Entwicklung« ist ein Begriff, der geradezu beispielhaft zeigt, dass eine Metapher, ein Bild, das Verständnis eines Sachverhaltes dauerhaft bestimmt - vor allem dann, wenn man sich dessen nicht bewusst ist.

Ein Gegenstand oder eine Sache können sich nur »ent-wickeln«, wenn sie vorher schon in eingewickeltem Zustand vorhanden waren und sich nunmehr »entfalten«. Dafür mögen das lateinische Substantiv »evolutio« und das zugehörige Verbum »evolvere« das Vorbild abgegeben haben. Sie bezeichnen das Auseinanderwickeln eines - damals rollen- oder walzenförmigen - Buches, »volumen« („Wälzer") genannt, um darin zu lesen.
     Offenbar kommen wir ohne Metaphern nicht aus, denn um das eine Bild zu beschreiben, bedienen wir uns eines anderen Bildes.

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2.0 Zitate

Gerade auch die Entwicklung der Persönlichkeit, die Ontogenese des Individuums, ist immer wieder so gesehen worden, wie es die Metapher vorgibt. Dafür seien hier zwei leitmotivartige Zitate vorgestellt. Sie werden durch zwei weiterführende Zitate exemplarisch ergänzt.

2.1 PINDAR  und die Inschrift von Delphi

„Werde, der du bist."

Häufig zitiert und gehört, stammt dieser kryptische und zugleich anregend offene Spruch von PINDAROS aus Theben (522 bzw. 518 - nach 446 v.Chr.). Dieser Dichterpriester war zugleich auch Sportreporter und Publicitymanager in einer Person. Thema seiner gedankentief und bedeutungsschwer aufgeladenen Dichtungen sind die Siege und die Sieger der sportlichen Wettkämpfe des alten Griechenland. Die Spiele in Olympia, Delphi, Nemea und Korinth hatten den Charakter von Gottesdienst - hier der Beste zu sein war der Inbegriff der Erfüllung.

Liest man den Originaltext nach (Pythische Gedichte 2, 72), so zeigt sich, dass der Spruch um ein entscheidendes Wort verkürzt ist. Die freie Wiedergabe des vollständigen Verses lautet:

„Erkenne, wer Du im Kern deines Wesens bist, und dann werde es."

Adressat dieser Aufforderung war kein geringerer als HIERON I., 478 - 467 v.Chr. der Herrscher („Tyrann") von Syrakus - Sieger im Wagenrennen bei den pythischen Spielen in Delphi. Und hier in Delphi verstand jeder diesen Vers als Zitat, denn alle kannten die Inschrift am Apollon-Tempel mit dem Befehl des Gottes von Delphi:

„Erkenne dich selbst"

Mithin ist die Entwicklung der Persönlichkeit von Anfang an mit dem Auftrag zur Selbsterkenntnis verbunden. 

Das Pindarzitat enthält keimhaft auch einen Gedanken, der später von Aristoteles in seiner Metaphysik voll entfaltet werden sollte - die »Entelechie«. Alle Dinge und Wesen tragen ihr Werdeziel, ihren Zweck - ihr »télos« - in sich . Sie »entwickeln« sich ihrer inneren Natur gemäß. Er formuliert (Metaphysik IX, 8 - 1050 a 7 Bekker):

"Um des Zieles willen ist das Werden, Ziel aber ist die Wirklichkeit."

Entelechie definiert er (a.a.O. 1050 a 21) als "die Vollendung des Seins nach der ihm innewohnenden Bestimmung".

Gerade auch für den Menschen gilt, daß er »ist«, indem er »wird«. So trägt er die Bestimmung, sich selbst zu bestimmen und zu vervollkommnen, in sich selbst (Winfried BÖHM 2004, S.28).

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2.2 GOETHE: Urworte, Orphisch

Johann Wolfgang GOETHE hat 1817 (Erstdruck 1820) eine Gruppe von fünf Gedichten mit dem Titel "Urworte, Orphisch" geschrieben. Das erste von ihnen lautet:

DAIMON

Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz wonach Du angetreten.
So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen,
das ändern nicht Sibyllen, nicht Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form die lebend sich entwickelt.

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2.3 Relativierung

Dass GOETHE trotz der geradezu hermetischen Strenge dieser Gedanken das Thema auch pragmatisch gesehen hat, bezeugt eine Passage aus den Gesprächen mit Eckermann vom 18. Dezember 1828:

Wir bringen wohl Fähigkeiten mit,
aber unsere Entwicklung verdanken wir
tausend Einwirkungen aus einer großen Welt,
aus der wir uns aneignen,
was wir können und was uns gemäß ist."

In "Wilhelm Meisters Wanderjahren" schreibt er 1829:

„Wohlgeborene, gesunde Kinder [...] bringen viel mit;
die Natur hat jedem alles gegeben,
was er für Zeit und Dauer nötig hätte;
dieses zu entwickeln ist unsere Pflicht,
öfters entwickelt es sich’s besser von selbst."

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3.0 Nachweise

3.1 Zitate

  • Johann Wolfgang Goethe
    Divan-Jahre 1814 - 1819
    Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens,
    München 1998, Band 11.1.1, S. 188, Kommentar S. 526 - 530
    herausgegeben von Karl Richter und Christoph Michel
    Vgl. auch Band 12, S. 91, sowie Band 13.1, S. 156 mit Kommentar S. 500.
    Dort lautet die sechste Zeile in der Fassung für die Ausgabe letzter Hand:
    „So sagten schon Sibyllen, so Propheten."

  • ders.
    Johann Peter Eckermann
    Gespräche mit Goethe, Teil 2
    Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens,
    München 1986, Band 19, S. 272
    herausgegeben von Heinz SCHLAFFER 

  • ders.
    Wilhelm Meisters Wanderjahre, II,1
    Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens
    München 1991, Band 17, S. 385
    herausgegeben von Gonthiers-Louis FINK, Gerhard BAUMANN
    und Johannes JOHN, 

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3.2 Literaturnachweis

  • Peter BACHMAIER
    Erkenne dich selbst
    Philosophiegeschichtlicher Abriß zum Problem der Selbsterkenntnis
    Teil I:
    Von den Sieben Weisen bis Aristoteles
    München 1998
    Teil II:
    Von der griechischen Klassik zum englischen Empirismus
    München 1998
    Teil III:
    Vom englischen Empirismus zu Kant und dem englischen Utilitarismus
    München 2001

  • Winfried BÖHM
    Geschichte der Pädagogik
    Von Platon bis zur Gegenwart
    München2004

  • Eugen-Maria SCHULAK
    Erkenne dich selbst! - Werde, der du bist
    Über den Ursprung philosophischen Denkens
    http://www.philosophische-praxis.at/selbsterkenntnis.html

Hier werden nur die Titel genannt, die diesem Baustein zugrunde liegen. Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis für die Themengruppe "Entwicklungspsychologische Grundlagen des Unterrichts finden Sie auf der Webseite "Literaturgrundlage".


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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