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Einführung in die Szene

Fjodor Pawlowitsch Karamasow und Dmitri Fjodorowitsch, sein Sohn aus erster Ehe, sowie Iwan Fjodorowitsch und Alexej (Aljoscha) Fjodorowitsch, seine beiden Söhne aus zweiter Ehe, ferner Pjotr Alexandrowitsch Miussow, Onkel mütterlicherseits des Dmitri Fjodorowitsch, haben sich (in dem Kapitel Warum lebt so ein Mensch?) bei Starez Sossima, einem ehrwürdigen Einsiedler, versammelt. Sie wollen mit dessen Vermittlung einen Familienzwist schlichten. Anwesend sind auch Vater Paissi, ein gelehrter Mönch, und weitere Personen, unter ihnen Michail Rakitin. 

Weil der Einsiedler zwischendurch den Raum verlassen muss und Dmitri Fjodorowitsch zunächst noch fehlt, entwickeln sich zwischen Iwan Fjodorowitsch, Pjotr Alexandrowitsch und Vater Paissi spannende, durchaus kontroverse Dialoge zu kirchen- und sozialpolitischen Themen; auch der Einsiedler ist inzwischen zurückgekehrt und beteiligt sich wieder am Gespräch. 

Pjotr Alexandrowitsch zitiert gerade Worte aus einer Unterhaltung mit einem hohen Geheimdienstagenten, an die er sich jetzt erinnert fühle: 
     "Der christliche Sozialist ist furchtbarer als der gottlose." 
Vater Paissi: 
     "Das heißt, Sie beziehen sie auf uns und sehen in uns Sozialisten?" 
Ehe jedoch eine Antwort möglich ist, tritt nun doch noch Dmitri Fjodorowitsch ein.

Dann geht der Text weiter wie folgt  
(Quelle: 
Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow. 
Roman in vier Teilen mit einem Epilog. Erster Band. 
Deutsch von Werner Creutziger. Berlin 1986, S. 111 - 114):

»Der Vorgang nahm kaum mehr als zwei Minuten in Anspruch, und das Gespräch hätte sogleich wieder aufgenommen werden können. Diesmal aber hielt es Pjotr Alexandrowitsch nicht für nötig, auf Vater Paissis nachdrücklich und beinahe gereizt gestellte Frage zu antworten.

„Wollen wir doch von diesem Thema abgehen“, schlug er mit einer gewissen weltmännischen Lässigkeit vor. „Es ist eine vertrackte Sache. Sehen Sie, Iwan Fjodorowitsch lächelt schon über uns; gewiß hat er auch im Falle des Themawechsels etwas Interessantes vorzubringen. Fragen Sie ihn nur.“

„Nichts Besonderes, nur eine kleine Bemerkung“, erwiderte Iwan Fjodorowitsch sofort. „Nämlich: Der europäische Liberalismus überhaupt, und das gilt sogar für unseren russischen liberalen Dilettantismus, verwechselt oft und seit langem die Endresultate des Sozialismus mit denen des Christentums. Dieser unbedachte Schluß ist natürlich charakteristisch. Übrigens, den Sozialismus mit dem Christentum verwechseln, das tun, wie sich zeigt, nicht nur Liberale und Dilettanten, sondern zusammen mit ihnen in vielen Fällen auch Gendarmen - ausländische, versteht sich. Die Geschichte, die Sie, Pjotr Alexandrowitsch, von Paris erzählt haben, ist doch recht bezeichnend.“

„Noch einmal bitte ich um Ihr Einverständnis, daß wir dieses Thema überhaupt verlassen“, entgegnete Pjotr Alexandrowitsch. „Statt dessen werde ich Ihnen, meine Herren, noch eine Geschichte erzählen, diesmal über Iwan Fjodorowitsch selbst, etwas höchst Interessantes und Charakteristisches. Es ist nicht mehr als fünf Tage her und geschah hier am Orte, in Gesellschaft, wobei überwiegend Damen anwesend waren; da erklärte er im Streitgespräch feierlich, auf der ganzen Erde gebe es absolut nichts, was die Menschen dazu bestimme, einander zu lieben; ein Naturgesetz, dem zufolge der Mensch die Menschheit liebe, existiere mitnichten, und wenn es auf Erden auch Liebe gebe und gegeben habe, so nicht nach einem Naturgesetz, sondern einzig deshalb, weil die Menschen an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fjodorowitsch fügte in Klammern hinzu, daß eben darin das ganze Naturgesetz bestehe; demnach brauche man in der Menschheit nur den Glauben an ihre Unsterblichkeit auszutilgen, und sogleich werde in ihr nicht nur die Liebe versiegen, sondern überhaupt jede wirkende Kraft, dank der das Leben in gütlicher Gemeinschaft weiterbestehen könnte. Nicht genug damit: Dann gäbe es nichts Unmoralisches mehr, alles wäre erlaubt, sogar der Kannibalismus. Aber auch damit nicht genug: Man würde schließlich zu dem Grundsatz gelangen, für jeden einzelnen, so zum Beispiel für uns hier und jetzt, für jeden, der weder an Gott noch an seine Unsterblichkeit glaubt, müsse sich das moralische Naturgesetz unverzüglich in den genauen Gegensatz zu seinem früheren - dem religiösen - Inhalt verkehren, und ein Egoismus, der bis zu Mord und Totschlag reicht, müsse dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern sogar in seiner Lage als notwendiger, vernünftigster und geradezu höchst anständiger Ausweg anerkannt werden. Aus einem solchen Paradoxon können Sie, meine Herren, auch auf alles übrige schließen, was unser lieber Exzentriker und Paradoxonjäger Iwan Fjodorowitsch zu verkünden beliebt und vielleicht fürderhin zu verkünden gesonnen ist.“

„Erlauben Sie“, rief unerwartet Dmitri Fjodorowitsch, „ich möchte sicher sein, mich nicht verhört zu haben: ,Mord und Totschlag muß nicht nur erlaubt sein, sondern sogar als notwendigster und klügster Ausweg aus der Lage eines jeden Ungläubigen anerkannt werden.’ War es so?“

„Jawohl“, antwortete Vater Paissi.

„Werd mir's merken.“ 

Und Dmitri Fjodorowitsch verstummte genauso unvermittelt, wie er sich unvermittelt in das Gespräch gemischt hatte. Alle blickten neugierig auf ihn.
(Anm.: Dmitri Fjodorowitsch wird seinen Vater ermorden. Das geschieht im 2. Band, S. 111).

Da fragte der Starez, zu Iwan Fjodorowitsch gewandt: „Sind Sie wirklich überzeugt, daß es gerade diese Folgen hat, wenn unter den Menschen der Glaube an die Unsterblichkeit ihrer Seele versiegt?“

Ja, eben das behaupte ich. Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.“

„Selig sind Sie, wenn Sie das glauben - oder sehr unglücklich!“

„Warum unglücklich?“ fragte Iwan Fjodorowitsch und lächelte.

„Weil Sie aller Wahrscheinlichkeit nach selbst weder an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben noch auch nur an das, was Sie über die Kirche und die Kirchenfrage geschrieben haben.“

„Vielleicht haben Sie recht! Dennoch habe ich es nicht ganz unernst gemeint“, bekannte plötzlich in seltsamem Ton Iwan Fjodorowitsch - übrigens rasch errötend.

„Nicht ganz unernst, das ist wahr. Was diese Idee angeht, so hat Ihr Herz noch nicht entschieden, und es quält sich mit ihr. Aber auch der Gequälte belustigt sich manchmal an seiner Verzweiflung, gleichsam wiederum aus Verzweiflung. Aus Verzweiflung belustigen auch Sie sich einstweilen - mit Zeitschriftenaufsätzen, mit Plaudereien in Gesellschaft, und Sie glauben dabei selbst nicht an Ihre Dialektik und spotten mit wehem Herzen im stillen über sie ... In Ihnen ist diese Frage nicht entschieden, und darin liegt Ihr großes Leid, denn sie verlangt dringend die Entscheidung.“

„Und kann sie in mir entschieden werden? Im positiven Sinne?“ fragte Iwan Fjodorowitsch in seinem seltsamen Ton weiter, und die ganze Zeit blickte er mit einem rätselhaften Lächeln auf den Starez.

„Wenn sie nicht im positiven Sinne entschieden werden kann, so wird sie auch niemals im negativen Sinne entschieden; Sie wissen selbst um diese Eigentümlichkeit Ihres Herzens. Und darin liegt seine ganze Qual. Aber danken Sie dem Schöpfer dafür, daß er Ihnen ein hohes Herz gegeben hat, ein Herz, das fähig ist solcher Mühe und Qual zu suchen, was droben ist, und zu trachten nach dem, was droben ist, denn unsere Heimat ist im Himmel'. Geb Ihnen Gott, daß Ihnen noch auf Erden die Entscheidung Ihres Herzens zuteil wird, und segne Gott Ihre Wege!“

Der Starez hob die Hand und wollte von seinem Platz aus über Iwan Fjodorowitsch das Kreuz schlagen. Doch dieser stand plötzlich auf, trat zu dem Starez, empfing seinen Segen, küßte ihm die Hand und kehrte stumm an seinen Platz zurück. Sein Gesicht drückte Ernst und Festigkeit aus. Dieser Schritt Iwan Fjodorowitschs hatte für alle etwas so Rätselhaftes und sogar Feierliches, und alles, was er in dem vorangegangenen Gespräch mit dem Starez gesagt hatte, war von ihm so wenig zu erwarten gewesen, daß alle eine Minute lang verblüfft schwiegen; in Aljoschas Gesicht malte sich beinahe Erschrecken. Dann aber zuckte Miussow mit den Schultern, und im selben Augenblick sprang Fjodor Pawlowitsch auf.«

Um diese Passage richtig würdigen zu können
ist es wichtig, folgende Stellen des hochkomplex aufgebauten Romans einzubeziehen.

  • Starez Sossima hat zuvor eine Dame getröstet, die ihm ihre Glaubenszweifel bekannt hatte (a.a.O., S. 91). Er sagt, er könne ihr zwar keinen Beweis für echten Glauben geben, überzeugen freilich könne man sich. „Wie? Womit?“, fragt die Dame. Darauf der Starez:

„Mit der Erfahrung der tätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben. Je mehr Sie in solcher Liebe voranschreiten, desto mehr werden Sie sich von der Existenz Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele überzeugen. Sind Sie in der Nächstenliebe zur vollkommenen Selbstverleugnung gelangt, so werden Sie ganz sicher den Glauben finden, und es kann sich gar kein Zweifel mehr in Ihrer Seele regen. Das ist gewiß, und die Erfahrung lehrt es.“

  • Bald nach der oben referierten Szene zitiert Michail Rakitin, der deren stummer Zeuge war, im Streitgespräch mit Alexej (Aljoscha) Fjodorowitsch die Auffassung Iwan Fjodorowitschs:
    "Hast ja gerade seine dumme Theorie gehört:
    'Gibt's keine Unsterblichkeit der Seele, so gibt es auch keine Tugend; also ist alles erlaubt.'"
    (a.a.O., S. 132) 

  • Später, in dem Kapitel Die Brüder lernen einander kennen, findet zwischen Iwan Fjodorowitsch und Alexej (Aljoscha) Fjodorowitsch ein längeres Gespräch statt, das mehrfach auf das Treffen bei dem Starez Bezug nimmt (a.a.O., S. 374 - 377). Sie kommen darin auch auf die „uralt-ewigen Fragen" - so Iwan - zu sprechen.

„Das ganze junge Rußland erörtert ja nichts anderes als die Fragen der Ewigkeit.“ [...]

„Ja, und für die echten Russen sind die Fragen: Gibt es Gott, und gibt es die Unsterblichkeit, oder, wie du sie nennst, die Fragen vom anderen Ende her, natürlich die allerersten und wichtigsten Fragen, und so muß es auch sein“, erwiderte Aljoscha, und immer von neuem betrachtete er mit seinem stillen und forschenden Lächeln den Bruder.

„Weißt du, Aljoscha, Russe zu sein ist manchmal ohnehin gar nicht klug, und trotzdem: etwas Dümmeres als das, womit sich jetzt die russischen kleinen Jungen befassen, kann man sich nicht vorstellen. Aber einen solchen russischen kleinen jungen, den Aljoschka, hab ich schrecklich lieb.“

Aljoscha lachte auf. „Wie prächtig du deinen Gedankengang abschließt.“

„Nun sag, womit fangen wir an, bestimm es selber – mit Gott? Gibt es Gott, wie?“

„Womit du willst, damit fang auch an, meinetwegen ,vom andern Ende’. Gestern hast du ja beim Vater verkündet, Gott existiere nicht.“ Aljoscha blickte prüfend auf den Bruder.

„Gestern, nach dem Essen bei dem Alten, hab ich dich aufstacheln wollen, ich hab gesehen, wie deine Äuglein funkelten. Jetzt aber bin ich ganz und gar nicht abgeneigt, mit dir richtig darüber zu sprechen, und das sag ich ganz ernsthaft. Ich möchte gern mit dir zusammenkommen, Aljoscha, denn ich habe keine Freunde, ich möcht es versuchen. Also, nun stell dir vor, vielleicht akzeptiere auch ich Gott.“ Iwan lachte auf. „Das kommt unerwartet, wie?“

„Ja, natürlich. Wenn du nur nicht auch jetzt im Scherz sprichst.“

„,Im Scherz.’ Gestern hat man beim Starez gesagt, daß ich scherze. Siehst du, mein Bester, im achtzehnten Jahrhundert gab es einen alten Sünder, der sagte, wenn es keinen Gott gebe, müßte man ihn erfinden, s'il n'existait pas Dieu il faudrait l'inventer. Und wirklich, der Mensch hat Gott erfunden. Und nicht das ist seltsam, nicht das wäre wunderbar, daß Gott wirklich existierte, nein, wunderbar ist, daß dieser Gedanke, der Gedanke der Notwendigkeit Gottes, einem so wilden und bösartigen Tier, wie es der Mensch ist, in den Sinn hat kommen können, da er doch so heilig ist, so rührend, so weise und dem Menschen soviel Ehre macht. Was mich betrifft, so habe ich mir längst vorgenommen, nicht darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott oder Gott den Menschen geschaffen hat. Versteht sich, ich werde jetzt nicht alle die modernen Axiome erörtern, die zu dieser Frage von den russischen kleinen Jungen aufgestellt worden sind und die letztlich allesamt aus europäischen Hypothesen stammen; denn was dort Hypothese ist, das ist beim russischen kleinen jungen sofort ein Axiom, und nicht nur bei den kleinen jungen, sondern wohl auch bei ihren Professoren, denn auch unter den russischen Professoren finden wir heute außerordentlich viele, die genau solche russischen kleinen Jungen sind. Deshalb übergehe ich alle Hypothesen. Welche Aufgabe haben denn jetzt wir beide? Sie besteht darin, daß ich dir so schnell wie möglich mein Wesen erklären sollte, das heißt, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube und worauf ich hoffe. So ist es doch? Und darum erkläre ich, daß ich Gott gerade und schlicht akzeptiere. Eines muß jedoch dabei bedacht werden: Wenn Gott existiert und wenn er wirklich die Erde geschaffen hat, so hat er sie, wie uns ganz zuverlässig bekannt ist, nach der euklidischen Geometrie geschaffen, und den menschlichen Verstand hat er mit dem Begriff von lediglich drei Dimensionen ausgestattet. Indessen haben sich Mathematiker und Philosophen gefunden - manche von ihnen zählen sogar zu den bedeutendsten, und sie finden sich auch heute noch -, die daran zweifeln, daß das ganze Weltall oder, noch umfassender, das ganze Sein einzig nach der euklidischen Geometrie geschaffen wäre; sie erkühnen sich sogar, davon zu träumen, daß zwei Parallelen, die nach Euklid auf Erden nie und nimmer zusammenkämen, vielleicht doch irgendwo im Unendlichen zusammenkommen könnten. Ich, mein Bester, bin zu dem Schluß gelangt: Wenn ich nicht einmal das mit den Parallelen begreife, wie soll ich da etwas von Gott begreifen. Ich bekenne demütig, ich habe keinerlei Fähigkeiten, solche Fragen zu lösen; ich habe einen euklidischen Verstand, einen irdischen ‑ wie sollen wir uns also mit der Lösung dessen befassen, was nicht von dieser Welt ist? Auch dir rate ich, darüber niemals nachzudenken, Freund Aljoscha, am wenigsten darüber, ob es Gott gibt oder nicht. Für all diese Fragen ist unser Verstand einfach nicht gemacht, er ist geschaffen mit dem Begriff von lediglich drei Dimensionen. Also, ich akzeptiere Gott, und nicht nur bereitwillig ihn, sondern ich akzeptiere überdies seine Allweisheit und sein Ziel, die uns beide gänzlich unbekannt sind, ich glaube an eine Ordnung, an einen Sinn des Lebens, ich glaube an die ewige Harmonie, in die, wie es heißt, wir alle eingehen werden, ich glaube an das WORT, zu dem das Weltall strebt und das selbst ,bei Gott’ war und das selbst Gott ist, nun, und dann alles übrige und so weiter bis ins Unendliche. Worte, Worte sind darüber viel gemacht worden. Es sieht so aus, als wäre ich schon auf dem guten Wege, nicht wahr? Nun, so stell dir vor, daß ich, nehme ich nur alles in allem, diese Welt Gottes ... nicht akzeptiere und daß ich, wohl wissend, daß sie existiert, sie ganz und gar nicht gelten lasse. Nicht Gott ist es, den ich nicht gelten ließe, bedenk das wohl, es ist die von ihm geschaffene Welt, die Welt Gottes - sie akzeptiere ich nicht, ich kann mich nicht bereitfinden, sie zu akzeptieren. Wohl bemerkt: Ich bin überzeugt wie ein kleines Kind, daß die Leiden heilen und vernarben, daß die ganze kränkende Komik der menschlichen Widersprüche verschwinden wird wie ein klägliches Trugbild, wie eine kleinlich-häßliche Erfindung des kraftlosen und atomgleich winzigen euklidischen menschlichen Verstandes, und schließlich bin ich überzeugt, im Weltfinale, im Augenblick der ewigen Harmonie werde etwas so unendlich Kostbares geschehen und erscheinen, daß es ausreichen wird für alle Herzen, ausreichen, jeglichen Unwillen zu stillen, ausreichen, alle Übeltaten der Menschen, alles von ihnen vergossene Menschenblut zu sühnen, ausreichen, daß es nicht nur möglich wird, zu vergeben, sondern auch alles zu rechtfertigen, was mit den Menschen geschehen ist - mag dies alles sein, mag dies geschehen, ich aber akzeptiere es nicht, will es nicht akzeptieren! Mögen sogar Parallelen aufeinandertreffen, und mag ich selbst das sehen - ich werde es sehen und sagen, sie sind aufeinandergetroffen, und trotzdem akzeptiere ich es nicht. Da hast du mein Wesen, Aljoscha, da hast du meine These. Dies jedenfalls hab ich dir in vollem Ernst gesagt. Mit Absicht habe ich dieses unser Gespräch so dumm wie nur irgend möglich begonnen und habe es dann doch bis zu meiner Beichte geführt, weil du einzig sie brauchst. Nicht von Gott brauchtest du zu hören, für dich war es einzig nötig, zu erfahren, was das Leben des von dir geliebten Bruders ausmacht. Und das habe ich gesagt.“

So beschloß Iwan seine lange Tirade mit dem Ausdruck eines besonderen und unerwarteten Gefühls.

„Wozu hast du denn ‚so dumm wie nur irgend möglich’ begonnen?“ fragte Aljoscha und blickte ihn nachdenklich an.

„Na, erstens wenigstens meines Russentums wegen; denn russische Gespräche über diese Themen werden allesamt so dumm wie nur irgend möglich geführt. Zweitens aber gilt wiederum: je dümmer man eine Sache beginnt, desto näher kommt man ihr. Und auch: Je dümmer, desto deutlicher. Dummheit ist kurz und kennt keine Verstellung, der Verstand aber windet sich, weicht aus und versteckt sich. Der Verstand ist ein Schuft, die Dummheit aber ist offen und ehrlich. Ich hab die Sache bis zu meiner Verzweiflung geführt, und je dümmer ich sie darstellte, desto günstiger ist es für mich.“

„Erklärst du mir noch, warum du ,die Welt nicht akzeptierst’?“ sprach Aljoscha weiter.

„Natürlich tu ich das, es ist kein Geheimnis, darauf will ich ja hinaus. Du mein Brüderchen, keineswegs will ich dich verführen, keineswegs dich losreißen von deinem festen Halt, vielleicht möchte ich selber durch dich genesen.“ Iwan lächelte auf einmal wirklich wie ein sanfter kleiner Junge. Noch nie hatte Aljoscha ein solches Lächeln an ihm gesehen.

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