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Die Neutralitätspflicht
des Staates
Übersicht
1.0 Das Problemfeld
1.1 Die Rechtslage
1.2 Neutralitätsgebot und Schule
2.0 »Neutralität«
2.1 Der Begriff und seine Herkunft
2.2 Folgerungen
2.3 Schule und Wertorientierung
3.0 Das Neutralitätsgebot und die Schule
4.0 Literaturnachweis
5.0 Anhang: Fundstellen zum Neutralitätsgebot
1.0 Das
Problemfeld
1.1 Die
Rechtslage
Das Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland regelt in Artikel 4 die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wie folgt:
(1) |
Die Freiheit
des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisses sind unverletzlich. |
(2) |
Die ungestörte
Religionsausübung wird gewährleistet. |
Mithin gebietet das Grundgesetz weltanschaulich-religiöse
Neutralität. Das Bundesverfassungsgericht hat deswegen 1965 lapidar festgestellt
(BVerfGE 18, 385 [386]):
Nach dem kirchenpolitischen
Verständnis des Grundgesetzes besteht keine Staatskirche."
Ein Jahr später hat das Gericht Artikel
4 GG in fast schon pathetischem Tonfall in seinem Beschluss vom 14 Dezember 1965 wie folgt
ausgelegt (BVerfGE 19, 206 [219]):
Das Grundgesetz legt durch Art. 4
Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137
Abs. 1 WRV (Anm.: Weimarer Reichsverfassung) in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat
als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse
Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und
untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse."
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1.2
Neutralitätsgebot und Schule
Das Bundesverfassungsgericht hat sich
immer wieder mit der Neutralitätspflicht das Staates befasst, insbesondere im
Zusammenhang mit dem - inzwischen historischen - Streit um die Bekenntnisschule und -
aktuell - um den Religionsunterricht. Ein Liste mit einschlägigen Fundstellen zur
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden Sie im Anhang.
Auf die Darstellung bei Norbert NIEHUES ( 2000 Rdn. 179 ff., S. 91 f.) wird
hingewiesen.
Das Neutralitätsgebot gilt für alle Formen der
Bekenntnisfreiheit, also auch für die Freiheit, keinem religiösen Bekenntnis
anzugehören (negative" Bekenntnisfreiheit). Es beschränkt sich auch nicht auf
das eigentlich religiöse Bekenntnis, sondern bezieht sich auf weltanschauliche
Überzeugungen insgesamt.
Daraus folgt für die erzieherische Arbeit des staatlichen
Schulwesens mit seiner allgemeinen Schulpflicht eine überaus komplexe
Problematik. Sie wurzelt nicht allein in den sozialgeschichtlich gewachsenen
Gegebenheiten Deutschlands, sondern wird durch den Zuzug zahlreicher Menschen aus anderen
Kulturkreisen mit deren Religionen wesentlich verschärft.
Vor einer weiteren Erörterung scheint deshalb zunächst eine
Begriffsklärung angebracht.
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2.0
»Neutralität«
2.1 Der Begriff
- Herkunft und Bedeutung
Im klassischen Latein bedeutet das
Adjektiv »neuter, neutra, neutrum« keiner von beiden".
Das davon abgeleitete weitere Adjektiv »neutralis« heißt unparteiisch,
unabhängig, nicht an einem Konflikt teilnehmend, nicht einseitig festgelegt".
»Neutralität« ist danach die unparteiische
Haltung"
(vgl. Bernhard KYTZLER 1992, S. 431 f.).
2.2 Folgerungen
Im Sprachgebrauch der Politik kommt es
darauf an, wie eng oder weit eine in diesem Sinne verstandene Neutralität gefasst ist.
In Frankreich ist der Staat seit der Französischen Revolution
konsequent laizistisch verfasst, sind Staat und Kirche strikt getrennt. In den Vereinigten
Staaten wird zur Zeit vor den Gerichten darüber gestritten, ob den Schülern ein
Fahneneid mit der Formel eine Nation unter Gott" abverlangt werden kann (FAZ
Nr. 147 vom 28. Juni 2002).
In der Bundesrepublik Deutschland hat das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss des Ersten Senats vom 18. Mai 1995 (BVerfGE 93, 1)
entschieden, die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen
einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4.
Abs. 1 GG". Und das Bundesverwaltungsgericht hat am 4. Juli 2002 gegen die Klage
einer Lehrerin islamischen Bekenntnisses entschieden, die im Dienst das Kopftuch nicht
ablegen will. Die Schüler hätten auf Grund der Religionsfreiheit Anspruch darauf,
vom Staat nicht dem Einfluss einer fremden Religion - auch in Gestalt eines Symbols -
ausgesetzt zu werden.
In ihrem abweichendem Votum zum Beschluss
vom 18. Mai 1995 haben die Richter Seidl, Söllner und Haas - nach Meinung des Verfassers
der »Bausteine« zutreffend - argumentiert (BVerfGE 93, 1 [29]),
unter der Geltung des
Grundgesetzes darf das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht als eine
Verpflichtung
des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden."
Sie verweisen (a.O.) auf frühere Urteile
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 41, 29 [51]; 41, 65 [78]), wonach die Schule weder
missionieren noch Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen dürfe.
Sie (sc. die Schule) muß
auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein."
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2.3 Schule und
Wertorientierung
Mit seinem Beschluss vom 28. Juni 2001
hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem Konflikt um das Fach
Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde implizit bestätigt, dass die staatliche Schule
ein Fach zur Werte-Erziehung einrichten darf. Außerdem und vor allem hat das Gericht
ausdrücklich die Zusammenarbeit von staatlicher Schule und Religionsgemeinschaften
empfohlen und dazu konkrete Vorschläge gemacht.
Wie in den Bausteinen zur Werte-Erziehung" im
Einzelnen dargelegt und ausgeführt wird, sind Unterricht und vor allem Erziehung immer
wertorientiert. Sie müssen es auch sein, weil sie sonst nichts weiter als
instrumentalisierende Abrichtung wären. Neutralität ist nicht gleichbedeutend mit
Indifferenz (s. oben). Im Gegenteil: Schon 1952 hat das Bundesverfassungsgerichts die
freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland als eine wertgebundene
Ordnung" definiert (BVerfGE 2, 1 [12] bezeichnet; vgl. dazu die gleichnamige Webseite).
Daher ist nun erörtern, wie das
Neutralitätsgebot in diesem Rahmen auszugestalten ist.
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3.0 Das
Neutralitätsgebot und die Schule
Wir leben in einer pluralistischen
Gesellschaft, die zunehmend auch multikulturellen Charakter annimmt. Pluralismus
ist keine Theorie, die eine Vielzahl von Werten behauptet, sondern das unausweichliche
Merkmal von Gesellschaften, in denen den Individuen die Wahl ihrer Lebensform
freigestellt ist. Deshalb gewinnen folgende Fragen zunehmend Bedeutung:
- In welchem Sinn ist der Staat zu
Neutralität verpflichtet?
- Wie ist eine schulische Erziehung
möglich, die das Neutralitätsgebot beachtet?
- Welche Aufgabe und welches Ziel
kann Werte-Erziehung in einer solchen Gesellschaft haben?
- Wie lassen sich elterliches
Erziehungsrecht und staatlicher Erziehungsauftrag, die beide im Grundgesetz verankert
sind, miteinander ausgleichen?
Stefan HUSTER (2000) hat
zu diesen Fragen Überlegungen aus der Sicht des Liberalismus entwickelt. Weil sie
Beachtung verdienen, werden die wesentlichen Argumentationslinien hier wiedergegeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat zumal in
seinem Beschluss zur Sexualkunde einige grundsätzliche Ausführungen zu diesen Fragen
gemacht (BVerfGE 47, 46 [71 ff.]).
Die gemeinsame Erziehungsaufgabe
von Eltern und Schule, welche die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes
zum Ziel hat, läßt sich nicht in einzelne Komponenten zerlegen. Sie ist vielmehr
in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen." (a.O. 74)
Der Beschluss führt ferner aus (a.O. 75),
daß die Schule sich nicht anmaßen darf, die Kinder in allem und jedem unterrichten
zu wollen. Der Staat ist verpflichtet, in der Schule die Verantwortung der Eltern für den
Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder zu achten und für die Vielfalt der Anschauungen
soweit offen zu sein, als es sich mit einem geordneten Schulsystem verträgt."
Damit stellt sich die Frage nach dem
Schulzweck und seiner Legitimation. Sie wird auf der Webseite Der
Erziehungsauftrag der Schule und seine verfassungsrechtliche
Legitimation" vertiefend erörtert.
Die Neutralität des Staates versteht HUSTER (a.O. S. 412) in
diesem Zusammenhang nicht als einen umfassenden Verzicht auf Wertorientierung oder als
Wertfreiheit, sondern als ethische Begründungsneutralität. Das staatliche
Handeln muss gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können. Die politische
Ordnung - und ebenso die Schule - hat also unparteiisch zu sein.
Mithin wird der Schulzweck zur
zentralen Denkfigur. Solange sich die Schule in den Grenzen ihres Auftrages
bewegt, ist das Elternrecht nicht berührt. Dabei ist weithin unstrittig, dass in der
öffentlichen Schule bestimmte Inhalte und auch normative Vorgaben unabhängig davon
vermittelt werden dürfen, ob sie mit den Vorstellungen der betroffenen Eltern
übereinstimmen.
So darf die Schule einen eigenständigen Beitrag zur
Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen leisten. Junge Menschen müssen lernen
können, auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit den eigenen ethischen Überzeugungen
inmitten einer Vielzahl von Orientierungsmustern und Lebensformen zurechtzukommen. Und das
Gemeinwesen hat ein legitimes Interesse daran, dass junge Menschen lernen, ihre Pflichten
und Funktionen als Bürger in sozialverträglicher Weise auszufüllen und sich in einer
pluralistischen Gesellschaft zurechtfinden zu können. Eltern müssen eine in dieser Weise
begründete schulische Erziehung ihrer Kinder auch dann hinnehmen, wenn sie ihren eigenen
Auffassungen von Erziehung nicht entspricht.
Das Verfassungsrecht kann dabei nicht dafür sorgen, dass
Rechtsordnung und staatliche Ordnung allen Lebensformen und Überzeugungen in
gleicher Weise entsprechen. Die Verfassung und die Grundrechte sind vor allem deswegen
außerordentlich bedeutsam, weil sie die Offenheit gesellschaftlicher Entwicklungen
sicherzustellen hat, nicht jedoch deren Ergebnis vorwegnehmen darf.
An dieser Stelle ist
eine Anmerkung erforderlich.
Inzwischen ist die Diskussion über die Neutralitätspflicht der
Schule sowohl durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Anbringen
eines Kruzifixes als auch zum Tragen des Kopftuches bei islamischen
Lehrerinnen auf eine andere Ebene gehoben worden. Deren Erörterung an
dieser Stelle muss einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben.
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4.0
Literaturnachweis
- Stefan HUSTER
Staatliche Neutralität und schulische Erziehung
Einige Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher
und sozialphilosophischer Sicht
Neue Sammlung 41 (2001) H. 3, S. 399 - 424
- Bernhard KYTZLER
Unser tägliches Latein
Lexikon des lateinischen Spracherbes
Mainz 1992
Alle weiteren Literaturangaben dieser
Themengruppe werden in der Literaturgrundlage"
zusammengefasst.
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5.0 Anhang: Fundstellen zum Neutralitätsgebot
Das Bundesverfassungsgericht hat sich an
folgenden Stellen zur Neutralitätspflicht des Staates geäußert.
- BVerfGE 19, 206 [216]
- BVerfGE 24, 236 [246]
- BVerfGE 30, 415 [422]
- BVerfGE 32, 98 [106]
|
- BVerfGE 23, 33 [28]
- BVerfGE 41, 29 [49, 50, 51,]
- BVerfGE 41, 65 [84]
- BVerfGE 52, 223 [240 f., 249]
|
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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