Lernen ist Informationsverarbeitung Übersicht 1.0 Der wissenschaftsgeschichtliche Rahmen 1.1 »Kognition« und »kognitive Psychologie« Ulric NEISSER leitet sein Buch »Kognition und Wirklichkeit« mit folgenden Worten ein (1996, S. 13).
Sein 1967 erschienenes Buch »Cognitive Psychology« hat »kognitive Psychologie« zum Begriff werden lassen. Als deren Hauptziel bezeichnet er die Analyse „geistiger Prozesse“, also kognitiver Prozesse. Die frühe wissenschaftliche Psychologie bediente sich dazu einer Methode – Introspektion –, deren Ergebnisse nicht befriedigen konnten, weil sie der Lebenswirklichkeit nicht gerecht wurden. Anders gesagt: Sie waren – mit den Worten von Egon BRUNSWIK (1956) – ökologisch nicht valide (NEISSER 1996, S. 13). Dazu NEISSER (1996, S. 14):
Psychoanalyse und Behaviorismus waren die Antwort auf diese Defizite. Motivation, Emotion und Verhalten wurden die neuen Brennpunkte der psychologischen Arbeit. Der Behaviorismus stieg zur führenden Denkrichtung der Psychologie auf. Weiterführende Information dazu finden Sie auf der Webseite „Lernen ist Verhaltensänderung – Grundzüge des Behaviorismus“. 1.2 Vom Behaviorismus zum Kognitivismus – ein Paradigmenwechsel Trotz eindrucksvoller Leistungen des Behaviorismus war um die Mitte des 20. Jahrhunderts immer deutlicher geworden, dass diese Theorie wegen ihres wissenschaftstheoretischen Rigorismus die mentalen Vorgänge beim Menschen nicht überzeugend erklären konnte. Philip G. ZIMBARDO bringt das auf den Punkt (1988, S. 228):
Kognitive Prozesse wurden also kaum beachtet, nur wenige Psychologen waren an der Frage interessiert, wie Menschen Wissen erwerben. Wahrnehmung, der fundamentale kognitive Akt, wurde allenfalls von den „Gestalt“-Theoretikern studiert (NEISSER 1996, S. 15). Bei dieser Sachlage wurde das Jahr 1956 für die lernpsychologische Theoriebildung zu einem Epochendatum. Damals fand vom 10. - 12. September im Massachusetts Institute of Technology das Symposium on Information Theory statt, an dem sich u.a. die Computerpioniere Allen NEWELL, Herbert SIMON und Marvin MINSKY sowie der Linguist Noam CHOMSKY beteiligten. CHOMSKY präsentierte eine scharfe Kritik am Behaviorismus und stellte seine Transformationsgrammatik vor, die danach außerordentlich einflusssreich werden sollte (die Einzelheiten bei Howard GARDENER 1992, S. 40). Er erneuerte und vertiefte seine Kritik 1959 in einer Besprechung des Buches „Verbal Behavior“, das Burrhus F. SKINNER 1957 veröffentlicht hatte (vg. dazu Manuel MÖLLER, 2006, S. 40, 61). Abermals führte also ein Defizit zu einer neuen Entwicklung. Geistige Prozesse wurden wieder zum bestimmenden Thema des wissenschaftlichen Interesses. Die kognitive Wende als eine wissenschaftliche Revolution zu bezeichnen führte allerdings zu weit, zumal behavioristisches Denken keineswegs obsolet ist. Sie ebnete jedoch den Weg zu bislang versperrten Erkenntnismöglichkeiten. 2.0 Kognitionswissenschaft/kognitive Psychologie 2.1 Der wissenschaftstheoretische Ansatz »Kognitionswissenschaft« bezeichnet einen Wissenschaftszweig, der sich mit der Erforschung kognitiver Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Lernen, Problemlösen, Motorik und Sprache beschäftigt (NEISSER a.a.O., S. 15, sowie MÖLLER a.a.O., S. 31). Hier wirken verschiedene wissenschaftlichen Disziplinen zusammen: Informatik, Linguistik, Neurowissenschaft, Philosophie und Psychologie (vgl. auch den Anhang). Deren Schwerpunkte können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Im Vordergrund standen zunächst Überlegungen, die Analogien zur Computertechnik sahen. Deren zentrale Annahme war das „Computermodell des Geistes“. Wahrnehmungen wurden als abstrakte Symbole kodiert, Denken als die regelhafte Manipulation dieser Symbole verstanden (MÖLLER ebda.). Der Computer wurde für die heutige Psychologie zur bestimmenden Metapher (NEISSER 1996, S. 16). Seit der Entwicklung bildgebender Verfahren in der Medizin verlagerte sich das Interesse weitgehend auf neurowissenschaftliche Forschungen. Sie ließen es plausibel werden, dem Gehirn beim Verarbeiten von Informationen gleichsam zusehen zu können. Diese Forschungen führten zu beachtlichen Ergebnissen. Weiterführende Informationen finden Sie auf den Webseiten der Themengruppe „Natürliche Grundlagen des Lernens“. Für weitergehende Fragen wird auf die Fachliteratur verwiesen, namentlich die Arbeiten von Howard GARDENER (1992), Dieter MÜNCH (1992), Ulric NEISSER (1967/74 sowie 1976/1996), George LAKOFF – Mark JOHNSON (1999); weitere Titel im Literaturnachweis. Insbesondere GARDENERs Buch »Dem Denken auf der Spur - Der Weg der Kognitionswissenschaft« verdient beachtet zu werden. GARDENER gibt einen äußerst informativen Überblick der geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge sowie der aktuellen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen. 2.2 Die Kernaufgabe Das zentrale Thema der Kognitionswissenschaft ist die Verarbeitung von Informationen durch das wahrnehmende Individuum. In den Worten Hans AEBLIs (in Ulrich NEISSER 1996, S. 7): „Wahrnehmung
ist eine Tätigkeit. Zum Abschluss dieser Skizze eine selbstkritische Mahnung, die NEISSER (a.a.O. S. 17 f.) formuliert:
2.3 Denken und Sprechen In der kognitiven Psychologie nehmen die Forschungen des russischen Psychologen Lew Semjonowitsch WYGOTSKI eine Sonderstellung ein. Wegen ihrer Bedeutung dürfen sie hier nicht unerwähnt bleiben. WYGOTSKIs Grundthese lautet, dass Denken und Sprechen zwei verschiedene Bewußtseinsfunktionen sind – verschieden nicht nur in ihrer Erscheinungsform, sondern auch in ihrem phylogenetischen und ontogenetischen Ursprung. Sie verbinden sich erst in der Praxis gesellschaftlicher Vorgänge. Diese – auch bei den Menschenaffen noch nicht „gelungene“ – Verbindung ist die Voraussetzung für die Entstehung der Kultur und des menschlichen Individuums (WYGOTSKI 1969, S. VI). Höhere geistige Funktionen sieht WYGOTSKI (nach WIKIPEDIA) durch funktionale Verbindungen zwischen verschiedenen niederen geistigen Funktionen realisiert. Diese Verbindungen entstehen in einem kulturellen Kontext, nämlich der Kommunikation mit anderen Menschen. Da Kommunikation unter Verwendung kulturell gewachsener Zeichensysteme geschieht, fällt dem Zeichen die Organisation dieser Verbindungen zu. Zeichen sind in den sozialen und kulturellen Zusammenhang eingebettet, in dem ein Mensch aufwächst. Deshalb sind sie für die kognitive Entwicklung des Menschen besonders bedeutsam. Mit »Zeichen« meint WYGOTSKI insbesondere die Sprache, so dass sein Hauptwerk den Zusammenhang von Denken und Sprechen untersucht. Eine knappe Übersicht seiner Überlegungen finden Sie auf der Webseite „Entwicklungsstufen von Sprache und Denken nach Lew S. WYGOTSKI“. Die soziale Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden spielt für WYGOTSKI eine hervorgehobene Rolle, weil er alles menschliche Wissen als sozial konstruiertes Wissen versteht. Somit berühren sich seine Gedanken mit den Auffassungen Michael TOMMASELLIs, die auf der Webseite „Lernen ist Nachahmung – Soziales Lernen“ vorgetragen werden. 2.4 Konsequenzen für das Verständnis von Lernen Die kognitive Wende war für die Didaktik außerordentlich bedeutsam. In den USA entwickelten David P. AUSUBEL und Jerome S. BRUNER ihre Konzepte des sinnvollen/bedeutungserzeugenden bzw. generativen/entdeckenden Lernens. Dazu die Webseiten In Europa entwarf Jean PIAGET sein tiefschürfendes Konzept zur Entwicklung der Intelligenz. Dessen Grundgedanke ist konstruktivistisch, Lernen ist eine Tätigkeit. Vor allem Hans AEBLI hat PIAGETs Konzept für das Lernen erschlossen und daraus eine »operative« Didaktik entwickelt. Auf folgende Webseiten wird verwiesen: PIAGET:
AEBLI: 3.0 Literaturnachweis Hier werden nur die Titel verzeichnet, auf die sich dieser Text unmittelbar bezieht.
Die
Literaturnachweise für die weiteren Webseiten Ein
zusammenfassendes Literaturverzeichnis Anhang: Kognition Das »Wörterbuch Psychologie« von Werner D. FRÖHLICH (2002, S. 258) gibt folgende Definitionen: Kognition (cognition) [1] (a) Gesamtheit aller Funktionen und Prozesse, die mit dem Erwerb, der Speicherung und Wiederverwendung von anschaulichen und abstrakten Erkenntnissen, Einsichten und Wissen zu tun haben. (b) Der klassischen Unterteilung psychischer Phänomene in »Denken«, »Fühlen« und »Wollen« entsprechend ist Kognitionspsychologie der Oberbegriff für Wahrnehmungs-, Denk-, Intelligenz-, Sprach- und Gedächtnispsychologie. K. wird den (Fühlen) und Aspekten (Wollen) des Erlebens gelegentlich auch wertend im Sinne von Erkenntnisfunktion gegenübergestellt. [2] (a) Als »K. von etwas« strukturierte Erkenntniseinheit, die auf Sinneserfahrungen, Vorstellungen, Erinnerungen und/oder Denken beruht, in der Erkanntes eingebettet, repräsentiert ist und die als aussagbares Wissen abgerufen werden kann, um beim Denken, Problemlösen, Planen, aber auch in Form von Erwartungen oder Vermutungen genutzt zu werden. (b) Ordnungsprinzip, das den Umgang mit symbolischen Repräsentationen von Erfahrungen, ihren hierarchischen Aufbau und ihre Nutzung in Denken und Sprache. [3] Kognitionswissenschaft (cognitive science): Interdisziplinäre Ansätze aus Informatik, Kybernetik, Linguistik, Kognitionspsychologie und/oder Neurowissenschaften zur Erforschung von Prozessen der Wissensvermittlung oder -nutzung (z.B. künstliche Intelligenz) und wissensgeleiteter interaktiver oder selbstregulatorischer kybernetischer Prozesse (z.B. Expertensystem; Roboting). [ Zurück
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von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 03.09.18
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