Lernen
ist Nachahmung Übersicht 1.0 Der Ur-Grund des Lernens 1.1 Drei Grundformen menschlichen Lernens Vormachen und Nachmachen sind so selbstverständliche Formen des Lehrens und Lernens, dass sie auf den ersten Blick keiner besonderen Beachtung bedürfen. Dennoch erweist sich Nachahmung – Imitation – bei genauerer Betrachtung als die Grundlage der Kultur. Der Primatenforscher Michael TOMASELLO (2003, 2006) beschreibt drei Grundformen menschlichen Lernens. Er sieht in ihnen die – im buchstäblichen Wortsinn – „Grund legenden“ Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung.
Diese Grundformen durchdringen einander, wobei die Nachahmung im Vordergrund steht. Dafür entwirft TOMASELLO folgenden Begründungszusammenhang. 1.2 Die besondere Eigenart menschlichen Lernens Durch Sequenzanalyse hat sich herausgestellt, dass die Unterschiede zwischen dem Genom des Menschen und dem des Schimpansen erstaunlich gering sind. Die Evolution des Menschen hat jedoch innerhalb – evolutionsbiologisch gesehen – sehr kurzer Zeit so große Unterschiede der kognitiven Fähigkeiten zwischen ihm und den übrigen Primaten hervorgebracht, dass sie mit den bekannten Mechanismen der Evolution nicht hinreichend erklärt werden können. TOMASELLO hat sich deshalb die Aufgabe gestellt zu klären,
Dazu stellt er die These auf, dass die menschliche Kognition aufgrund der menschlichen Gemeinschaft so ist, wie sie ist (2003, S.10):
Seine Erkenntnisse fasst er in einem Schlüsselbegriff zusammen. Er lautet (2003, S. 14; 2006, S. 20): »Kumulative kulturelle Weitergabe« Soziale und kulturelle Weitergabe von Fähigkeiten gibt es in mancherlei Spielarten auch bei Tieren, insbesondere den Primaten. Menschen jedoch nutzen eine einzigartige und außerordentlich effiziente Form der kulturellen Weitergabe. Kenntnisse und Fähigkeiten, die einmal erworben worden sind, gehen weniger oft verloren. TOMASELLO bezeichnet das als „Wagenheber-Effekt“. Er schreibt (a.a.O.):
Menschen können ihre kognitiven Fähigkeiten in einer Weise bündeln, die bei anderen Tierarten nicht zu beobachten ist, auch nicht bei den Primaten. Dafür muss es eine spezifische Voraussetzung geben. TOMASELLO sieht sie in der einzigartigen Fähigkeit jedes einzelnen Individuums gegeben, die anderen Individuen als ein ihm ähnliche Wesen zu verstehen. Nur der Mensch kann sich also in die geistige Welt einer anderen Person hineinversetzen. Deshalb kann er nicht nur vom anderen, sondern auch durch den anderen lernen und sich so mit ihm identifizieren. Nachmachen, Vormachen, Zeigen, Unterweisen, Weitergeben, Vermitteln und Verbessern – dies alles in dem Rahmen einer sozial-kollektiven Dimension – haben eine unerhörte Dynamik der kulturellen Entwicklung in Gang gesetzt. Sie hat nicht in einem biologischen, sondern in einem historischen Zeitrahmen zu der Sonderstellung des Menschen geführt und die ebenso hoch wie differenziert entfaltete Kultur begründet, deren Zeitgenossen wir sind. 1.3 Lernen als Aufgabe in der Gegenwart Kinder, junge Menschen wachsen in die Kultur, die sie vorfinden, hinein und machen sie sich lernend zu eigen. Weil diese Leistung unzählige Male erbracht wird, scheint sie selbstverständlich, ist es aber nicht. Die Lernaufgabe ist – zumal in einer hochentwickelten Spätkultur – gigantisch. TOMASELLOs Überlegungen liefern den Schlüssel dafür, deren gelingende Bewältigung zu verstehen (a.a.O., S. 21). Er besteht in der einzigartigen sozio-kognitiven Anpassung des Menschen für die Identifikation mit anderen. Sie befähigt die Kinder, durch Imitation und Verstehen in die Welt der Kultur einzudringen und am Kollektiv der menschlichen Kognition teilzuhaben. Zentral wichtig ist es bei diesem Prozess, die sprachlichen und anderen kommunikativen Symbole zu erwerben. TOMASELLO nennt für seine Forschungsergebnisse keine Ursachen. Diese dürften in einer neurologischen Struktur bestehen, die erst kürzlich entdeckt worden ist – den Spiegelneuronen. Weiterführende Informationen dazu finden im Anhang. Folgt man den hier referierten Überlegungen, so sie führen sie dazu, die Aufgabe der Schule in einem anderen Licht zu sehen, als es traditionell üblich ist. Zu dieser Tatsache finden sie weiterführende Information auf der Webseite „Evolutionäre Pädagogik und Didaktik“; für eilige Surfer wird dort auf Nr. 1.3 hingewiesen. 2.0 Soziales Lernen 2.1 Begriffsklärung »Soziales Lernen« ist ein oft bemühter und überaus positiv besetzter Begriff. Deshalb ist es wichtig, sich über ihn zu verständigen. Guy LEFRANÇOIS (2006, S. 310) sieht zwei Aspekte: Soziales Lernen
Beide Aspekte haben lediglich analytisch-beschreibende Funktion, weil sie in der Lebenswirklichkeit ineinander übergehen.
ist. Akzeptanz bzw. Erfolg sind keine generell gültigen Kategorien. Sie richten sich vielmehr nach den Maßstäben der Gruppe, der ein Individuum angehört. So kann z.B. zwischen den „Werten“ einer Gang von Halbwüchsigen und den Werten der Gesellschaft, wie zumal in Großstädten zu beobachten ist, eine krasse Diskrepanz bestehen. Insgesamt stellt sich die Frage, woran sich das lernende Individuum orientiert und von welchen Zusammenhängen sein Lernen bestimmt wird. 2.2 Nachahmung – eine zentrale Kategorie der Sozialpsychologie Vergegenwärtigt man sich die Argumente TOMASELLOs, so ist es geradezu eine Binsenweisheit, dass Lernen weitgehend durch Beobachten eines Vorbildes oder Modells, also durch Nachahmung stattfindet. Für alle Fähigkeiten und Fertigkeiten der elementaren Lebensbewältigung ist das selbstverständlich. Ebenso gilt es auch in der entwickelten Kultur für das Erlernen handwerklicher, technischer oder künstlerischer Fertigkeiten. Anders gesagt: Kaum eine komplexe Fähigkeit kann nur durch Zufall oder Versuch und Irrtum erlernt werden, sondern nur durch eine Kombination von Nachahmung und Instruktion. Lernen ereignet sich in der Interaktion zwischen Individuen. Mithin ist Imitation, Lernen durch Nachahmung von fundamentaler Bedeutung, denn es ist geradezu der Inbegriff des sozialen Lernens. Das hat insbesondere Albert BANDURA herausgearbeitet. Während Imitationslernen zunächst nur als eine Spielart des operanten Lernens verstanden wurde, hat BANDURA erkannt, dass kognitive Aktivitäten wie Vorstellung, und Erwartung bedeutsam sind, und eine sozial-kognitive Theorie des Lernens entworfen (LEFRANÇOIS a.a.O., S. 312). Ihr Kerngedanke lautet wie folgt:
2.3 Modelle In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt BANDURA das Modell, weil Modelle einen großen Teil unseres Lernens bestimmen. Als Modell werden nicht nur reale Personen verstanden. Auch mündliche oder schriftliche Instruktionen, Bilder, Charaktere eines Buches, Theaterstücks, Films oder Cartoons, ferner – und vor allem – computergestützte Simulationen können Modelle sein. Insgesamt werden sie als symbolische Modelle bezeichnet. Deshalb empfiehlt LEFRANÇOIS folgende Definition (a.a.O., S. 312): Jede Repräsentation eines Verhaltensmusters stellt ein Modell dar. 2.4 Prozesse beim Beobachtungslernen Beobachtungslernen findet nicht einfach als solches statt, sondern unterliegt vier Voraussetzungen (LEFRANÇOIS a.a.O., S. 313 f.).
2.5 Vier Wirkungen von Modellen Modelle können in viereierlei Weise wirken:
Besonders wirksam ist dabei die Beziehung des beobachtenden Individuums zum beobachteten Modell. Kinder und Jugendliche imitieren Modelle, die ihnen aus persönlicher Zuneigung oder wegen deren sozialen Prestiges wichtig sind. Die Imitation ist nicht selten sehr ausgeprägt und geht bis zur Identifikation mit dem Modell. Unverkennbar liegt diesen Auffassungen die Theorie der operanten Konditionierung zugrunde. BANDURA geht jedoch über diesen Ansatz hinaus. Unbestreitbar wird unser Verhalten durch mächtige biologische Kräfte geformt. Dennoch bezeichnet er es als das Wichtigste: Wir sind die Handelnden, wir sind für unsere Handlungen verantwortlich. In diesem Zusammenhang stellt BANDURA heraus: Sogar beim operanten Lernen ist am wichtigsten unsere Fähigkeit zu denken, zu symbolisieren, Ursache-Wirkung-Beziehungen zu erkennen, die Folgen eigenen wie auch fremden Handelns gedanklich vorwegzunehmen. Ferner streben wir danach, die Kontrolle über Ereignisse zu behalten, die wir beeinflussen LEFRANÇOIS (a.a.O., S. 318). Dazu dienen drei Kontrollsysteme. Sie wirken in der Verhaltenssteuerung eng zusammen.
Für verantwortliches Handeln am wichtigsten ist die symbolische Kontrolle. Dabei handelt es sich um alle Denk- und Entscheidungsprozesse, die das eigene Handeln durch Reflexion steuern und dem Handelnden gestatten, sich selbst als Urheber seiner Handlungen zu erleben. Wichtige Elemente sind
3.0 Bedeutung für Unterricht und Erziehung 3.1 Unterricht Imitationslernen ist für alle Lerngegenstände wichtig, bei denen es wesentlich auf den Erwerb motorischer Fähigkeiten ankommt. Das sind Handwerke aller Art, alle Disziplinen des Sports, Musikinstrumente, nicht zuletzt Sprachen. Didaktische Einzelheiten brauchen hier nicht erörtert zu werden. 3.2 Erziehung Die Bedeutung wenn nicht gar Brisanz des Beobachtungslernens folgt aus der medientechnologischen Revolution; die zu Fernsehen, Video und Computertechnik geführt hat. Wie LEFRANÇOIS (a.a.O., S. 316) betont, sind die älteren Lerntheorien lange Zeit vor dieser medientechnologischen Revolution formuliert worden, konnten sie also nicht berücksichtigen. BANDURA hingegen bezieht die außerordentliche Macht der symbolischen Medien in seine Überlegungen ein. Die Wirkung der Bildmedien, insbesondere des Fernsehens und der Computerspiele wird in der Öffentlichkeit wie in der Fachwissenschaft breit diskutiert. An dieser Stelle soll jedoch allein die Bedeutung und mögliche Wirkung von Modellen bzw. Vorbildern betrachtet werden. Im Literaturverzeichnis finden Sie unter Nr. 5.2 weiterführende Informationen.
Sich dieser Botschaft entziehen kann nur, wer seelisch gefestigt ist. Das führt in das Zentrum der erzieherischen Aufgaben. 3.3 Folgerungen An dieser Stelle ist nur eine kurze Skizze möglich.
Das heißt u.a.:
so dass sich junge Menschen als selbstsichere Urheber ihrer Handlungen erleben und zu urteilssicherer Distanz gegenüber Fremdeinflüssen fähig werden. 4.0 Anhang: Spiegelneuronen Die Spiegelneuronen wurden 1991 in Parma von Vittorio GALLESE, Giacomo RIZZOLATTI und Mitarbeitern zufällig entdeckt. Diese Nervenzellen lösen im Hirn eines Individuums, während es das Verhalten anderer Individuen betrachtet, die gleichen Aktivitäten aus, als wenn es selbst in dieser Weise agierte. Der Begriff »Spiegelneuron« verdeutlicht also die spiegelbildliche Aktivierungsform dieser Nervenzellen. Weitere Forschungen in den Jahren seit 1996 führten zu Ergebnissen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (Peter MARKL, 2007):
RIZZOLATTI führt dazu aus (zitiert nach Peter MARKL, 2007):
In der Fachwelt wurden die Spiegelneuronen als epochale Entdeckung gewürdigt. So äußerte sich der Neurowissenschaftler Vilayanur RAMACHANDRAN, Universität San Diego, wie folgt (zitiert nach Peter MARKL, 2005):
Neuerdings werden diese Aufstellungen kritisch gesehen. Gregory Hickok spricht in seinem Buch "Warum wir verstehen, was andere fühlen" (München 2015) vom "Mythos Spiegelneuronen". 5.0 Literaturnachweise 5.1 Grundlage dieses Textes
5.2 Wirkung der Bildmedien Im Internet finden Sie schnell zugängliche Grundinformationen zur Wirkung von Bildmedien:
Eine systematische Einordnung der Problematik finden Sie bei folgenden Autoren:
Für weitere Informationen wird auf folgende Webseiten verwiesen: 5.3 Spiegelneuronen Im Internet schnell zugängliche Grundinformationen finden Sie bei
Hingewiesen wird ferner auf folgende Titel:
Die
Literaturnachweise für die weiteren Webseiten Ein
zusammenfassendes Literaturverzeichnis [ Zurück
zur Übersicht ] Ausgearbeitet
von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 24.05.15
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