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Der Vorbehalt des Gesetzes

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
      1.1 Verfassungsrechtliche Voraussetzungen

      1.2 Anwendungen - Die Wesentlichkeitstheorie
2.0 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
3.0 Texte
4.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Zum sachgerechtem Verständnis ist eine Vorbemerkung erforderlich. Da das hier behandelte Thema überaus komplex ist, können die folgenden Ausführungen lediglich eine einführende Skizze sein. Der Verfasser der Bausteine hält es jedoch für angebracht, wenigstens dessen Grundzüge vorzustellen, um damit eine Entwicklung verständlich zu machen, die als »Verrechtlichung« der Schule bezeichnet und - oft auch scharf - kritisiert worden ist. In Wirklichkeit handelte es sich um die Einsicht, dass die Schule kein rechtsfreier Raum ist.
     Wenn Sie sich in die Materie vertiefen wollen - was sich lohnt -, finden Sie bei Norbert NIEHUES (2000, Rdn. 88 - 121, S. 41 - 59) eine ebenso klare wie profunde Darstellung.

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1.1 Verfassungsrechtliche Voraussetzungen

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland führt in Artikel 20 'Grundsätze der Verfassung' auf; sie sind so bedeutsam, dass in Artikel 79 Absatz 3 deren Änderung untersagt ist. Einer dieser Grundsätze ist das Rechtsstaatsgebot; er wird auch als „Vorbehalt des Gesetzes" bezeichnet, ist in Artikel 20 Abs. 3 verankert und lautet:

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."

Diese Verfassungsvorschrift folgt aus dem Prinzip der Volkssouveränität, dem Demokratiegebot, das in Artikel 20 Abs. 2 verankert ist; der Text lautet:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."

Der Vorbehalt des Gesetzes wird zusätzlich in Artikel 80 Abs. 1 konkretisiert; der Text lautet:

„Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben." ...

Die Bedeutung des Gesetzesvorbehaltes ist in ihrer ganzen Tragweite zunächst nicht erkannt worden. Für das Schulwesen wurde das Rechtsstaatsgebot erst in den rechtspolitischen Diskussionen der siebziger Jahre zur Geltung gebracht.
     Rechtslehre sowie höchstrichterliche Rechtsprechung stimmen seit Mitte der siebziger Jahre in folgendem Standpunkt überein:

„Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen im Schulverhältnis selbst zu treffen und nicht dem Ermessen der Verwaltung zu überlassen. (...) Das gilt insbesondere für die der staatlichen Gestaltung offenliegende Rechtssphäre im Bereich der Grundrechtsausübung (...)." (Beschluss vom 22. Juni 1977 - BVerfG 1 BvR 799/76 - BVerfGE 45, 400 [417 f.]).

In ähnlichem Wortlaut wird der Beschluss vom 27. Januar 1976 - BVerfG 1 BvR 2325/73 - BVerfGE 41, 251 [260] formuliert; ebenso auch das BVerwG im Urteil vom 15. November 1974 - VII C 12.74 - BVerwGE 47, 201. Darin wird deutlich, dass »wesentlich« kein dogmatischer, sondern ein heuristischer Begriff ist (vgl. Norbert NIEHUES 2000, Rdn. 101, S. 47).

Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch auch eine Grenze gezogen. In seinem Beschluss vom 8. August 1978 - BvL 8/77 - ´BVerfGE 49, 89 [124 f.] führt es aus:

„Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen. [...] Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden."

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1.2 Anwendungen - Die Wesentlichkeitstheorie

Diese sog. „Wesentlichkeitstheorie" hat seitdem Gesetzgebung und Rechtsprechung geprägt. In allen deutschen Bundesländern werden nunmehr die schulischen Regelungsgegenstände, die in die originäre Rechtssphäre von Schülern und Eltern eingreifen, im jeweiligen Schulgesetz geregelt.
     NIEHUS (a.a.O. Rdn. 116, S. 55) nennt folgende Bereiche, die insbesondere einer parlamentarischen Leitentscheidung bedürfen:

  • Die für den schulischen Grundstatus (Aufnahme und Entlassung des Schülers) maßgeblichen Kriterien (dazu Rdn. 316 ff., S. 150 ff.);
  • Die für die Schullaufbahn und damit für das elterlichen Auswahlrecht wichtigen
    Vorgaben (dazu Rdn. 159 ff., S. 80 f. sowie Rdn. 584, S. 280);
  • Die Einführung oder Änderung wertgebundenen, insbesondere religiös-weltanschaulich orientierten Unterrichts (dazu Rdn. 498, S. 235 sowie Rdn. 535 ff., S. S. 255 ff.);
  • Die Voraussetzungen schulischer Abschlüsse (dazu Rdn. 593, S. 285 sowie Rd. 601, S. 290).

In den »Bausteinen« finden Sie zu dieser Thematik folgende Webseiten:

Die Bedeutung, die das Grundgesetz insgesamt für das Schulwesen hat, wird auf folgenden Webseiten dargestellt:

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2.0 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht ist immer wieder angerufen worden, weil sich Bürger gegen Regelungen der Exekutive mit dem Einwand zur Wehr setzten, diese seien ohne die nach der Verfassung erforderliche gesetzliche Legitimation ergangen.
     Den Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis hat das Bundesverfassungsgericht in den folgenden vier Streitfällen bekräftigt:

1. Förderstufe in Hessen
Urteil vom 6. Dezember 1972 - 1 BvR 230/70 und 95/71 - BVerfGE 34, 165 [192 f.]
2. Schulverweis vom Speyer-Kolleg
Beschluss vom 27. Januar 1976 - 1 BvR 2325/73 - BVerfGE 41, 251 [259 f.]
3. Oberstufenreform in Hessen
Beschluss vom 22. Juni 1977 - 1 BvR 799/76 - BVerfGE 45, 400 [417]
4. Sexualerziehung in Hamburg
Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -
BVerfGE 47, 46 [78 f.] (vgl. unten Nr. 3.3

Daneben gibt es zahlreiche weitere Streitfälle aus anderen Lebensbereichen, in denen sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Vorbehalt des Gesetzes auseinandergesetzt hat. Seine Entscheidungen ergingen nicht nur im Sinne der Beschwerdeführer, sondern auch abschlägig.

5. Rechtsschutzverfahren im Strafvollzug
Beschluss vom 28. Oktober 1975 - 2 BvR 883//3, 379, 497, 526/74 -
BVerfGE 40, 237 [249] (vgl. unten Nr. 3.2)
6. Besteuerung von Einkünften aus dem Ausland
Beschluss vom 19. April 1978 - 2 BvL 2/75 - BVerfGE 48, 210 [221] (vgl. unten Nr. 3.1)
7. Nutzung der Kernenergie
Beschluss vom 8. August 1978 - 2 BvL 8/77 - BVerfGE 49, 89 [226 f.] (vgl. unten Nr. 3.4)
8. Vertrag über Stationierung ausländischer Streitkräfte
Beschluss vom 29. Oktober 1987 - 2 BvR 624, 1008, 2029/83 -
BVerfGE 77, 170 (230 f.]
9. Zwischenlagerung von Brennelementen
Beschluss vom 26. Januar 1988 - 1 BvR 1561/82 - BVerfGE 77, 380 [403]

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3.0 Texte

Im folgenden werden einige Textpassagen aus Urteilen bzw. Beschlüssen des BVerfG vorgestellt, die den Vorbehalt des Gesetzes herausarbeiten und für die Wesentlichkeitstheorie repräsentativ sind. Die Anordnung folgt sachsystematischen Gesichtspunkten.

BVerfGE 48, 221 (s. oben Nr. 6)
Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt sich der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Er dient der Gewährleistung der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheit und Gleichheit der Bürger. Das Erfordernis der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage soll zugleich sicherstellen, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Grundentscheidungen trifft, die den Freiheits- und Gleichheitsbereich der Bürger betreffen.

BVerfGE 40, 248 f. (s. oben Nr. 5)
Der Grundsatz des Vorbehalts des (allgemeinen) Gesetzes wird im Grundgesetz nicht expressis verbis erwähnt. Seine Geltung ergibt sich jedoch aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, der Vorrang des Gesetzes also, würden ihren Sinn verlieren, wenn nicht schon die Verfassung selbst verlangen würde, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur Rechtens ist, wenn es durch das förmliche Gesetz legitimiert wird.
     Welche Bereiche das im einzelnen sind, lässt sich indessen aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr unmittelbar erschließen. Insoweit ist vielmehr auf die jeweils betroffenen Lebensbereichen und Rechtspositionen des Bürgers und die Eigenart der Regelungsgegenstände insgesamt abzustellen. Die Grundrechte mit ihren speziellen Gesetzesvorbehalten und mit den in ihnen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen geben dabei konkretisierende, weiterführende Anhaltspunkte.
     Die von der konstitutionellen, bürgerlich-liberalen Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts geprägte Formel, ein Gesetz sei nur dort erforderlich, wo „Eingriffe in Freiheit und Eigentum" in Rede stehen, wird dem heutigen Verfassungsverständnis nicht mehr voll gerecht (vgl. BVerfGE 8, 155 [167]).
     Im Rahmen einer demokratisch-parlamentarischen Staatsverfassung, wie sie das Grundgesetz ist, liegt es näher anzunehmen, dass die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muss, und zwar losgelöst von dem in der Praxis fließenden Abgrenzungsmerkmal des „Eingriffs".
     Staatliches Handeln, durch das dem Einzelnen Leistungen und Chancen gewährt und angeboten werden, ist für eine Existenz in Freiheit oft nicht weniger bedeutungsvoll als das Unterbleiben eines „Eingriffs". Hier wie dort kommt dem vom Parlament beschlossenen Gesetz gegenüber dem bloßen Verwaltungshandeln die unmittelbare demokratische Legitimation zu, und das parlamentarische Verfahren gewährleistet ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen. All das spricht für eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die überkommenen Grenzen hinaus.

BVerfGE 47, 78 f. (s. oben Nr. 4)
Als entscheidender Fortschritt dieser Rechtsauffassung ist es anzusehen, dass der Vorbehalt des Gesetzes von seiner Bindung an überholte Formeln (Eingriff in Freiheit und Eigentum) gelöst und von seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt wird, auf dem aufbauend Umfang und Reichweite dieses Rechtsinstituts neu bestimmt werden können. Die Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass die Abgrenzung der dem Gesetzgeber vorbehaltenen Entscheidungen mit dem Begriff „wesentlich" umschrieben wird (vgl. Kisker, Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages Bd. 11, Sitzungsberichte M 82; Pieske, a.a.0., S. 677).
     Auf dem 51. Deutschen Juristentag wurde in der Diskussion (vgl. a.a.O., M 108 ff. und M 115) darauf hingewiesen, dass „wesentlich" als zunächst heuristischer Begriff und nicht als Beitrag zur Dogmatisierung zu verstehen sei, als ein Begriff, der im Grunde nur eine Binsenweisheit ausspreche, dass nämlich die wirklich wichtigen Dinge in einem parlamentarisch-demokratischen Staatswesen vor das Parlament gehörten. Bei der Abgrenzung im einzelnen wird man mit großer Behutsamkeit vorgehen und sich die Gefahren einer zu weitgehenden Vergesetzlichung, die gerade für das Schulverhältnis missliche Folgen haben könnte, vor Augen halten müssen.
     Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muss oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz. Hier vermittelt der Schutz der Grundrechte einen wichtigen Gesichtspunkt. Die meisten Grundrechtsartikel sehen ohnehin vor, dass Eingriffe nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig sind. Außerdem entspricht ihre Sicherung durch Einschaltung des Parlaments dem Ansatze nach der überkommenen Vorbehaltslehre, ohne dass allerdings zwischen Eingriffen und Leistungen zu unterscheiden ist.
     Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet somit „wesentlich" in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" (vgl. BVerfGE 34, 165 [192] - hess. Förderstufe; 40, 237 [248 f.] - Rechtsschutzverfahren im Strafvollzug; 41, 251 [260 f.] - Speyer-Kolleg).

BVerfGE 49, 126 (s. oben Nr. 7)
Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes wird zwar in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt, seine Geltung ergibt sich jedoch aus Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfGE 40, 237 [248]). Das Verständnis dieses Grundsatzes hat sich, insbesondere mit der Erkenntnis auch seiner demokratischen Komponente, in den letzten Jahren gewandelt [...].
     Heute ist es ständige Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, - losgelöst vom Merkmal des „Eingriffs" - in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (BVerfGE 34, 165 [192 f.]; 40, 237 [249]; 41, 251 [260]; 45, 400, [417 f.]; 47, 46 [78 ff.]; 48, 210 [221]). Die Art. 80 Abs. 1 und 59 Abs. 2 Satz 1 zweiter Halbsatz GG sowie die besonderen Gesetzesvorbehalte sind Ausprägungen dieses allgemeinen Gesetzesvorbehalts.
     In welchen Bereichen danach staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage im förmlichen Gesetz bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung ermitteln. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei in erster Linie den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechten zu entnehmen.
     Nach den gleichen Maßstäben beurteilt sich, ob der Gesetzgeber, wie der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt weiter fordert (BVerfGE 34, 165 [192]), mit der zur Prüfung vorgelegten Norm die wesentlichen normativen Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs selbst festgelegt und dies nicht dem Handeln etwa der Verwaltung überlassen hat.

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4.0 Literaturnachweis

Hier wird nur die Literatur verzeichnet, auf die sich der Text des Bausteins unmittelbar bezieht. Alle weiteren Literaturangaben dieser Themengruppe werden in der „Literaturgrundlage" zusammengefasst.

  • Norbert NIEHUES
    Schul- und Prüfungsrecht
         Band 1: Schulrecht
         München 2000, 3. neubearbeitete Auflage
         Band 2: Prüfungsrecht
         München 1994, 3. Auflage; (geplant) 2003, 4. Auflage
  • Thomas OPPERMANN
    Nach welchen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen
    und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen?
    Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag
    München 1976

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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