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»Naturrecht«
Versuch einer Klärung
1.0 Das Problemfeld
Das Naturrecht hat das Denken der Neuzeit
tief geprägt. Dennoch wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Denkschule des
Rechtspositivismus verdrängt. Allein das in Gesetzen gefasste Recht hatte Geltung, das
naturrechtliche Denken schien überholt.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes waren die Menschen mit der
Frage konfrontiert, wie es im Rahmen einer hochdifferenzierten Rechtsordnung zu dessen
ungeheuerlichen Verbrechen kommen konnte und wie sie zu ahnden seien. Die verstörende
Entdeckung, dass Gesetze und Anordnungen staatlicher Instanzen massives Unrecht waren,
führte zu einem Rückgriff auf das Naturrecht.
Der Heidelberger Rechtsphilosoph und Strafrechtler Gustav
RADBRUCH hat diese Rückbesinnung eingeleitet und, Maßstäbe setzend, geprägt. Fritz
BAUER hat RADBRUCHs Leistung in einem 1968 posthum erschienenen Aufsatz eindrucksvoll
gewürdigt. Als Generalstaatsanwalt in Frankfurt hatte er entscheidenden Anteil daran,
dass sich zahlreiche SS-Männer für die von ihnen im Konzentrationslager Auschwitz
begangenen Verbrechen vor Gericht verantworten mussten - für Taten, die im Sinne des
NS-Regimes legal waren. Die damals von RADBRUCH ausgelöste tiefschürfende Erörterung
der Thematik wurde von Werner MAIHOFER (1962) dokumentiert und dauert bis auf den heutigen
Tag an.
Dieser Baustein dient lediglich dazu, das Naturrecht vorzustellen
und seine Bedeutung für die Problemlage mittels eines markanten Beispiels verständlich
zu machen. Eine ausführliche und vertiefende Darstellung des Verhältnisses von Naturrecht
und Gesetzesrecht finden Sie auf der Webseite Legalität,
Legitimität und Loyalität".
2.0 Was ist »Naturrecht«?
Eine provisorische Antwort kann lauten:
Unter Naturrecht ist das Recht zu
verstehen, das sich aus der menschlichen Natur ableitet und das aus der menschlichen
Vernunft erkennbar ist. Es ist daher für alle Zeiten gültig.
Dieses Denken wurzelt in der antiken
Philosophie und der christlichen Theologie (Thomas von AQUIN). Entfaltet wurde es in der
Zeit des Rationalismus. Durch Naturrecht bestimmte Überzeugungen haben vor allem zur
Formulierung der Menschenrechte und zur Entwicklung moderner demokratischer Verfassungen
beigetragen. In der Gegenwart ist naturrechtliches Denkens deswegen wieder bedeutsam und
aktuell geworden, weil es Staaten gab und weiterhin gibt, deren Gesetze ein Handeln
gebieten oder dulden, das als Unrecht anzusehen ist. Der Maßstab dafür kann allein im
Naturrecht gefunden werden.
Sachlichen Kern und -
mehr noch - emotionale
Tiefe naturrechtlichen Denkens
hat wohl niemand so eindrucksvoll in Worten "verdichtet" wie Friedrich SCHILLER.
Im "Rütlischwur" seines Dramas "Wilhelm Tell" lässt
er Stauffacher in
dessen großer Rede formulieren (2.
Akt, 2. Szene):
Wenn der
Gedrückte nirgends Recht kann finden
Wenn unerträglich wird die Last - greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ewigen Rechte
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst -
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht."
In wissenschaftlicher Sicht ist das
Naturrecht jedoch wesentlich komplexer, vielschichtiger und wohl auch widersprüchlicher,
als hier dargestellt werden kann. Für vertiefende Lektüre eignen sich die
Aufsatzsammlung von Werner MAIHOFER (1962) und der Aufsatz von Erich
FECHNER (1968, S. 161 ff.)
3.0 Gustav RADBRUCH
3.1 Fünf Minuten
Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte"
Niemand hat das Spannungsfeld von
Gesetzesrecht und Naturrecht so eindruckvoll dargestellt wie Gustav RADBRUCH.
1945 verfasste er für seine Studenten ein Merkblatt mit dem
Titel Fünf Minuten Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte". Am 12.
September 1945 machte er es in der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung auch der weiteren
Öffentlichkeit zugänglich.
Der Text lautet wie folgt:
- Erste Minute
Befehl ist Befehl, heißt es für den Soldaten. Gesetz ist Gesetz, sagt der Jurist.
Während aber für den Soldaten Pflicht und Recht zum Gehorsam aufhören, wenn er weiß,
dass der Befehl ein Verbrechen oder ein Vergehen bezweckt, kennt der Jurist, seit vor etwa
hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben sind, keine
solchen Ausnahmen von der Geltung des Gesetzes und vom Gehorsam der Untertanen des
Gesetzes. Das Gesetz gilt, weil es Gesetz ist, und es ist Gesetz, wenn es in der Regel der
Fälle die Macht hat, sich durchzusetzen.
Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung (wir nennen sie
die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so
willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes
das Recht der Macht gleich: nur wo die Macht ist, ist das Recht.
- Zweite Minute
Man hat diesen Satz durch einen anderen Satz ergänzen oder ersetzen wollen: Recht ist,
was dem Volke nützt.
Das heißt: Willkür, Vertragsbruch, Gesetzwidrigkeit sind,
sofern sie nur dem Volke nützen, Recht. Das heißt praktisch: was den Inhaber der
Staatsgewalt gemeinnützig dünkt, jeder Einfall und jede Laune des Despoten, Strafe ohne
Gesetz und Urteil, gesetzloser Mord an Kranken sind Recht. Das kann heißen: der Eigennutz
der Herrschenden wird als Gemeinnutz angesehen. Und so hat die Gleichsetzung von Recht und
vermeintlichem oder angeblichem Volksnutzen einen Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat
verwandelt.
Nein, es hat nicht zu heißen: alles, was dem Volk nützt, ist
Recht, vielmehr umgekehrt: nur was Recht ist, nützt dem Volke.
- Dritte Minute
Recht ist Wille zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber heißt: Ohne Ansehen der Person
richten, an gleichem Maße alle messen.
Wenn die Ermordung politischer Gegner geehrt, der Mord am
Andersrassigen geboten, die gleiche Tat gegen die eigenen Gesinnungsgenossen aber mit den
grausamsten, entehrendsten Strafen geahndet wird, so ist das weder Gerechtigkeit noch
Recht.
Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, zum
Beispiel Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen
Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die
Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.
Es kann Gesetze mit
einem solchen Maß
von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben,
dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter
abgesprochen werden muss.
- Fünfte Minute
Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein
Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht
oder das Vernunftrecht. Gewiss sind sie im einzelnen von manchem Zweifel umgeben,
aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in
den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender
Übereinstimmung gesammelt, dass in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte
Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.
In der Sprache des Glaubens aber sind die gleichen Gedanken in
zwei Bibelworten niedergelegt. Es steht einerseits geschrieben: Ihr sollt gehorsam
sein der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat." Geschrieben steht aber andererseits:
Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen", und das ist nicht etwa nur ein
frommer Wunsch, sondern ein geltender Rechtssatz.
Die Spannung aber zwischen diesen beiden Worten kann man nicht
durch ein drittes lösen, etwa durch den Spruch: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers,
und Gott, was Gottes ist" -, denn auch dieses Wort lässt die Grenzen im Zweifel.
Vielmehr: es überlässt die Lösung der Stimme Gottes, welche nur angesichts des
besonderen Falles im Gewissen des einzelnen zu ihm spricht.
3.2 Gesetzlicher Unrecht
und übergeordnetes Recht"
Gustav RADBRUCH hat
diese Überlegungen 1946 in einem Aufsatz mit dem Titel Gesetzlicher Unrecht
und übergeordnetes Recht" ausgearbeitet und vertieft. Sie haben seitdem bis
auf den heutigen Tag bestimmenden Einfluss auf die Rechtsprechung. Eine detaillierte
Darstellung finden Sie auf der Webseite Legalität,
Legitimität und Loyalität"
3.3 Erneuerung des
Rechts"
Gustav RADBRUCH hat
anlässlich der Wiedereröffnung der Juristischen Fakultät Heidelberg im Wintersemester
1945/6 als deren Dekan eine programmatische Rede gehalten. Sie ist ein Grund
legendes" und zukunftsweisendes Programm. Deshalb wird sie hier in Auszügen
dokumentiert:
Von den juristischen Fakultäten
muß die Erneuerung des Rechts, die Umschulung der deutschen Juristen und die Rechtserziehung
des ganzen deutschen Volkes ausgehen. Für diese Aufgaben scheinen mir folgende
Grundsätze maßgebend sein zu müssen.
1. |
Wir blicken
zurück auf zwölf Jahre voll Unrecht und Willkür, auf die Herrschaft einer Staatsgewalt,
die alles für zulässig hielt, was ihr als nützlich erschien, und sich unbedenklich
über geltende Gesetze hinwegsetzte, auch wo diese dem heiligsten Zwecke dienten, dem
Schutze des Menschenlebens. Wir müssen von Gesetzlosigkeit und Willkür wieder zurück
zur Herrschaft des Gesetzes, von dem Unrechtsstaat zum Rechtsstaat. Die Idee des
Rechtsstaates, des an seine eigenen Gesetze gebundenen Staates, früher so
selbstverständlich und unbewußt wie die Lebensluft, muß dem Deutschen Volke wieder
bewußt gemacht und anerzogen werden. |
2. |
Wir blicken
zurück auf eine Zeit, in der die Gesetze selbst dazu dienen mußten, die Ungerechtigkeit,
ja das Verbrechen zu sanktionieren. Die unter den deutschen Juristen herrschende
Auffassung: der Positivismus, der jedem ordnungsmäßig entstandenen Gesetze den Charakter
des Rechts und die Geltung zugestand, war solchen ungerechten und verbrecherischen
Gesetzen gegenüber wehrlos. Wir müssen uns wieder besinnen auf die Menschenrechte, die
über allen Gesetzen stehen, auf das Naturrecht, das gerechtigkeitsfeindlichen Gesetzen
die Geltung versagt. |
3. |
Wir haben in
den vergangenen zwölf Jahren erlebt, wie alle anderen geistigen Mächte, die
Universitäten und die Wissenschaft, die Gerichte und die Rechtspflege, die politischen
Weltanschauungen und Parteien, vor der Tyrannei zusammenbrachen und nur eine unter ihnen
allen sich behauptete: Christentum und Kirche. Dies Erlebnis ist nicht ohne Eindruck auf
das deutsche Volk geblieben: religiöser Glaube, zum mindesten Ehrfurcht vor und Sehnsucht
nach dem Glauben sind wieder auferstanden. Auch das Recht wird davon nicht
unberührt bleiben: es wird als Teil der Schöpfungsordnung aufgefaßt werden, und
die Heiligkeit des Rechts und der Verträge wird wieder mehr sein als eine bloße
Redensart. |
4. |
Was am Rechte
wandelbar, was ewig ist, wird am anschaulichsten sichtbar durch Rechtsvergleichung.
Notwendig ist besonders die Vergleichung der beiden großen Rechtskulturen, die sich in
den Erdkreis teilen: der europäisch-kontinentalen und der anglo-amerikanischen, jene
aufgebaut auf das römische Recht und die späteren Modifikationen, also auf Gesetze,
dieses auf richterliche Entscheidungen. Erst der Vergleich zwischen diesen beiden
Rechtskulturen lehrt jede von ihnen in ihrer Eigenart kennen, in ihren Mängeln und
Vorzügen würdigen. Das Studium des anglo-amerikanischen Rechts ist also aus viel
tieferen und allgemeineren Gründen erforderlich als nur aus der gegenwärtigen Situation
Deutschlands. |
5. |
Auch in den
Ländern, in denen das römische Recht nie geltendes Gesetz war, ist es dennoch Gegenstand
des gelehrten Studiums -sowohl in England wie in Amerika. Deshalb sind römische
Rechtsbegriffe und römische Rechtsworte ein geeignetes Mittel zur Verständigung zwischen
den beiden verschiedenen Rechtskulturen - eine Art Esperanto der Rechtswelt. Schon deshalb
muß die deutsche Rechtswissenschaft ihre Meisterschaft in der Behandlung des römischen
Rechts bewahren oder wiederherstellen. Das römische Recht ist die humanistische Bildung
in ihrer Anwendung auf das Recht, und wir wollen nicht nur routinierte Juristen sein,
sondern gebildete Juristen. |
6. |
Freilich: über
den rein individualistischen Geist des römischen Rechts, über die strenge Scheidung des
privaten vom öffentlichen Recht muß die Entwicklung unseres Rechts mehr und mehr
hinausschreiten. Der Wiederaufbau unserer Wirtschaft kann sich nicht rein in
privatwirtschaftlicher Form vollziehen, vielmehr nur in Gestalt des "sozialen
Rechts", d. h. weitgehender Durchdringung des Privatrechts mit
öffentlich-rechtlichen Modifikationen, wie sie im Wirtschafts- und Arbeitsrecht schon
begonnen hat. |
7. |
Die größten
Verwüstungen hat unter allen Rechtsgebieten das Strafrecht erlitten. Es heißt für uns
an die Stelle der Willkür die Rechtssicherheit wieder einzusetzen, an Stelle des Sadismus
die Humanität, an Stelle der Abschreckung und Vergeltung die Besserung und Erziehung -
aber nicht etwa an die Stelle der Unmenschlichkeit die Schwächte zu setzen; denn gerade
der Erzieher muß in dieser Zeit zwar ein erbarmungsvolles Herz haben, aber auch eine
feste Hand. |
8. |
Daß künftiges
Staatsrecht nur demokratischer Art sein kann, bedarf keiner weiteren Ausführung. Es
bedarf dagegen der Hervorhebung, daß der Aufbau der Demokratie von unten her, ihr Anfang
von der Gemeinde aus nicht nur eine Notwendigkeit der gegenwärtigen Situation ist,
sondern einer fruchtbaren politischen Idee von besonderer deutscher Tradition entspricht;
dem Gedanken der von dem Freiherrn vom Stein geplanten und mit der preußischen
Städteordnung (I808) begonnenen Verfassungsreform. |
9. |
Endlich ist die
deutsche Rechtswissenschaft gewillt, mitzuarbeiten an der Entstehung eines neuen
Völkerrechts, dessen Hauptziel ein dauernder Weltfrieden sein muß, mitzuarbeiten an dem
Werk von San Francisco zur Verhütung von Kriegen und an dem Werke von Nürnberg, wo es
gilt, ein Völkerrecht zu schaffen, das nicht mehr nur die Staaten verpflichtet, sondern
die Staatsmänner persönlich, und ein Völkerstrafrecht, das den Friedensstörer
persönlich trifft." |
4.0 Literaturnachweis
Hier wird nur die Literatur verzeichnet,
auf die sich der Text des Bausteins unmittelbar bezieht. Alle weiteren Literaturangaben
dieser Themengruppe werden in der Literaturgrundlage"
zusammengefasst.
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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