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Die Gültigkeit der Grundrechte

1.0 Das Grundproblem

Gesetze können gültig, aber ungerecht sein; Gerechtigkeit kann proklamiert sein, aber keine rechtliche Grundlage haben und/oder wirkungslos bleiben. Mit anderen Worten: Legalität und Legitimität stehen zueinander in einem Spannungsverhältnis. In Vergangenheit und Gegenwart ist das Unrecht oft im Gewande des Gesetzes getarnt worden. Wer derartigen Gesetzen gehorchen musste, litt unter einem bitteren Konflikt. Entweder musste er Unrecht tun und damit sein Gewissen belasten, oder er übertrat die Gesetze und gefährdete dadurch seine Existenz.

2.0 Recht und Gerechtigkeit im Grundgesetz

Bei der Abfassung des Grundgesetzes wurden aus dieser Problematik Konsequenzen gezogen. Der Versuch, Legalität und Legitimität miteinander zu versöhnen und das geschriebene Recht mit der Idee der Gerechtigkeit zu verknüpfen, ist verfassungsrechtlich einzigartig. Vertiefungen zu dieser Thematik finden Sie auf der Webseite „Legalität, Legitimität, Loyalität".

Zu Gültigkeit und Wirkungsumfang der Grundrechte sei das Bundesverfassungsgericht zitiert. Es hat in seinem sog. „Lüth"-Urteil vom 15. Januar 1958 - 1 BvR 400/51 - BVerfGE 7, 198 u. 204 Charakter und Funktion der Grundrechte wie folgt beschrieben:

  • Leitsatz 1
    „Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt."

  • Leitsatz 5
    „Die ‘allgemeinen’ Gesetze müssen im Lichte der besonderen Bedeutung der Grundrechte für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden."

2.1 Die Grundrechte

Der Katalog der Grundrechte geht zurück auf die fundamentalen Menschen- und Freiheitsrechte.
Im Einzelnen gilt:

  • Die Grundrechte (Art. 1 - 19 GG) sind unmittelbar geltendes Recht und binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung.

  • Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3) gebunden.

  • Die Grundrechte sind in erster Linie Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Gegen Verletzung ihrer Rechte durch die staatliche Gewalt können die Bürger sich durch Beschreiten des Rechtswegen schützen (Art. 19 Abs. 4).

  • Die Grundrechte sind außerdem, wie kürzlich Dieter GRIMM (2002) herausgestellt hat, Schutzpflichten des Staates. Sie verlangen vom Staat, die individuelle Freiheit auch gegenüber Gefahren von dritter Seite zu schützen.

2.2 Die Reichweite der Grundrechte

Die einzelnen Grundrechte gelten nicht absolut. Vielmehr stehen eine Reihe von Grundrechten zueinander in einem Konkurrenz- oder Spannungsverhältnis: die einzelnen Grundrechts begrenzen einander gegenseitig. So hat das Bundesverfassungsgericht schon früh die "Gemeinschaftsgebundenheit" aller Grundrechte herausgestellt (BVerfGE 4, 15).

  • Ein Musterbeispiel für diesen Sachverhalt sind das originäre Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 GG) und die staatliche Organisationsbefugnis für das Schulwesen (Art. 7 GG).
         Beide Rechtspositionen begrenzen einander gegenseitig. Außerdem aber ergänzen sie einander, indem sie die erzieherischen Aufgaben zuordnen, die einerseits weder von der Familie geleistet werden können noch andererseits von der öffentlichen Schule beansprucht werden dürfen.
         Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt (BVerfGE 65, [72]), „der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet."

  • Ebenso begrenzen das Demokratiegebot, das Sozialstaatsgebot und die Freiheitlichkeit einander.
         So darf z.B. die demokratische Ausgestaltung des Schulwesens die parlamentarische Verantwortlichkeit nicht faktisch außer Kraft setzen, oder dürfen sozialstaatliche Regelungen in die freie Entfaltung der Bürger nicht zu tief eingreifen.

  • Die Grundrechte haben nicht alle gleiches Gewicht.
         So hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich gemacht, dass z.B. das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 GG (vgl. oben), das Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG und das Recht auf Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG einen besonders hohen Rang haben. Das kann im Einzelfall andere Rechte erheblich beschränken.

  • Grundrechte können auch - und dürfen nur - durch ein allgemein geltendes Gesetz eingeschränkt werden (Art. 19 Abs. 1 GG). Niemals darf jedoch sein Wesensgehalt angetastet werden (Art. 19 Abs. 2 GG).

Die vorstehenden Thesen sind lediglich eine Skizze. Wer sich mit dieser Problematik genauer vertraut machen will, findet eine klare Darstellung der komplexen verfassungsrechtlichen Materie bei Ralf DREIER (1988), neuerdings bei Sebastian LENZ (2006), Klaus STERN (2006) und Robert ALEXY (2006). 

Hier kann der Hinweis darauf genügen, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Konkordanz entwickelt hat (BVerfGE 93, 1 [21]):

Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, daß nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren
(vgl. BVerfGE 28, 243 [260 f.]; 41, 29 [50]; 52 223 [247, 251])."

Systematisch, zugleich übersichtlich erörtert Martin KRIELE (1984/1990) diese Problematik. Er unterscheidet vier Gruppen von Grundrechten (a.a.O. S. 604).

  • Grundrechte, die von vornherein nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze gelten, z.B. Art. 5 I, II, wobei diese Gesetze im Sinne der Grundrechte auszulegen sind.

  • Grundrechte, die durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. Art. 11 II) oder zu bestimmten Zwecken (z.B. Art. 13 III) eingeschränkt werden können.

  • Grundrechte, die durch bundesgesetzliche Regelungen ausgestaltet werden müssen (z.B. Art. 4 III).

  • Grundrechte, die ohne Vorbehalt und Einschränkung gelten. Sie sind die größte Gruppe mit den folgenden Grundrechten:
    o die Würde des Menschen - Art. 1 I,
    o der Gleichheitssatz als Willkürverbot- Art. 3 I-III,
    o die Freiheit des Glaubens, des Bekenntnisses, des Gewissens, der Religionsausübung, - Art. 4,
    o die Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung, Kunst - Art. 5 III,
    o das Elternrecht zur Entscheidung über den Religionsunterricht - Art. 7 II,
    o die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen - Art. 8 I,
    o die Freiheit der Berufswahl - Art. 12 I,
    o das Auslieferungsverbot und das Asylrecht - Art. 16 II,
    o das Petitionsrecht - Art. 17,
    o die Grundrechte vor Gericht - Art. 101 I, 102, 103 I-III.

3.0 Literaturnachweis

  • Robert ALEXY
    Theorie der Grundrechte
    Frankfurt am Main 2006, 5. Auflage

  • Hubert CANCIK
    »Die Würde des Menschen ist unantastbar«
    Religions- und philosophiegeschichtliche Anmerkungen zu Art. 1, Satz 1 GG
    in: 
    Antik - Modern
    Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte
    Stuttgart 1998, S. 267 - 291

  • ders.
    Gleichheit und Freiheit
    Die antiken Grundlagen der Menschenrechte
    in:
    Antik - Modern
    Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte
    Stuttgart 1998, S. 293 - 315

  • Ralf DREIER
    Konstitutionalismus und Legalismus
    Zwei Arten juristischen Denkens im deutschen Verfassungsstaat
    in:
    Arthur KAUFMANN (Hrsg.)
    Rechtsstaat und Menschenwürde
    Frankfurt am Main 1988, S. 87 - 108

  • Martin KRIELE
    Vorbehaltlose Grundrechte und die Rechte anderer
    Juristische Arbeitsblätter 1984, S. 629 ff.,
    erneut abgedruckt in:
    ders.
    Recht, Vernunft, Wirklichkeit
    Berlin 1990, S. 604 - 627, 625

  • Sebastian LENZ
    Vorbehaltlose Freiheitsrechte
    Stellung und Funktion vorbehaltloser Freiheitsrechte

    in der Verfassungsordnung
    Tübingen 2006
    Dazu die Rezension von 
    Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 48 vom 22. Februar 2007, S. 37

  • Klaus STERN
    Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland
    Band IV/1: Die einzelnen Grundrechte
    München 2006
    Dazu die Rezension von 
    Reinhard MÜLLER
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 55 vom 6. März 2007, S. 7

Alle weiteren Literaturangaben dieser Themengruppe werden in der „Literaturgrundlage" zusammengefasst.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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