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2.0 Positionen zur »Neurodidaktik«

2.3 »Privilegiertes« und »nicht-privilegiertes« Lernen

Diese etwas sperrigen vielleicht befremdlich wirkenden Adjektive bezeichnen einen Sachverhalt, dessen Tragweite erst durch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung deutlicher geworden ist. Der folgende Text fasst die Ausführungen zusammen, die Elsbeth STERN (2004, S. 531 - 538) zu diesem Thema vorgelegt hat.

Die Gehirnentwicklung der frühen Kindheit ist durch eine eindrucksvolle Eigendynamik gekennzeichnet. Sofern die körperlichen und emotionalen Grundbedürfnisse befriedigt werden, vollziehen sich im Gehirn Veränderungen, die nicht auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind. Dem entsprechen Lernleistungen wie das Laufen und der Spracherwerb, aber auch Prozesse der visuellen Mustererkennung und Grundformen der sozialen Interaktion (Empathie, Aggression). Sofern diese Abläufe nicht, z.B. durch Erkrankungen, gestört werden, verlaufen sie wie von selbst.

Offenbar gibt es Kompetenzen und Inhaltsbereiche, deren Grundlagen bereits angelegt sind – man bezeichnet sie auch als start-up-Mechanismen. Lernen ist in diesen Bereichen bevorzugt, »privilegiert«. Dem stehen andere Bereiche des Lernens gegenüber, für die es keine in den Anlagen liegende Bevorzugung gibt. Das gilt vor allem für die überwältigende Fülle der menschlichen Kulturleistungen. Hier ist das Lernen nicht »privilegiert«.

Der Unterschied zwischen privilegiertem und nicht-privilegiertem Lernen ist vor allem für das schulische Lernen wichtig, denn die Institution Schule wurde gegründet, um nicht-privilegiertes Lernen zu unterstützen oder überhaupt erst möglich zu machen (a.a.O., S. 533).

Deshalb ist es zu untersuchen wichtig, welche Lernleistungen Schülern aus natürlichen Gründen leicht werden und welche ihnen schwerfallen. Wissen über die Informationsverarbeitung im Gehirn allein genügt dafür nicht. Vielmehr muss auch die Entstehungsgeschichte des zu unterrichtenden Inhaltsbereich untersucht werden, damit Lernschwierigkeiten der Schüler verstanden werden. Immerhin erwarten wir von ihnen, daß sie in wenigen Stunden Inhalte erarbeiten, deren gedankliche Durchdringung Jahrzehnte oder Jahrhunderte gedauert hat und die Lebensleistung der erlauchtesten Geister der Menschheit bildet.

Folglich ist zwischen Wissen zu unterscheiden, das intuitiv einsichtig ist, und solchem, das – kulturell tradiert – wegen seines Abstraktionsgrades verständnisvoller Vermittlung bedarf. Dazu zwei Beispiele:

  • Dass 9 größer ist als 8, ist unmittelbar einsichtig. Dass ein Achtel kleiner ist als ein Siebtel, ist es nicht. Diese Einsicht bedarf des Nachdenkens.

  • Das Multiplizieren und Dividieren mit ganzen Zahlen ist intuitiv einsichtig. Dieselben Operationen mit Brüchen führen jedoch zu Ergebnissen, die gerade nicht einsichtig sind, sondern nur durch abstrahierendes Nach-Denken verstanden werden können (vgl. a.a.O., S. 536).

Keine Antwort gibt die Hirnforschung auf die Frage, wie Lerngelegenheiten gestaltet werden müssen, damit Wissen für die Bewältigung neuer Anforderungen nutzbar gemacht werden kann. Spaß oder – mit dem kurzem »a« des Szene-Deutschs – Spass genügt da nicht. Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite "Emotion und Lernen". 

Empirisch belegt ist folgendes Vorgehen:

Schüler lernen dann am leichtesten, wenn man an sie Anforderungen richtet,
die sie nicht auf Anhieb zu bewältigen vermögen,
für deren Lösung sie jedoch Vorwissen nutzen können.

Zusammenfassend gilt:

Eine gut strukturierte Wissensbasis ist
notwendige, zugleich auch hinreichende Voraussetzung
dafür, eine geistige Anforderung zu bewältigen.

Literaturnachweis

Der Text beruht auf dem Aufsatz von

  • Elsbeth Stern
    Wie viel Gehirn braucht die Schule?
    Chancen und Grenzen einer neuropsychologischen Lehr-Lern-Forschung
    Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) (a) Nr. 4, S. 531 – 538

Die Literaturnachweise für diese Webseite 
sowie die weiteren Webseiten dieses thematischen Bereiches 
finden Sie hier.

Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis 
für die Themengruppe »Lernen – Voraussetzungen, Möglichkeiten, Probleme« 
finden Sie hier.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 06.01.14
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