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2.0 Positionen zur »Neurodidaktik«

2.2 Das Gehirn ist ein Sozialorgan

Gerald HÜTHER (2004, 487 - 495) arbeitet folgenden Sachverhalt eindrucksvoll heraus:

Die wichtigsten Erfahrungen, die einen heranwachsenden Menschen prägen und in den Verschaltungen seines Gehirns verankert werden, ereignen sich in den lebendigen Beziehungen zu anderen Menschen. Durch sie wird das Gehirn eines jeden Menschen geformt und strukturiert. Deswegen erweist sich das Gehirn als ein »Sozialorgan« – optimiert für die Gestaltung von sozialen Beziehungen (a.a.O., S. 489).

Alles Lernen vollzieht sich in sozialer Interaktion. Durch sie lernt ein junger Mensch, sich in der Gemeinschaft, in die er hineinwächst, zurechtzufinden. Wie er dabei angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, prägt sein Gehirn und damit seine Persönlichkeit. Insgesamt vollzieht sich alles Lernen im sozialen Kontext. Vorbildern kommt dabei besondere Bedeutung zu.

Die Verschaltungen, die auf diese Weise im Gehirn entstehen, bilden sich nicht automatisch aus, sondern müssen immer wieder neu aktiviert, benutzt und dadurch stabilisiert werden. Das gilt in besonderem Maße für den Frontal- oder Stirnlappen des Gehirns, den präfrontalen Cortex. Diese Gehirnregion nimmt zentrale Integrations-, Steuerungs- und Entscheidungsfunktionen wahr. Sie bildet sich am spätesten aus und wird am stärksten durch Sozialisation und Erziehung (vgl. dazu die Webseite „Erziehung oder Sozialisation?“) ausgeformt (a.a.O., S. 491).

Für das Gelingen dieser Lernverläufe ist es entscheidend wichtig, dass ein junger Mensch sich auf die Menschen seines Umfeldes verlassen und ihnen vertrauen kann. Vertrauen ist geradezu das Fundament, von dem alle unsere Entwicklungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse getragen werden. Auf drei Ebenen muss sich während der Kindheit Vertrauen entwickeln können,           
und zwar als Vertrauen

  • in die eigenen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung von Problemen;

  • in die Möglichkeit, schwierige Situationen gemeinsam mit anderen Menschen zu lösen;

  • in die Sinnhaftigkeit der Welt und das Geborgen- und Gehaltensein in der Welt (a.a.O., S. 492).

Wie kann das gelingen? Damit junge Menschen sich in einer verwirrenden Welt zurechtfinden können, brauchen sie äußere Vorbilder und innere Leitbilder.

„Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene »Vorbilder« können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln.“

Für entsprechendes erzieherisches Handeln braucht hier kein Katalog sinnvoller Einzelmaßnahmen aufgestellt zu werden. Umgekehrt ist es viel wichtiger, klar zu benennen, was Kindern schadet.

Generell gilt hier (a.a.O., S. 493):

Verunsicherung und Druck sind Gift für Lernlust und Entdeckerfreude.

Im Einzelnen müssen folgende Sachverhalte beachtet werden:

  • Die Herausbildung komplexer Verschaltungen im kindlichen Gehirn kann nicht gelingen, wenn Kinder

  • in einem Umfeld aufwachsen, in dem die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft);

  • keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung ihrer Umwelt zu beteiligen (passiver Konsum von Lernstoffen und Medienangeboten);

  • keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung);

  • mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überlastung);

  • daran gehindert werden, eigene Erfahrungen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen zu machen (Verwöhnung);

  • keine Anregungen erfahren und ihre spezifischen Bedürfnisse und Wünsche nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung).

Eltern und Lehrer können nicht alle Aspekte dieser Aufstellung individuell beeinflussen. Wo es aber in ihren Möglichkeiten liegt, falsches oder schädliches Verhalten zu vermeiden, da sollten sie es vermeiden. Dazu freilich bedarf es eines Verantwortungsbewußtseins, das gedankenloses Handeln und gleichgültiges Unterlassen ausschließt.

Literaturnachweis

Der Text beruht auf dem Aufsatz von

  • Gerald Hüther
    Die Bedeutung sozialer Erfahrungen
    für die Strukturierung des menschlichen Gehirns
    Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) Nr. 4, S. 487 – 495

Die Literaturnachweise für diese Webseite 
sowie die weiteren Webseiten dieses thematischen Bereiches 
finden Sie hier.

Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis 
für die Themengruppe »Lernen – Voraussetzungen, Möglichkeiten, Probleme« 
finden Sie hier.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 15.01.08
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