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Urteilsbildung im Unterricht

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Grundsätzliche Überlegungen
       2.1 Die Lernzielebene »Urteilen«
       2.2 Konsequenzen für die Unterrichtspraxis
3.0 Anforderungen an Konzeption und Umsetzung
       3.1 Stoff und Unterrichtsvoraussetzungen
       3.2 Antizipationen und Entscheidungen
            auf den verschiedenen Niveaustufen

1.0 Das Problemfeld

Schüler zu begründetem Urteilen zu befähigen ist ein besonders wichtiges Ziel von Unterricht und Erziehung. Dieses Ziel ist leicht zu formulieren. Es zu erreichen setzt eine genaue Analyse der Urteilsbildung voraus und macht eine darauf fußende didaktische Konzeption erforderlich.

Der Leiter des 3. Schulpraktischen Seminars Pankow (S), OStD Volker Pietsch, hat zusammen mit dem Leiter des Fachseminars für Geschichte, Jörg Kayser, diese Aufgabe bearbeitet. Ihre Überlegungen beruhen auf der "Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich" von Benjamin S. BLOOM und präzisieren den obersten Anforderungsbereich. Aktuelle Entwicklungen in der didaktischen Landschaft führen dazu, BLOOMs System zu modifizieren. Herr Pietsch hat gestattet, die Ergebnisse hier vorzustellen.

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2.0 Grundsätzliche Überlegungen

2.1 Die Lernzielebene »Urteilen«

Benjamin S. BLOOM unterscheidet in seiner Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich sechs Stufen.

1. Kenntnis
2. Verständnis
3. Verwendung
4. Analyse
5. Synthese
6. Bewertung / Urteil

Mithin handelt es sich bei Urteilsprozessen um hochkomplexe Kognitionsleistungen auf den obersten taxonomischen Stufen.

Die Anforderungsbereiche »Kennen« (I), »Verwenden« (II), »Urteilen« (III) legen es nahe, alle Stufen oberhalb der Stufe "Verwendung" der Urteilsbildung zuzuordnen. Allerdings folgen die schulischen Anforderungsbereiche der BLOOMschen Systematik nur mit Einschränkungen: Insbesondere Transferleistungen bei Anwendungsaufgaben erfordern eben auch analysierende und synthetisierende Denkleistungen. Ungeachtet dieser Überschneidung bilden Analyse, Synthese und Bewertung bei Urteilsbildungen eine untrennbare Einheit.
     Weitere Informationen und Vertiefungen zu dieser Thematik finden Sie auf den Webseiten

Erfolgreiches Urteilen setzt sicheres gedankliches Bewegen auf den darunter liegenden Stufen voraus. Umgekehrt beeinträchtigen Fehler oder Unsicherheiten auf den ersten fünf Stufen die erfolgreiche Urteilsbildung.

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2.2 Konsequenzen für die Unterrichtspraxis

Die unterrichtspraktischen Folgen dieser Erkenntnis sind erheblich.

Urteilsprozesse sind auf den Austausch von Kognitionen, also auf kooperative Kommunikation angewiesen. Sie erzwingen förmlich eine diskurshafte Unterrichtsgestaltung, vgl. dazu die Webseite "Das Unterrichtsgespräch - Lehrerfrage oder Lehr-Lern-Diskurs?". Andererseits erfordern die Komplexität der Prozesse und die begrenzt verfügbare Zeit ein wirksames Regieren der Lehrkraft. Urteilsphasen folgen deshalb dem Idealbild des vertikalen Lerntransfers.

Urteilsphasen fordern die Lehrkraft gleichermaßen bei der antizipierenden Durchdringung des Urteilens im Planungsprozess und bei der praktischen Umsetzung. Deshalb werden im Folgenden die didaktischen Anforderungen beschrieben, die Unterricht erfüllen muss, wenn er die Urteilsbildung erfolgreich schulen soll.

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3.0 Anforderungen an Konzeption und Umsetzung

3.1 Stoff und Unterrichtsvoraussetzungen

Eine fundierte Sachanalyse sowie an den Entwicklungstand der Lerngruppe angepasste Entscheidungen über inhaltliche Schwerpunkte, Zugangsweisen sowie zur Entfaltung der Problemlage werden vorausgesetzt.

3.2 Antizipationen und Entscheidungen auf den verschiedenen Niveaustufen

Kenntnisse

  • Da sich Urteilsprozesse immer auf der Grundlage des gemeinsamen Unterrichts vollziehen (Vergleichbarkeit der Leistungsanforderungen), muss die Lehrkraft Rechenschaft darüber ablegen, welche Kenntnisse verfügbar sein müssen.
  • Kenntnisse sind in diesem Zusammenhang nicht als reines Faktenwissen zu verstehen: Jede im Vorunterricht gewonnene Erkenntnis, vollzogene Anwendung, entdeckte Gesetzmäßigkeit, herausgearbeitete Struktur oder erworbene Methode bzw. Strategie wird im Zuge ihrer kognitiven Verankerung zur Kenntnis.
  • Wird die Verfügbarkeit notwendiger Kenntnisse bezweifelt, sind Alternativen zur zügigen Reaktivierung vorzusehen.

Analyse

  • Analysefehler
    können auf fehlerhafter Verwendung von Analysemethoden oder von Analyseinstrumenten beruhen. Damit die Lehrkraft im Diskurs angemessen regieren kann, ist in der Konzeption absolute Klarheit erforderlich.
  • Analysemethoden
    o Durch Differenzierung werden komplexe Sachverhalte in Elemente bzw.
       Aspekte aufgelöst, die jeweils einer genaueren Untersuchung zugänglich sind.
    o Durch Vergleich der Untersuchungsergebnisse werden die Beziehungen zwischen
       den Elementen bzw. Aspekten geklärt (z.B.: Widersprüche, divergente oder
       konvergente Entwicklungen usw.).
  • Analyseinstrumente
    Eine systematische Analyse setzt die Verwendung (gegebener oder selbst entwickelter) Ordnungsprinzipien voraus. Durch kontinuierlich geforderte und geförderte Urteilsprozesse lässt sich die Ausprägung entsprechender Denkstrukturen vorantreiben.
  • Ordnungsprinzipien
    Zur Verfügung stehen die jeweilige Beurteilungsperspektive bzw. Betrachtungsebene; die ausgewählte(n) Kategorie(n); die heranzuziehenden Kriterien. Welche Ordnungsprinzipien der Zielsetzung adäquat sind, ist im Prozess der Unterrichtsvorbereitung genau zu klären.

    Häufig wird z.B. im Fach Deutsch ein Urteil über "Schuld" (Kategorie) gefordert. In diesem Fall muss dem Lehrenden klar sein, dass "Schuld" als "moralische" oder "juristische" (Betrachtungsebenen) definiert werden kann. "Moralische Schuld" wird an anderen Kriterien gemessen als "juristische Schuld". Die Beurteilungsperspektive für "juristische Schuld" wird bei einem Gegenwartstext keine Rolle spielen, gewinnt jedoch bei einem historischen Text, wenn z.B. Adlige und Bürgerliche beteiligt sind, erhebliche Bedeutung.

    Im Zuge der konzeptionellen Arbeit (Durchdringen des Beziehungsgefüges von Zielsetzung, Sachstruktur und Lernstruktur) werden die adäquaten Ordnungsprinzipien (Beurteilungsperspektive, Kategorie, Kriterium) abgeleitet. Dadurch werden zunächst die eigenen Denkprozesse der Lehrkraft strukturiert. Darauf folgt die antizipierende Klärung zu erwartender gedanklicher Verarbeitungsprozesse bei den Lernenden gemäß ihrem sachstrukturellen Entwicklungsstandes.

Synthese

  • Aus den Analyseergebnissen werden Schlussfolgerungen gezogen. Diese Schließen umfasst Kognitionen, die - im permanenten Abgleich mit abgespeicherten Verallgemeinerungen aus früheren Lernprozessen (d.h.: schleifenförmiges Durchlaufen von Induktion und Deduktion) - zu einzelnen Urteilsschritten (Konklusionen) synthetisiert werden.
  • Hilfen und Interventionen können den Lehr-Lern-Diskurs nur dann zielsicher und effektiv vorantreiben, wenn zumindest die wahrscheinlichsten "Denkschleifen" von der Lehrkraft antizipierend vorausgedacht wurden.

Urteil / Bewertung

  • Die gängige Definition lautet:

Ein Urteil ist eine begründete Stellungnahme.

Diese Definition erscheint zunächst plausibel, sie hat jedoch einen Mangel:

Das Anforderungsniveau der Handlungsprozesse,
die während der Urteilstätigkeit ablaufen,
bleibt
indifferent.

  • Da die Ausprägung der Urteilsfähigkeit durch Unterricht als Entwicklungsprozess zu verstehen ist, können auf einer ersten Entwicklungsstufe solide begründete Syntheseleistungen durchaus als Urteile gelten.
  • Auf höheren Entwicklungsstufen werden nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Urteilsprozesse anspruchsvoller.
         Aus der Bearbeitung komplexer Beziehungsgefüge erwachsen je nach Beauftragung mehrere unterscheidbare Syntheseleistungen, die auf einer obersten Progressionsebene der Urteilsbildung im abwägenden Diskurs zu gewichten und zu bewerten sind.
  • Damit Urteilsbildung auch zu Urteilsfähigkeit (kognitive Handlungskompetenz des lernenden Individuums) qualifiziert, bedarf es systematisch steigender Anteile von selbstorganisiertem Lernen.
  • Folgende Schrittfolge ist denkbar:

Werden Lerner oder Lernergruppen mit der selbständigen Analyse jeweils eines Elements / eines Aspekts (also einer Quelle/Aussage oder sich ergänzender Quellen/Aussagen) des komplexen Sachverhalts beauftragt, hat dies
zwei wichtige Konsequenzen:

Erstens
sind die Lernenden an der strategischen Entscheidung, die Untersuchung welcher Elemente oder Aspekte in der gegebenen Problemsituation lohnenswert erscheint, zu beteiligen.

Zweitens
führt die selbständige Arbeit lediglich zur Darstellung einer entsprechenden Zahl von Analyseergebnissen, die nachfolgend zu leistende Synthesearbeit und die Gewichtungs- und Bewertungsprozesse obliegen dem diskurshaften Unterrichtsgespräch.

  • Umfasst die Beauftragung Analyse- und Syntheseleistungen (mindestens zwei Quellen/Aussagen pro Gruppe,werden vergleichend analysiert, Schlussfolgerungen als erste Urteilsschritte), darf sich die Ergebnispräsentation nicht auf die Mitteilung der Schlussfolgerungen beschränken. Sie hat vielmehr den Analyse- und Syntheseprozess begründend zu reflektieren. Erst nach vollständiger Transparenz können die Gewichtungs- und Bewertungsprozesse im Plenum erfolgversprechend verlaufen.
  • In trainierten Lerngruppen und im Kurssystem (insbesondere zur Klausur- und Abiturvorbereitung) ist es durchaus sinnvoll, auch den anspruchsvollsten Teil der Urteilsbildung, das vergleichende Bewerten und Gewichten der untersuchten Elemente oder Aspekte, in selbständige Schülerverantwortung zu geben, also Analyse, Synthese und Gewichtung/Bewertung.
  • Um unterscheidbare, aber trotzdem vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, erscheint aufgabengleiche Gruppenarbeit sinnvoll. Der kognitive und kommunikative Anspruch an die operierenden Gruppen sowie an die Leitung der anschließenden Diskussion ist hoch. Als Zeitrahmen ist deshalb allein für die Ergebnispräsentation und die Diskursphase mindestens eine volle 45-Minuten-Einheit einzufordern.

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Nach einem Konzept von OStD Volker Pietsch ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 15.01.08
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