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Lenkung themenbezogener Arbeitsprozesse

Übersicht
1.0 Der Problemhorizont
2.0 Folgerungen für die Anleitung schulischen Lernens
3.0 Unterricht - eine Regieaufgabe
      3.1 Voraussetzungen
      3.2 Folgerungen
4.0 Leitung von Arbeitsprozessen - Aufgaben und Funktionen
      4.1 Erster Katalog
      4.2 Zweiter Katalog
5.0 Literaturgrundlage

1.0 Der Problemhorizont

Den „Nürnberger Trichter" gibt es nicht.

Nicht die einzige, jedoch eine besonders wichtige Aufgabe von Unterricht besteht darin, Schüler bestimmte Wissensbestände und/oder Fertigkeiten sich aneignen zu lassen, so dass sie über sie verfügen und sie selbständig anwenden können. Der schultypische Jargon nennt das in scheinbar konkreter Sprache "den Schülern etwas beibringen" und lässt dennoch die dafür geeigneten Verfahren völlig offen.

Was bedeutet diese Metapher, wenn sie wörtlich genommen wird?
Die Suche nach einer Antwort entlarvt sie als eine hohle Phrase.

Eine Negativdefinition ergibt sich aus der sprichwörtlich vergeblichen Suche nach dem Nürnberger Trichter. Nie kann einem Lernenden etwas einfach "eingetrichtert" werden, weil Lernen immer eine Aktivität, ein Handeln ist.

Diese Position wird auf der Startseite „Inhalte und Themen, Ziele und Lenkung des Lernens" vorgestellt und auf den Webseiten „Was ist Lernen" sowie „Lernen und die Arten des Lernens" vertiefend dargestellt. Unbeschadet des Erkenntniswertes, den die verschiedenen Lerntheorien der Pädagogischen Theorie besitzen, erweist sich dieses von Jean PIAGET gewonnene und von Hans AEBLI vermittelte Verständnis von Lernen für die Unterrichtspraxis als besonders hilfreich.

Auf den Webseiten Natürliche Grundlagen des Lernens" sowie Nutzanwendungen für den Unterricht" finden weiterführende und und vertiefende Informationen zu einem aktiven, konstruktivistischen Verständnis des Lernens.

2.0 Folgerungen für die Anleitung schulischen Lernens

Die zentrale Aufgabe der Lenkung von Lernprozessen lässt sich auf folgende knappe Formel bringen (vgl. dazu vor allem die Webseite „Lenkung des Unterrichts":

Der Lehrende leitet aus einem ihm bekannten Ergebnis eines Erkenntnisaktes eine Möglichkeit ab, den Lernenden zur eigenen geistigen Aneignung dieser Erkenntnis zu veranlassen.

Aus dieser globalen Definition des Impulses lassen sich unterschiedliche Lenkungsstrategien ableiten.

  • Direkte Lenkung

Der Unterrichtende löst die Komplexität des Lerngegenstandes in eine Abfolge von sachlogisch aufeinander aufbauenden Wissenselementen oder Wissensportionen auf. Sie müssen so klein sein, dass sie unmittelbar aufgenommen werden können. Die Lernenden vollziehen die intendierten Erkenntnisakte schrittweise nach - 
gleichsam bit für bit.
     In der Regel leitet der Unterrichtende diese Art von Lernprozess mittels Fragen. Deren Kleinschrittigkeit folgt aus der Natur der Sache und hat nichts mit dem Geschick des Unterrichtenden zu tun, "gute" Fragen zu stellen. Der lineare Charakter dieses Vorgehens bedingt strikte, oft sogar rigide Verlaufsformen. Unerwartete Situationen wirken wie eine Störung - seien es Verständnisschwierigkeiten oder originelle Beiträge einzelner Schüler.
     Vom Lehrer geleitete Unterrichtsgespräche sollten daher nicht fragend-entwickelnd angelegt, sondern als Lehr-Lern-Diskurs gestaltet werden. Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite "Das Unterrichtsgespräch - Lehrerfrage oder Lehr-Lern-Diskurs?".

  • Indirekte Lenkung

Der Unterrichtende entwirft ein Arrangement, das den Lernenden zu einer Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand und damit zu dessen aktiver Aneignung veranlasst. Dazu dienen insbesondere geeignete Operationsobjekte (die Einzelheiten finden Sie auf den Webseiten zum Thema Operationsobjekte - die didaktisch wirksamen Gehalte").

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3.0 Unterricht - eine Regieaufgabe

3.1 Voraussetzungen

Die vorstehenden Überlegungen führen zu einem Aufgabenverständnis des Lehrers, das sich von tradierten Mustern erheblich unterscheidet. Die Einzelheiten werden demnächst auf der Webseite "Aufgaben und Funktionen des Lehrers im Unterricht" dargestellt.
     Da der Unterrichtsgegenstand - die "Sache" - im Mittelpunkt des Lernprozesses steht und ihn bestimmt, verlässt der Unterrichtende das Zentrum des Geschehens und nimmt eine randliche Position ein.

In der Vorbereitung des Unterrichts ist der Unterrichtende Dramaturg. Er

  • entwirft das Lernarrangement - das "Drehbuch",
  • wählt die Operationsobjekte aus und/oder entwickelt sie.

In der Durchführung des Unterrichts ist er Regisseur. Er

  • präsentiert die Operationsobjekte,
  • bringt sie zur Wirkung und interpretiert sie, wenn nötig,
  • organisiert Verlauf, Struktur und Ergebnis des Lernprozesses,
  • lenkt die dabei auftretenden Interaktionen,
  • leitet die Schüler bei der Arbeit an und unterstützt sie.

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3.2 Folgerungen

Der "Regiestil" des hier beschriebenen Unterrichts unterscheidet sich deutlich von dem des sokratischen Verfahrens. Das hat Folgen für die sprachlichen Lenkungsmittel:

  • Entwickelnde Fragen sind jetzt entbehrlich.
  • Erforderlich sind vielmehr Aussagen, die den Lernenden
    die jeweils notwendige Lernaktivität - "Operation" -
    verdeutlichen.

Unterricht dieser Art ist nicht lediglich Wissensvermittlung, sondern besteht auch in Kommunikation und Interaktion. Deshalb muss der Unterrichtende über Fertigkeiten verfügen, die generell für die Leitung themenbezogener Arbeitsprozesse erforderlich sind.

Sie entsprechen weitgehend denen eines Diskussionsleiters oder - in Anlehnung an neuere Entwicklungen der Führungspsychologie - denen eines Moderators.

Deshalb werden im Folgenden zwei entsprechende Aufgaben- und Funktionskataloge vorgestellt.

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4.0 Leitung von Arbeitsprozessen - Aufgaben und Funktionen

Die folgenden Ausführungen sind notwendig allgemeiner Art, denn sie beschreiben generell auftretende Situation. Die Kenntnis dieser Aufgaben und Funktionen erleichtert jedoch durch deren gedankliche Vorwegnahme die angemessene Reaktion in der konkreten Situation.

4.1 Erster Katalog

  • Ggf. Vorschläge für eine Aufgabenverteilung in der Aussprache machen.
  • Ggf. Vorschläge und Punkte sammeln, die bearbeitet werden sollen.
  • Zu Beginn eines jeden Arbeitsabschnitts in das Problem einführen oder ein geeignetes Mitglied der Lerngruppe dazu auffordern.
  • Am Ende jeder Arbeitsphase oder zur Strukturierung der Aussprache die jeweiligen Arbeitsergebnisse in Zwischenzusammenfassungen bündeln oder von einem geeignete Mitglied der Lerngruppe bündeln lassen.
  • Bei Abschweifungen das Thema zur Geltung bringen.
  • Darauf achten, dass kein wichtiger Punkt übersehen wird (ggf. die zu erörternden Punkte schriftlich festhalten oder festhalten lassen).
  • Stimmungen in der Lerngruppe beobachten, berücksichtigen und, wenn nötig, zur Sprache bringen.
  • Darauf achten, dass sich möglichst viele Mitglieder der Lerngruppe an der Aussprache beteiligen, zurückhaltende Mitglieder in die Aussprache einbeziehen, Beiträge aufeinander beziehen.
  • Unsichere Mitglieder der Lerngruppe unterstützen, Unterbrechungen und Störversuche unterbinden, auf Sachbezogenheit dringen.

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4.2 Zweiter Katalog

Generelle Aufgaben

  • Beiträge neu formulieren oder formulieren lassen, um themenbezogene Konzentration zu schaffen oder wiederherzustellen.
  • Längere Beiträge zusammenfassen oder zusammenfassen lassen.
  • Am Ende jeder Phase eine Synthese mehrerer Beiträge formulieren oder formulieren lassen.

Situative Aufgaben

  • Bei Verständnisschwierigkeiten für Klärung von Worten bzw. Begriffen sorgen, unbekannte Begriffe erklären, den Bezugspunkt unverstandener Anspielungen herausstellen.
  • Schweigsame Mitglieder der Lerngruppe in die Aussprache einbeziehen, zurückhaltende, doch zur Beteiligung erkennbar bereite Mitglieder der Lerngruppe unterstützen.
  • Aus der Lerngruppe an den Unterrichtenden gestellte Fragen vom Fragesteller beantworten lassen, an ein anderes Mitglied der Lerngruppe weitergeben oder an die ganze Lerngruppe zurückgeben.
  • Zu einem früheren Zeitpunkt nicht geklärte Sachverhalte an geeigneter Stelle erneut in die Aussprache einführen.

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5.0 Literaturgrundlage

Die vorstehenden Kataloge wurden bearbeitet und begrifflich an didaktische Aufgabenstellungen angepasst. Sie stammen aus

  • Siegfried GREIF
    Diskussionstraining
    Salzburg 1976, Otto Müller Verlag, S. 77
  • Gottfried HAUSMANN
    Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts
    Heidelberg 1959
  • Roger MUCCHIELLI
    Das Leiten von Zusammenkünften
    Salzburg 1972, Otto Müller Verlag, S. 55

Neuerdings verdienen folgende Titel Beachtung

  • Karin KLEBERT - Einhard SCHRADER - Walter G. STRAUB
    Moderationsmethode
    Gestaltung der Meinungs- und Willensbildung in Gruppen,
    die miteinander lernen und leben, arbeiten und spielen
    Hamburg 1997, Verlag Windmühle
  • Kurzmoderation
    Anwendung der Moderationsmethode in Betrieb, Schule und Hochschule, Kirche und Politik, Sozialbereich und Familie, bei Besprechungen und Präsentationen
    Hamburg 1997, Verlag Windmühle
  • Peter NISSEN - Uwe IDEN
    Kurskorrektur
    Ein Handbuch zur Einführung der Moderationsmethode im System Schule
    für die Verbesserung der Kommunikation und des Miteinander-Lernens
    Mit 15 Fallbeispielen zur aktiven Gestaltung von Unterricht, Konferenzen und Elternarbeit
    Moderation in der Praxis Band 1
    Hamburg 1995, Verlag Windmühle
  • Alexander REDLICH
    Konfliktmoderation
    Handlungsstrategien für alle, die mit Gruppen arbeiten
    Mit vier Fallbeispielen
    Hamburg 1997, Verlag Windmühle

Anhang

Vermutlich zum ersten Mal wird der didaktische Trichter in der Nürnberger Literatur 1545 in dem Buch »Deutsche Arithmetika« von Michael Stifels erwähnt: »Unangesehen, dass ein ungelehrter Mensch nicht danach fragt, dass er ungelehrt ist - und wohl sagen darf - er sollte das Maul nicht auftun, so ihm einer die Kunst könnte mit einem Trichter eingießen.«

Im Jahre 1647 veröffentlichte der Nürnberger Senator Georg Philipp Harsdörffer ein Lehrbuch der Poesie mit dem Titel »Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne behuf der lateinischen Sprache in VI Stunden einzugießen«. Harsdörffer , ein Barockmann, Historiker, Dichter und Gründer des Pegnesischen Blumenordens, hat in diesem Werk Regeln für das Schreiben von Gedichten in Deutsch aufgestellt. Damals war es allgemeine Meinung, für die Kunst der Poesie sei die Beherrschung des Lateins eine unerlässliche Voraussetzung. Das Buch war zu seiner Zeit so begehrt, dass schon nach drei Jahren die zweite Auflage erschien. Bald wurde es kurz der »Nürnberger Trichter« genannt und hat dem Nürnberger Trichter seinen unsterblichen Ruhm eingebracht.

In der Stadtbibliothek Nürnberg befindet sich wohl die älteste Darstellung des Nürnberger Trichters. Auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert sind drei Männer abgebildet, die einem auf dem Boden Liegenden die gesamte Weisheit mit einem großen Trichter eingießen. Man kann auf diesem Kupferstich alle möglichen Gegenstände erkennen, die in diesen Trichter hineingeschüttet werden. Das Bild trägt die Überschrift 
     »Seht liebe Leut, hie steht der Mann, so alle Künst eingießen kann.«

Quelle:
     o http://www.der-trichter.de/warum_trichter.htm
     o http://nuernberg.bayern-online.de/02_Tourismus/Der_Nuernberger_Trichter/

Harsdörffers Lehrbuch wurde zum Vorbild für Johann Christoph WAGENSEILs Pera librorum iuvenilium (fünf Bände, 1695; frei übersetzt: Rucksack mit Büchern für die Jugend). Diese Bücher waren ein Kompendium, das das damals verbindliche Schulwissen nicht nur enthielt, sondern zugleich auch leicht und wirksam vermitteln sollte. Johann Christoph WAGENSEIL (1633 - 1705) war Professor an der Universität Altdorf (zitiert nach Jürgen OELKERS, Anregung 44 (1999) S. 258, Anm. 6).

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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