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Was ist Lernen ?

Die Sicht der empirischen Lernpsychologie

Das Problemfeld

Lernen ist ein komplexer Vorgang; in Wissenschaft und Pädagogik wird Lernen unterschiedlich, oft auch strittig interpretiert. Wie auf den Webseiten „Der Begriff ‘Lernziel" und Lernen und die Arten des Lernens" dargestellt, wird Lernen von der empirischen Lernpsychologie als Verhaltensänderung verstanden.

Für sinnvolles Sprechen über didaktischen Handeln und seine Grundlagen ist eine Verständigung darüber erforderlich, was Lernen im Kern ausmacht. Sie kann durch einen Text von Helmut SKOWRONEK angebahnt werden. Hier sind nicht nur Positionen der empirischen Lernpsychologie plausibel dargestellt, sondern auch deren Grenzen sichtbar gemacht geworden.
             Damit ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Grundlage für ein didaktisch produktives Verständnis von Lernen gegeben. Dieser Lernbegriff bleibt sehr allgemein und bedarf der weiteren Eingrenzung.

Für eilige Surfer und Leser hat der Verfasser die Passage, die er als die zentrale Aussage des Textes ansieht, markiert. Wer sich auf den Text und seinen gedanklichen Zusammenhang näher einlassen will, sollte ihn im Original nachlesen.

Grundsätzliche Fragen des Themas »Lernen« werden auf der Webseite "Lernen - Voraussetzungen, Möglichkeiten, Probleme" vertiefend behandelt.

SKOWRONEKs Text

Der Vorgang, den wir Lernen nennen, begegnet uns in den verschiedensten Formen: wir lernen schwimmen, wir lernen ein neues Kartenspiel, wir lernen uns in einer fremden Stadt zurechtzufinden, wir lernen eine fremde Sprache zu sprechen oder eine Rechenmaschine zu programmieren. Aber auch bestimmte Vorlieben, Einstellungen, Vorurteile oder Wertmaßstäbe übernehmen wir in Lernvorgängen - solche Vorgänge gehören allerdings nicht zu den unmittelbar einleuchtenden Beispielen von Lernen. In vielen Fällen bemühen wir uns gezielt um Lernen; manches Gelernte wird aber zweifellos völlig unabsichtlich und beiläufig erworben. Die Umstände, unter denen sich das Lernen in den eben genannten Beispielen vollzieht, sind sehr verschieden nach Art und Komplexität, und ebenso disparat sind die Ergebnisse: eine einfache motorische Fertigkeit, eine koordinierte Zweisprachigkeit oder ein Gefüge von Einstellungen und Verhaltensformen, das in einer bestimmten sozialen Rolle gebündelt ist, etwa in der Rolle des ältesten Kindes.

Das gemeinsame Merkmal aller dieser und ähnlicher Fälle von Lernen ist die Änderung eines Verhaltens. Diese Änderung beobachten wir auf verschiedene Weise: Der das Schwimmen Erlernende kann sich zunehmend längere Zeiten über Wasser halten oder der trainierte Verkäufer bringt mehr Kunden zum Kaufentschluß als vor dem Training. Das Verhalten ändert sich aufgrund von Erfahrungen während der Übungs- bzw. Trainingsphase. Es ist, wie schon angedeutet, unerheblich, ob diese Erfahrungen von einem Lehrer oder einem anderen Unterweisenden gezielt vorbereitet oder gelenkt werden oder ob sie ungelenkt und sogar ohne Absicht des Lernenden selbst sich ergeben. In diesem weiten Sinne fassen wir unter Lernen also alle Vorgänge - vom Vermeiden des heißen Ofens bis zur Ausbildung eines Arztes -, in denen Interaktionen mit der Umwelt zu Änderungen des Verhaltens führen. In dieser Weise lernen natürlich nicht nur Menschen, sondern auch tierische Organismen.

Diese weite Grenzziehung bedingt auf der einen Seite eine Komplizierung, auf der anderen Seite aber begünstigt sie die Entwicklung grundlegender Modelle des Lernvorgangs. Man kann darüber streiten, ob eine solche Ausdehnung auf die Dauer der günstigere Weg ist oder ob nicht vielmehr eine Einengung des Lernens und seiner Untersuchung auf die realistischen Situationen menschlichen Lernens in Schulen und Beruf fruchtbar wäre, weil das eher zu Anwendungen führen könnte. Die wissenschaftliche Erforschung des Lernens, wie sie hauptsächlich in der Psychologie betrieben wurde, ist aber bisher bevorzugt den Weg der Ausweitung (auf tierisches Verhalten) und Elementarisierung (in einem oder wenigen Grundvorgängen des Lernens) gegangen.

Wenn Lernen also nach unserem bisherigen Verständnis die Änderung des Verhaltens als Ergebnis von Erfahrung ist, dann heißt das, daß Lernen nicht anders als im Verhalten sichtbar werden kann. Die Tatsache, daß Lernen stattgefunden hat, muß also aus dem Verhaltensunterschied zwischen einer früheren Situation a und einer späteren Situation b erschlossen werden. Wenn ein Schüler nach vielen Unterrichtsstunden die historische Entwicklung, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges führte, »versteht« dann kann dieses Lernprodukt nicht anders erkennbar werden als in bestimmten Verhaltensweisen, d. h. in Antworten, die er in Prüfungen, Tests oder bei ähnlichen Gelegenheiten erbringt. „Wissen" oder „Verstehen" als Lernergebnisse müssen sich also in konkreten Verhaltensweisen manifestieren; diese „Operationalisierung" von erwarteten Lernergebnissen ist für die Beurteilung der Wirksamkeit von Lernverfahren die erste Voraussetzung.

Weiterhin bedeutet die Umschreibung von Lernen als Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrung, daß nicht alle Verhaltensänderungen als Lernen zu bezeichnen sind. Dies ist eine wesentliche Qualifikation, die vor allem auf die Unterscheidung von Reifen und Lernen zielt. Es gibt Verhaltensänderungen, die offenbar nicht von Lehr- oder Lernvorgängen abhängig sind, sondern sich »von Innen heraus« nach einem artspezifischen Entfaltungsplan des Organismus zu ergeben scheinen. Um diese Phänomene zu erfassen, ist der Begriff der Reifung geprägt worden. Wie Carmichael (1954, S. 71 f.) in einigen klassischen Experimenten gezeigt hat, stellt das Schwimmenlernen von Amblystoma-Larven einen reinen Fall reifungsbedingter Verhaltensänderung dar. Ähnliches gilt für das Fliegenlernen bei Vögeln. Bei Menschen sind Beispiele vollkommen erfahrungsunabhängiger Ausbildung von Verhaltensweisen bisher nicht nachzuweisen. Vielmehr entwickeln sich menschliche Leistungsformen in einem komplexen Zusammenspiel von Reifungs- und Erfahrungsmomenten. Natürlich legen einzelne Autoren unterschiedliches Gewicht auf die relative Wirkung dieser beiden Faktorengruppen. Remplein (1950) und Gesell (1954) betonen nachdrücklich die Bedeutung der Reifung. Praktisch kommen aber alle menschlichen Entwicklungsfortschritte mindestens unter der Anregung oder unter wesentlicher Mitbeteiligung von Lernen bzw. Erfahrung zustande (Aebli 1969).

Andererseits sind durch unsere vorläufige Definition des Lernens Änderungen des Verhaltens ausgeschlossen, die sich aufgrund von Ermüdung ergeben. Solche Änderungen sind nur vorübergehender Natur; sie betreffen die augenblickliche äußere Leistung, nicht aber den relativ beständigen Lernstand oder die durch Lernen im Organismus ausgebildete Fähigkeit.

Hier wird eine wichtige Unterscheidung deutlich, [...], die Unterscheidung zwischen manifester Leistung oder wahrnehmbarem Vollzug (performance) und „eigentlichem" Lernen.

Lernen ist immer, wie noch einmal zu betonen ist, von wahrnehmbaren Vollzügen her zu erschließen, darf aber nicht mit diesem identifiziert werden.

Wie falsch das wäre, wird an Beispielen deutlich, in denen ein Mensch unter starker Erschöpfung oder unter der Einwirkung von Medikamenten Leistungen zu vollbringen hat. Die schwachen Ergebnisse sind weder die Folge von Vergessen, noch ist die Rückkehr zum normalen Leistungsstand nach ausreichender Erholung das Ergebnis neuer Übung oder neuer Unterweisung. Bei dieser Unterscheidung zwischen Vollzug und Lernen ist bereits vorausgesetzt, was nun noch einmal explizit gemacht werden soll: daß es sich nämlich beim Lernen um relativ dauerhafte Verhaltensänderungen handelt. Zusammengefaßt kommt man also etwa zu folgender Umschreibung des Lernens:

Lernen ist der Prozeß, durch den Verhalten aufgrund von Interaktionen mit der Umwelt oder Reaktionen auf eine Situation relativ dauerhaft entsteht oder verändert wird, wobei auszuschließen ist, daß diese Änderungen durch angeborene Reaktionsweisen, Reifungsvorgänge oder vorübergehende Zustände des Organismus (Ermüdung, Rausch oder Ähnliches) bedingt sind (vgl. Hilgard / Bower 1966, S. 2).

 Quellennachweis

  • Helmut SKOWRONEK
    Lernen und Lernfähigkeit
    München 1970, S. 9 ff.
    (bearbeitet)

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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