Muss es einen
Bildungskanon geben? Übersicht 1.0 Das Problemfeld Bundestagspräsident Wolfgang THIERSE hat am 8. Dezember 2000 in einer programmatischen Rede ausgeführt: Die Frage nach
dem Kanon Schon ein Jahr zuvor hatte er am 17. Januar 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung argumentiert: Zum sozialen
Zusammenhang einer Gesellschaft Dieser Kanon müsse so beschaffen sein, dass die Mehrheit der Gesellschaft ein paar Dinge gemeinsam kenne. Sonst können wir gar nicht miteinander kommunizieren." Vor ihm hatte sich Bundespräsident Roman HERZOG am 24. September 1996 in der Paulskirche aus Anlass der Feier 150 Jahre erste Germanistenversammlung in Frankfurt" wie folgt geäußert:
Am 20. Juni 1999 hat HERZOG anlässlich der Eröffnung des Goethemuseums in Frankfurt am Main erneut die Wiedereinführung eines allgemein anerkannten Literaturkanons" gefordert (zitiert nach Christiane BRINCK, 1999). In seiner »Berliner Rede« hat zuletzt Bundespräsident Horst KÖHLER am 21. September 2006 folgende zentralen Überlegungen vorgetragen:
Die seriöse Publizistik hat diese und ähnliche Äußerungen aufgegriffen und vertieft. Erziehungswissenschaftler und Lehrer muss es nachdenklich machen, dass die höchsten Repräsentanten unseres Staates Anlass sehen, sich so wie zitiert an die Öffentlichkeit zu wenden. Das wirft einige Fragen auf:
Die hier erörterte Problematik ist in einen Sachverhalt eingebettet, der als »kulturelles Gedächtnis« bezeichnet wird. Weiterführende Informationen dazu finden Sie auf der Webseite "»Gedächtnis« - ein vielschichtiger Begriff" unter Nr. 2.4. 2.0 Der Begriff »Kanon« Das Wort »Kanon« stammt
aus der Sprache des Alten Testaments und bezeichnet im Buche HESEKIEL eine Messrute und
bei JESAJA einen Waagebalken (GÄRTNER 1967, Sp. 108). Die Griechen übernahmen das Wort
und gebrauchten es für verschiedene Messgeräte: Waagebalken, Lot, Richtscheit, Lineal
(FUHRMANN 2000, S. 35). Seitdem hat es die Bedeutung »Maßstab« oder
»Richtschnur«: Die
Bedeutungserweiterung zu »Regel«, »Vorschrift« lag nahe. So heißen die Vorschriften
des Kirchenrechts »canones« - daher der Begriff »kanonisches« Recht. Zusammenfassend lässt sich sagen: »Kanon« bedeutet die
Verbindlichkeit des Wichtigen, Nicht die Liste macht den Kanon aus, sondern der legitime Wunsch, eine Auswahl zu treffen (Konrad ADAM 1999). 3.0 Die Argumente Die Diskussion um den Kanon ist kontrovers und mitunter auch heftig. Hier wird versucht, repräsentative Argumentationslinien nachzuzeichnen. In ihnen bildet sich eine These ab, in der Winfried Schulze (1987, S. 317 f.) den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Kanonproblems beschrieben hat: "Die
europäische Frühe Neuzeit ist ganz allgemein 3.1 Nein zum Kanon Ulrich BRÖMMLING (2001) hat die Ablehnung eines Bildungskanons am deutlichsten auf den Punkt gebracht (vgl. dazu die Webseite Stimme aus dem Publikum"):
Die Überzeugung, Bildung könne eine zuverlässige Lebenshilfe sein, auf die nicht verzichtet werden dürfe, ist in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts vielfach tiefem Zweifel und bitterer Enttäuschung gewichen. In dessen letztem Drittel wurde kulturelle Tradition eher als Last und Fessel denn als Vermächtnis und Fundament der Identität empfunden. Herkömmliche Maßstäbe für die Qualität von Werken der Literatur und Bildenden Kunst wurden für nicht mehr gültig erklärt und durch einen Kunst- und Qualitätsbegriff ersetzt, der alle künstlerische Produktion für gleich wichtig erklärte. Diese Entwicklung beeinflusste auch die - geradezu im Wortsinn - Grund legenden Entscheidungen über die Gegenstände und Inhalte schulischen Unterrichts. Zumal im Zusammenhang mit der Oberstufenreform galt lange Zeit das Argument, die zur Studierfähigkeit führenden Lernprozesse ließen sich ohne Unterschied in allen Fächern und mit allen Stoffen bzw. Themen gleich erfolgreich nicht nur anbahnen, sondern auch erreichen. So wurde alles möglich". Vielfach wird mit der immer schnelleren
Zunahme des Wissens argumentiert. Dem entspreche die Tatsache, dass Wissen immer rascher
obsolet werde und eine immer kürzere Halbwertzeit" habe. Insgesamt wird eine
aus der kulturellen Tradition von drei Jahrtausenden folgende Verbindlichkeit so heftig
als überholt und zukunftsblind abgelehnt, dass darüber eine vergangenheitsvergessene
Beliebigkeit entstanden ist. Erhoffte Befreiung schlug um in die Herrschaft der
Beliebigkeit und den daraus folgenden Verlust der Orientierung. Neuerdings hat der Literaturkritiker Werner FULD mit seinem Buch "Die Bildungslüge - Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen" (2004) alle herkömmlichen Begründungen von Bildung bzw. Allgemeinbildung, vor allem aber die Gültigkeit eines Bildungskanons ebenso furios wie umfassend verworfen. Sein zentrales Argument: Bildung
sollte nicht bedeuten, 3.2 Ja zum Kanon Vor diesem Hintergrund wächst die Einsicht, ein Bildungskanon könne notwendig, weil Not wendend, sein. Gustav SEIBT (1996) versteht ihn als eine Absprache darüber, was groß, schön und wichtig sei, auch als eine Verabredung darüber, wovon man sprechen sollte". So gesehen, werde er geradezu zu einem Bollwerk der Freiheit". Das mag pathetisch klingen. Deswegen werden im Folgenden einige nüchterne und zugleich zentrale Argumente für einen Bildungskanon zusammengestellt. Viele Argumente gegen einen Kanon machen lediglich aus der Not eine Tugend und lassen sich umkehren. Gerade weil das Wissen insgesamt nicht mehr überblickt werden kann, bedarf es einer Orientierung gewährenden Struktur. Wissenselemente in Einzelwissenschaften mögen schnell veralten. Nicht jedoch trifft das in gleicher Weise auf das im Kanon geordnete Schulwissen zu - die grundlegenden und zentralen Wissensbestände" (OELKERS 1999, S. 259 f.) Solch ein an wissenschaftlicher
Systematik orientiertes Bildungswissen hat nichts mit einem fachlichen
Vollständigkeitsanspruch zu tun. Systematik ist weder ein abgeschlossenes noch ein
endgültig gesichertes System. Sie ist vielmehr als eine Problemübersicht zu verstehen,
die es erlaubt, zu einem Sachverhalt aus der Kenntnis des Zusammenhanges begründet
Stellung zu nehmen (GEISZLER/SOLZBACHER 1989, S. 342). Deshalb schließt
die Verbindlichkeit eines Kanons nicht aus, ihn immer wieder abzuwandeln, zu ergänzen und
Teile zu ersetzen oder auszutauschen. Mit einem klaren und entschiedenen "Ja" zum Kanon hat sich kürzlich der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar TENORTH im Berliner Tagesspiegel (18. August 2003) an die breite Öffentlichkeit gewandt. Er bezeichnet einen modernen Kanon nicht nur als möglich, sondern vor allem auch als unentbehrlich und hat ihn wiederum bekräftigt (2004, S. 653). TENORTH knüpft an Wilhelm von HUMBOLDT an und bezeichnet dessen Grundidee einer "allgemeinen" Bildung als nach wie vor aktuell. Er zitiert:
In dieser Gleichzeitigkeit von "Lernen" und "Lernen des Lernens" sieht TENORTH (2003) die entscheidende Pointe der Didaktik einer allgemeinen Bildung. Zugleich lehnt er den viel erörterten Gegensatz von "Kompetenzen" und "Wissen" ab, denn er verfehle das Problem. Welche Aufgabe hat vor diesem Hintergrund ein Kanon? Welcher "Stoff" eignet sich dazu, diese Fähigkeiten auszubilden? Auch dazu äußert sich TENORTH, HUMBOLDT folgend. Die Antwort wird in den nächsten Abschnitt eingegliedert (s.u. Nr. 4.1). An anderer Stelle (2004, S. 434) konstatiert TENORTH, "dass
es ohne Kanonbildung offenbar nicht geht, Tenorth hat übrigens das 'Kanon'-Problem an anderer Stelle (1994, S. 122 - 141) systematisch und zugleich konstruktiv dargestellt und erörtert. Für ihn hängt es eng mit einer Paradoxie zusammen, die er (a.a.O. S. 23) formuliert:
Daraus folgt die Aufgabe, eine begründete Auswahl zu treffen. 4.0 Umrisse eines Kanons Wilhelm FLITNER, Nestor der geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik, hat im Zusammenhang mit den Kriterien der WRK (1969, S. 5) darauf hingewiesen, wissenschaftlich lasse sich der Katalog allgemeinbildender Fächer nicht begründen (vgl. das ausführliche Zitat im Anhang). Aber die Wissenschaft sei nun - obgleich es viele glauben - nicht letztendlich alleiniger Quell menschlicher Lebenserkenntnis, sondern ein Hilfsmittel für den Menschen. Seine Darstellung macht deutlich, dass Mensch, Welt und Kultur fördernd und gestaltend aufeinander einwirken. Dieser Prozess wird durch Sprache, Kommunikation, Wissenschaft und Kunst getragen. Deshalb muss er in der Generationenfolge weitervermittelt werden. 4.1 Geschichtliche Aspekte Hier sei ein kurzer Blick auf den Bildungskanon des Mittelalters gestattet, weil er einen für das Thema nützlichen Durchblick gewährt. Die »Sieben freien Künste« - »Septem artes liberales« - bestanden aus (vgl. Josef DOLCH 1965, S. 120 f., S. 137) zwei Gruppen:
In moderner Sprache handelt es sich beim Trivium um
Unser Wort »trivial«
macht deutlich, dass die Vertrautheit mit dem Trivium als absolute Selbstverständlichkeit
galt. Wilhelm von HUMOLDT sieht, wie TENORTH (a.a.O.) darlegt, vier Bereiche, in denen Kenntnisse zu erwerben sind: historische, mathematische, linguistische und ästhetische Kenntnisse. Der Begriff "Kenntnisse" umfasst dabei die Einheit von "Stoff" und "Fähigkeiten". Ähnlich hat sich Johann Gottfried HERDER geäußert. Versteht man Bildung als Erschließung
und Aneignung von Welt (vgl. dazu auch die Webseite "Kategoriale Bildung"), so
ergeben sich daraus vier Modi der Erschließung von Welt. Für die Formulierung eines
Kanons, so TENORTH, folgen daraus wichtige Konsequenzen. 4.2 Eine Kritik - Warnung oder etwa Prophezeiung? Die Inhalte des Bildungskanons waren in der Vergangenheit nicht so unbestritten selbstverständlich, wie es im Rückblick scheinen mag. Günther JAHN (1989) hat eine Fundsache veröffentlicht, die uns sehr nachdenklich machen sollte. Gotthold Ephraim LESSING hat zu seiner Zeit Anlass gesehen, folgende Kritik zu formulieren: Man lehrt
die Kinder in Schulen das, Bei der Entwicklung eines Kerncurriculums sollten die Elemente, die in jedem Fall darein aufzunehmen sind, genau geprüft und danach streng ausgewählt werden. 4.3 Funktionen Heike SCHMOLL (2001)
formuliert: Der Kanon ist nichts anderes als die inhaltliche Ergänzung des formalen
Konzepts der Allgemeinbildung." Sie meint damit freilich den universellen Aspekt
der grundlegenden Bildung. Diese Grundbildung darf nicht mit dem landläufigen
Begriff von Allgemeinbildung verwechselt werden, wie schon Eduard SPRANGER
gewarnt hat (zitiert nach FLITNER 1969, S. 8 Anm. 4). Das von Wilhelm FLITNER entwickelte
Konzept einer kyklischen Grundbildung" konzentriert sich auf einen Kernbestand
geistiger Grunderfahrungen", in denen sich Ursprünge unserer geistigen,
wissenschaftlich-technischen, sozialen, politischen und religiösen Situation fassen
lassen (SCHEUERL 1969, S. 23). Wer Wissenschaft studieren und verstehen sowie später
öffentliche Verantwortung tragen wolle, dürfe sich davon nicht dispensieren. Das Leben, erst
recht das Schulleben 4.4 Mindestinhalte eines Kerncurriculums Basiskompetenzen und Allgemeinwissen, dann Urteilskraft - das wird in den Dimensionen der Grundbildung als Bildungsminimum vorausgesetzt und ist von Schulen zu sichern. Hier liegt der harte Kern von Bildungsstandards und eines Kerncurriculums. So lapidar formuliert Heinz-Elmar Tenorth (2004, S. 658). Hier sind also zwei Aspekte zu verzeichnen und müssen unterschieden werden. Der Begriff Kanon meint sowohl Inhalte als auch Dispositionen (Fähigkeiten). Im Folgenden wird vor allem der Inhaltsaspekt behandelt. Zu den Dispositionen und Fähigkeiten finden Sie Vertiefungen auf der Webseiten zum Thema Schlüsselqualifikationen". In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird das Wort Kanon - eine Art Tabubegriff" (OELKERS 1999 S. 255) - weiterhin meist vermieden. Man spricht lieber vom »Kerncurriculum«, so Dietrich BENNER (2002, S. 69). Er beschreibt es (a.O. S. 87) wie folgt:
Roman HERZOG (1999) fordert etwas konkreter
Wilhelm FLITNER (1969 S. 14) spricht von fünf bis sechs Grunddisziplinen" des wissenschaftspropädeutischen Kanons. Gemeint sind
Auch Hartmut VON HENTIG, seinerzeit dem Begriff der Hochschulreife eher skeptisch gegenüberstehend, greift auf einen Kanon zurück. Dieser besteht aus einem linguistisch-logisch-semantischen Kurs mit einer obligaten Fremdsprache, Natural science, Politik" und Social science (zitiert nach FLITNER 1969, S. 13). Dietrich BENNER (2002,
S. 78) nennt als zum Kerncurriculum gehörend Diesen und ähnlichen Vorstellungen ist schwer zu widersprechen, weil sie in ihrer Allgemeinheit plausibel sind. Dass sie immer wieder - auch als Forderung, wie die Rede HERZOGs zeigt - formuliert werden, muss stutzig machen. Offenbar gibt es Defizite, weil auch Selbstverständlichkeiten gerecht zu werden schwerfällt. Die Frage, wie ein Kerncurriculum inhaltlich zu gestalten ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Dass dabei fachsystematische Gesichtspunkte zu beachten sind, dürfte unstrittig sein. Sie müssen jedoch auf ihre didaktische Bedeutung hin untersucht werden, damit ein für den Unterricht praktikables »System im Überblick« zustande kommt. GEISZLER/SOLZBACHER 1989, S. 242) nennen als Kriterien die großen Dimensionen von Bildung":
Aus diesen Bereichen bestimmten sich
Das alles mag realitätsfern-anspruchsvoll wirken. Deshalb sei auch eine schlichte - wenn man will: minimalistische - Position zitiert. Klaus WESTPHALEN fordert, die Schule muss retten, was zu retten ist." Sie müsse die Ordnung in der Vorstellungswelt" in ihren Lehrplänen bewahren und an die junge Generation weitergeben. Daraus folgen drei Schwerpunkte:
Letzthin hat die Diskussion über Bildungsstandards zu folgendem Resumee geführt (Eckhard KLIEME 2003, S. 97):
5.0 Anhang Wilhelm FLITNER (a.O. S. 5, 8 f., 14) argumentiert wie folgt: Erst bleibt noch das Phänomen der Grundbildung als eines historisch bestimmten Funktionszusammenhanges zu klären. Darüber gibt es nur die Lebenserfahrung, kein wissenschaftlich prüfbares Modell, aber auch die Lebenserfahrung ist intersubjektiv mitteilbar und läßt sich zu einem historischen Consensus bringen. In allen europäischen Ländern ist die
Vorbereitung auf wissenschaftliche Studien aufgebaut auf einer Kombination sprachlicher,
mathematischer und realistischer Studien. [...] Die Angabe der fünf bis sechs
Grunddisziplinen" des wissenschaftspropädeutischen Kanons [gemeint sind
Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichte und Sozialkunde, Muttersprache und
Fremdsprachen] bezieht sich nur auf die Unterrichtsthemata. Ihr traditioneller Inhalt muß
modernisiert werden [...] Das alles stellt alles neue didaktisch-methodische Aufgaben.
[...] 6.0 Literaturnachweis Hier werden nur die Titel nachgewiesen, die sich speziell auf das Thema »Kanon« beziehen. Die generellen Literaturnachweise zum Thema »Bildung« finden Sie auf der Webseite Literaturgrundlage".
Interessante
Ausführungen zu
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Übersicht ] Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 25.09.06 |