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Muss es einen Bildungskanon geben?

Begriff - Positionen - Argumente

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Der Begriff »Kanon«
3.0 Die Argumente
      3.1 Nein zum Kanon
      3.2 Ja zum Kanon
4.0 Umrisse eines Kanons
      4.1 Geschichtliche Aspekte
      4.2 Eine Kritik - Warnung oder etwa Prophezeiung?
      4.3 Funktionen
      4.4 Mindestinhalte eines Kerncurriculums
5.0 Anhang
6.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Bundestagspräsident Wolfgang THIERSE hat am 8. Dezember 2000 in einer programmatischen Rede ausgeführt:

„Die Frage nach dem Kanon
ist eine drängende Frage,
der wir uns stellen müssen."

Schon ein Jahr zuvor hatte er am 17. Januar 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung argumentiert:

„Zum sozialen Zusammenhang einer Gesellschaft
gehört so etwas wie ein Bildungskanon."

Dieser Kanon müsse so beschaffen sein, dass die Mehrheit der Gesellschaft ein paar Dinge gemeinsam kenne. „Sonst können wir gar nicht miteinander kommunizieren."

Vor ihm hatte sich Bundespräsident Roman HERZOG am 24. September 1996 in der Paulskirche aus Anlass der Feier „150 Jahre erste Germanistenversammlung in Frankfurt" wie folgt geäußert:

„Sicher war es notwendig, den festgefügten Kanon klassischer Werke in Frage zu stellen. Aber der Gegensatz zum unantastbaren »ewigen Vorrat deutscher Poesie« kann nicht die bloße Beliebigkeit sein. Über einen »Kanon« muss gewiss immer wieder neu nachgedacht werden, er wird sich auch immer wieder verändern, und ganz sicher gibt es hier keine Objektivität. Aber wenn wir die Maßstäbe nicht verlernen wollen, dann muß es möglich sein, sich darüber zu verständigen, welche Werke ein Abiturient nach seiner Schulzeit kennen sollte."

Am 20. Juni 1999 hat HERZOG anlässlich der Eröffnung des Goethemuseums in Frankfurt am Main erneut die Wiedereinführung eines „allgemein anerkannten Literaturkanons" gefordert (zitiert nach Christiane BRINCK, 1999).

In seiner »Berliner Rede« hat zuletzt Bundespräsident Horst KÖHLER am 21. September 2006 folgende zentralen Überlegungen vorgetragen:

  • "Die Schule soll jungen Menschen doch das vermitteln, was nötig ist, um sich in der Welt zurechtzufinden, um selbständig weiterzulernen und um Neues beurteilen zu können. Dafür aber sind Maßstab und Richtschnur nötig. 
                    Das griechische Wort für »Richtschnur« heißt: Kanon
    ." 

  • "Gerade im Bildungswesen brauchen wir eine klare Vorstellung vom Maßgebenden und Maßgeblichen. Der Inhalt des Bildungskanons wird immer im Wandel bleiben, denn immer kommt Neues hinzu, und Altes veraltet. Aber was wirklich Maß gibt, das hat lange Bestand."

Die seriöse Publizistik hat diese und ähnliche Äußerungen aufgegriffen und vertieft. Erziehungswissenschaftler und Lehrer muss es nachdenklich machen, dass die höchsten Repräsentanten unseres Staates Anlass sehen, sich so wie zitiert an die Öffentlichkeit zu wenden. Das wirft einige Fragen auf:

  • Was ist überhaupt ein Kanon?

  • Welche Sachverhalte und Gründe führen zu den zitierten Kritiken und Mahnungen?

  • Haben Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik eine zentrale Aufgabe vernachlässigt?

  • Welche Argumente sprechen gegen, welche für einen Bildungskanon?

  • Wenn wir einen Bildungskanon brauchen - welche Elemente sollte er enthalten?

Die hier erörterte Problematik ist in einen Sachverhalt eingebettet, der als »kulturelles Gedächtnis« bezeichnet wird. Weiterführende Informationen dazu finden Sie auf der Webseite "»Gedächtnis« - ein vielschichtiger Begriff" unter Nr. 2.4.

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2.0 Der Begriff »Kanon«

Das Wort »Kanon« stammt aus der Sprache des Alten Testaments und bezeichnet im Buche HESEKIEL eine Messrute und bei JESAJA einen Waagebalken (GÄRTNER 1967, Sp. 108). Die Griechen übernahmen das Wort und gebrauchten es für verschiedene Messgeräte: Waagebalken, Lot, Richtscheit, Lineal (FUHRMANN 2000, S. 35). Seitdem hat es die Bedeutung »Maßstab« oder »Richtschnur«: Die Bedeutungserweiterung zu »Regel«, »Vorschrift« lag nahe. So heißen die Vorschriften des Kirchenrechts »canones« - daher der Begriff »kanonisches« Recht.
     Um die Mitte des 4. Jahrhunderts wurde der Begriff Kanon für die Schriften des Alten und des Neuen Testaments gebräuchlich, die - nach Jahrhunderte währendem Ringen - als unverfälschtes Wort Gottes gelten sollten. Erst im 18. Jahrhundert übertrug der Leidener Philologe David RUHNKEN. den Inbegriff vorbildlicher biblischer Schriften auf einen Inbegriff mustergültiger profaner Autoren. An Aufstellungen hellenistischer Philologen anknüpfend, entwickelte er den Kanon der zehn attischen Redner, der drei Tragiker und der neun Lyriker, der für die Literatur vorbildlich und für die Schule verbindlich wurde. Dieser Kanon umfasste also, ähnlich wie die Bibel, Werke von gleichsam ewiger Gültigkeit.
     Später bedeutete der Begriff Kanon nur noch eine »maßgebliche Auswahl aus dem Vorhandenen«. Bezeichnete er zunächst nur einen Literaturkanon, so wurde er bald zum Fächerkanon und generell zum »Bildungskanon« erweitert, weil er jetzt für alle Bereiche der Kultur galt, die in Bildung und vor allem Schulbildung aufgenommen worden waren. Wenn jetzt von einem Kanon gesprochen wird, ist i.d.R. diese weitere Bedeutung gemeint.

     Einen komprimierten Überblick zum Thema »Kanon« finden Sie bei Heinz-Elmar Tenorth (1994, S. 23 - 29) sowie unter den folgenden Adressen

Zusammenfassend lässt sich sagen:

»Kanon« bedeutet die Verbindlichkeit des Wichtigen,
nicht die Herrschaft des Gestrigen.

Nicht die Liste macht den Kanon aus, sondern der legitime Wunsch, eine Auswahl zu treffen (Konrad ADAM 1999).

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3.0 Die Argumente

Die Diskussion um den Kanon ist kontrovers und mitunter auch heftig. Hier wird versucht, repräsentative Argumentationslinien nachzuzeichnen. In ihnen bildet sich eine These ab, in der Winfried Schulze (1987, S. 317 f.) den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Kanonproblems beschrieben hat:

"Die europäische Frühe Neuzeit ist ganz allgemein 
durch die Dialektik von Kanon und Pluralisierung 
zu charakterisieren."

3.1 Nein zum Kanon

Ulrich BRÖMMLING (2001) hat die Ablehnung eines Bildungskanons am deutlichsten auf den Punkt gebracht (vgl. dazu die Webseite „Stimme aus dem Publikum"):

„Den Allgemeinbildungskanon kann kein Mensch komponieren. 
Da trifft es sich gut, dass ihn auch kein Mensch braucht. 
Denn Brauchen steht mit Nutzen in Zusammenhang."

Die Überzeugung, Bildung könne eine zuverlässige Lebenshilfe sein, auf die nicht verzichtet werden dürfe, ist in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts vielfach tiefem Zweifel und bitterer Enttäuschung gewichen. In dessen letztem Drittel wurde kulturelle Tradition eher als Last und Fessel denn als Vermächtnis und Fundament der Identität empfunden. Herkömmliche Maßstäbe für die Qualität von Werken der Literatur und Bildenden Kunst wurden für nicht mehr gültig erklärt und durch einen Kunst- und Qualitätsbegriff ersetzt, der alle künstlerische Produktion für gleich wichtig erklärte.

Diese Entwicklung beeinflusste auch die - geradezu im Wortsinn - Grund legenden Entscheidungen über die Gegenstände und Inhalte schulischen Unterrichts. Zumal im Zusammenhang mit der Oberstufenreform galt lange Zeit das Argument, die zur Studierfähigkeit führenden Lernprozesse ließen sich ohne Unterschied in allen Fächern und mit allen Stoffen bzw. Themen gleich erfolgreich nicht nur anbahnen, sondern auch erreichen. So wurde „alles möglich".

Vielfach wird mit der immer schnelleren Zunahme des Wissens argumentiert. Dem entspreche die Tatsache, dass Wissen immer rascher obsolet werde und eine immer kürzere „Halbwertzeit" habe. Insgesamt wird eine aus der kulturellen Tradition von drei Jahrtausenden folgende Verbindlichkeit so heftig als überholt und zukunftsblind abgelehnt, dass darüber eine vergangenheitsvergessene Beliebigkeit entstanden ist. Erhoffte Befreiung schlug um in die Herrschaft der Beliebigkeit und den daraus folgenden Verlust der Orientierung.
     Im Übrigen besteht eine objektive Schwierigkeit, auf die Erich E. GEISZLER (1989 S. 341) hingewiesen hat. Umfang und Tiefe unserer reifen Spätkultur sprengen jedes Maß didaktischer Verfügbarkeit.

Neuerdings hat der Literaturkritiker Werner FULD mit seinem Buch "Die Bildungslüge - Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen" (2004) alle herkömmlichen Begründungen von Bildung bzw. Allgemeinbildung, vor allem aber die Gültigkeit eines Bildungskanons ebenso furios wie umfassend verworfen. Sein zentrales Argument: 

Bildung sollte nicht bedeuten, 
über vergangenes Wissen zu verfügen, 
sondern sich im Diskurs der Zeit bewegen zu können.

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3.2 Ja zum Kanon

Vor diesem Hintergrund wächst die Einsicht, ein Bildungskanon könne notwendig, weil Not wendend, sein. Gustav SEIBT (1996) versteht ihn als eine „Absprache darüber, was groß, schön und wichtig sei, auch als eine Verabredung darüber, wovon man sprechen sollte". So gesehen, werde er geradezu zu einem „Bollwerk der Freiheit". Das mag pathetisch klingen. Deswegen werden im Folgenden einige nüchterne und zugleich zentrale Argumente für einen Bildungskanon zusammengestellt.

Viele Argumente gegen einen Kanon machen lediglich aus der Not eine Tugend und lassen sich umkehren. Gerade weil das Wissen insgesamt nicht mehr überblickt werden kann, bedarf es einer Orientierung gewährenden Struktur. Wissenselemente in Einzelwissenschaften mögen schnell veralten. Nicht jedoch trifft das in gleicher Weise auf das im Kanon geordnete Schulwissen zu - die „grundlegenden und zentralen Wissensbestände" (OELKERS 1999, S. 259 f.)

Solch ein an wissenschaftlicher Systematik orientiertes Bildungswissen hat nichts mit einem fachlichen Vollständigkeitsanspruch zu tun. Systematik ist weder ein abgeschlossenes noch ein endgültig gesichertes System. Sie ist vielmehr als eine Problemübersicht zu verstehen, die es erlaubt, zu einem Sachverhalt aus der Kenntnis des Zusammenhanges begründet Stellung zu nehmen (GEISZLER/SOLZBACHER 1989, S. 342). Deshalb schließt die Verbindlichkeit eines Kanons nicht aus, ihn immer wieder abzuwandeln, zu ergänzen und Teile zu ersetzen oder auszutauschen.
     Das war in der Vergangenheit der Fall und wird auch in Zukunft geschehen. Immer muss der Kanon universell angelegt sein, „weil die Grundordnungen des kulturellen Lebens gemeint sind, die mitzutragen jedem Staatsbürger zugemutet werden muss." (FLITNER 1969, S. 11)

Mit einem klaren und entschiedenen "Ja" zum Kanon hat sich kürzlich der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar TENORTH im Berliner Tagesspiegel (18. August 2003) an die breite Öffentlichkeit gewandt. Er bezeichnet einen modernen Kanon nicht nur als möglich, sondern vor allem auch als unentbehrlich und hat ihn wiederum bekräftigt (2004, S. 653).

TENORTH knüpft an Wilhelm von HUMBOLDT an und bezeichnet dessen Grundidee einer "allgemeinen" Bildung als nach wie vor aktuell. Er zitiert:

"Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der Fähigkeiten und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist."
     Und:
"Der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles eigene Schaffen immer anschliessen muß, theils jetzt schon wirklich zu sammeln, theils künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellectuell-mechanischen Kräfte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt."

In dieser Gleichzeitigkeit von "Lernen" und "Lernen des Lernens" sieht TENORTH (2003) die entscheidende Pointe der Didaktik einer allgemeinen Bildung. Zugleich lehnt er den viel erörterten Gegensatz von "Kompetenzen" und "Wissen" ab, denn er verfehle das Problem.

Welche Aufgabe hat vor diesem Hintergrund ein Kanon? Welcher "Stoff" eignet sich dazu, diese Fähigkeiten auszubilden? Auch dazu äußert sich TENORTH, HUMBOLDT folgend. Die Antwort wird in den nächsten Abschnitt eingegliedert (s.u. Nr. 4.1). An anderer Stelle (2004, S. 434) konstatiert TENORTH, 

"dass es ohne Kanonbildung offenbar nicht geht, 
wenn Gesellschaften über das Tradierenswerte ihrer Kultur entscheiden."

Tenorth hat übrigens das 'Kanon'-Problem an anderer Stelle (1994, S. 122 - 141) systematisch und zugleich konstruktiv  dargestellt und erörtert. Für ihn hängt es eng mit einer Paradoxie zusammen, die er (a.a.O. S. 23) formuliert:

  • Allgemeinbildung ist sowohl für das Fortleben von Gesellschaft und Kultur als auch für die Handlungsfähigkeit jedes einzelnen Menschen notwendig.
  • Ihre konkrete Gestalt ist historisch-gesellschaftlich beliebig geworden, also immer auch anders möglich.

Daraus folgt die Aufgabe, eine begründete Auswahl zu treffen.

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4.0 Umrisse eines Kanons

Wilhelm FLITNER, Nestor der geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik, hat im Zusammenhang mit den Kriterien der WRK (1969, S. 5) darauf hingewiesen, wissenschaftlich lasse sich der Katalog allgemeinbildender Fächer nicht begründen (vgl. das ausführliche Zitat im Anhang). Aber die Wissenschaft sei nun - obgleich es viele glauben - nicht letztendlich alleiniger Quell menschlicher Lebenserkenntnis, sondern ein Hilfsmittel für den Menschen. Seine Darstellung macht deutlich, dass Mensch, Welt und Kultur fördernd und gestaltend aufeinander einwirken. Dieser Prozess wird durch Sprache, Kommunikation, Wissenschaft und Kunst getragen. Deshalb muss er in der Generationenfolge weitervermittelt werden.

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4.1 Geschichtliche Aspekte

Hier sei ein kurzer Blick auf den Bildungskanon des Mittelalters gestattet, weil er einen für das Thema nützlichen Durchblick gewährt. Die »Sieben freien Künste« - »Septem artes liberales« - bestanden aus (vgl. Josef DOLCH 1965, S. 120 f., S. 137) zwei Gruppen:

  • »Trivium«
      
    o Grammatik
       o Dialektik (bzw. Logik)
       o Rhetorik

  • »Quadrivium«
       o Arithmetik
       o Geometrie
       o Musik
       o Astronomie

In moderner Sprache handelt es sich beim Trivium um 

  • die Beherrschung der Sprache,
  • die Fähigkeit zum widerspruchsfreien und schlüssigen Denken
  • sowie die Fähigkeit zu geordneter und wirkungsvoller Kommunikation.

Unser Wort »trivial« macht deutlich, dass die Vertrautheit mit dem Trivium als absolute Selbstverständlichkeit galt.
     Das Quadrivium umfasst Mathematik und Naturwissenschaft. Die Musik gehört dazu, weil sie die generelle Gültigkeit mathematisch begründeter Maßverhältnisse repräsentiert.

Wilhelm von HUMOLDT sieht, wie TENORTH (a.a.O.) darlegt, vier Bereiche, in denen Kenntnisse zu erwerben sind:

historische, mathematische, linguistische und   ästhetische Kenntnisse.

Der Begriff "Kenntnisse" umfasst dabei die Einheit von "Stoff" und "Fähigkeiten". Ähnlich hat sich Johann Gottfried HERDER geäußert.

Versteht man Bildung als Erschließung und Aneignung von Welt (vgl. dazu auch die Webseite "Kategoriale Bildung"), so ergeben sich daraus vier Modi der Erschließung von Welt. Für die Formulierung eines Kanons, so TENORTH, folgen daraus wichtige Konsequenzen.
     Ein Kanon normiere nicht den Stoff, sondern den Prozess. Er sei offen für neue Begriffe, Themen und Erfahrungen. Er vermittle nicht Wissen, sondern darin bestehe seine Leistung, in der Vermittlung und durch sie gedankliche Klarheit zu schaffen und - mit den Worten HERDERs - "Ordnung in meinen Kopf" zu bringen.

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4.2 Eine Kritik - Warnung oder etwa Prophezeiung?

Die Inhalte des Bildungskanons waren in der Vergangenheit nicht so unbestritten selbstverständlich, wie es im Rückblick scheinen mag. Günther JAHN (1989) hat eine Fundsache veröffentlicht, die uns sehr nachdenklich machen sollte. Gotthold Ephraim LESSING hat zu seiner Zeit Anlass gesehen, folgende Kritik zu formulieren:

„Man lehrt die Kinder in Schulen das,
was sie auf der Universität lernen sollten,
damit sie auf der Universität dasjenige nachholen können,
was sie auf der Schule versäumt haben."

Bei der Entwicklung eines Kerncurriculums sollten die Elemente, die in jedem Fall darein aufzunehmen sind, genau geprüft und danach streng ausgewählt werden.

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4.3 Funktionen

Heike SCHMOLL (2001) formuliert: „Der Kanon ist nichts anderes als die inhaltliche Ergänzung des formalen Konzepts der Allgemeinbildung." Sie meint damit freilich den universellen Aspekt der grundlegenden Bildung. Diese Grundbildung darf nicht mit dem landläufigen Begriff von Allgemeinbildung verwechselt werden, wie schon Eduard SPRANGER gewarnt hat (zitiert nach FLITNER 1969, S. 8 Anm. 4). Das von Wilhelm FLITNER entwickelte Konzept einer „kyklischen Grundbildung" konzentriert sich auf einen „Kernbestand geistiger Grunderfahrungen", in denen sich Ursprünge unserer geistigen, wissenschaftlich-technischen, sozialen, politischen und religiösen Situation fassen lassen (SCHEUERL 1969, S. 23). Wer Wissenschaft studieren und verstehen sowie später öffentliche Verantwortung tragen wolle, dürfe sich davon nicht dispensieren.
     Der Kanon ist mithin das Gegenteil eines enzyklopädischen Vollständigkeitsanspruches.
Jürgen OELKERS (1999, S. 255) beschreibt ihn als eine „lernfähige Ordnung des Wissens". Nur mit seiner Hilfe könnten eine Zeithierarchie aufgestellt und Verteilungskämpfe (sc. der Fächer) eingegrenzt werden. Christine BRINCK (2002) bringt das auf den Punkt:

„Das Leben, erst recht das Schulleben
ist zu kurz,
um die paar Deutsch-, Geschichts-, Philosophie-, Fremdsprachenstunden
zu verplempern."

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4.4 Mindestinhalte eines Kerncurriculums

Basiskompetenzen und Allgemeinwissen, dann Urteilskraft - das wird in den Dimensionen der Grundbildung als Bildungsminimum vorausgesetzt und ist von Schulen zu sichern. Hier liegt der harte Kern von Bildungsstandards und eines Kerncurriculums. So lapidar formuliert Heinz-Elmar Tenorth (2004, S. 658).

Hier sind also zwei Aspekte zu verzeichnen und müssen unterschieden werden. Der Begriff Kanon meint sowohl Inhalte als auch Dispositionen (Fähigkeiten). Im Folgenden wird vor allem der Inhaltsaspekt behandelt. Zu den Dispositionen und Fähigkeiten finden Sie Vertiefungen auf der Webseiten zum Thema „Schlüsselqualifikationen".

In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird das Wort Kanon - eine Art „Tabubegriff" (OELKERS 1999 S. 255) - weiterhin meist vermieden. Man spricht lieber vom »Kerncurriculum«, so Dietrich BENNER (2002, S. 69). Er beschreibt es (a.O. S. 87) wie folgt:

  • Sprache
  • Mathematik
  • Geschichte
  • mehrperspektivische Reflexivität

Roman HERZOG (1999) fordert etwas konkreter

  • Muttersprache
  • mindestens eine Fremdsprache
  • Mathematik
  • Geschichte
  • Grundverständnis ökologischer und ökonomischer Zusammenhänge
  • fundierte Auseinandersetzung mit ethischen Fragen

Wilhelm FLITNER (1969 S. 14) spricht von fünf bis sechs „Grunddisziplinen" des wissenschaftspropädeutischen Kanons. Gemeint sind

  • Mathematik
  • Naturwissenschaft
  • Geschichte und Sozialkunde
  • Muttersprache
  • Fremdsprachen

Auch Hartmut VON HENTIG, seinerzeit dem Begriff der Hochschulreife eher skeptisch gegenüberstehend, greift auf einen Kanon zurück. Dieser besteht aus einem linguistisch-logisch-semantischen Kurs mit einer obligaten Fremdsprache, Natural science, „Politik" und Social science (zitiert nach FLITNER 1969, S. 13).

Dietrich BENNER (2002, S. 78) nennt als zum Kerncurriculum gehörend
    die „Aufgaben einer
     o szientifischen,
     o historischen,
     o ideologiekritischen,
     o transzendentalkritischen
        sowie
     o die Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen Weltsichten
        reflektierenden Bildung."

Diesen und ähnlichen Vorstellungen ist schwer zu widersprechen, weil sie in ihrer Allgemeinheit plausibel sind. Dass sie immer wieder - auch als Forderung, wie die Rede HERZOGs zeigt - formuliert werden, muss stutzig machen. Offenbar gibt es Defizite, weil auch Selbstverständlichkeiten gerecht zu werden schwerfällt.

Die Frage, wie ein Kerncurriculum inhaltlich zu gestalten ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Dass dabei fachsystematische Gesichtspunkte zu beachten sind, dürfte unstrittig sein. Sie müssen jedoch auf ihre didaktische Bedeutung hin untersucht werden, damit ein für den Unterricht praktikables »System im Überblick« zustande kommt. GEISZLER/SOLZBACHER 1989, S. 242) nennen als Kriterien die „großen Dimensionen von Bildung":

  • Kulturell-gesellschaftliche Abhängigkeiten,
  • kulturell-gesellschaftliche Aufgaben,
  • die Persönlichkeit und ihre Entwicklung,
  • die diese drei verbindende Wissenschaftssystematik.

Aus diesen Bereichen bestimmten sich

  • die inhaltsbezogenen Kriterien:
    o Welche Probleme bilden Schwerpunkte heutiger Forschung?
    o Grundlagen und Grundfragen sowohl der Fachdisziplin als auch des Schulfaches

  • die subjektorientierten Kriterien:
    o notwendige Erkenntnisse,
    o Handlungsbereiche,
    o Handlungsfähigkeiten.

Das alles mag realitätsfern-anspruchsvoll wirken. Deshalb sei auch eine schlichte - wenn man will: minimalistische - Position zitiert. Klaus WESTPHALEN fordert, die Schule „muss retten, was zu retten ist." Sie müsse die „Ordnung in der Vorstellungswelt" in ihren Lehrplänen bewahren und an die junge Generation weitergeben. Daraus folgen drei Schwerpunkte:

  • Die Unterrichtsgegenstände müssen eine mehrdimensionale „Landkarte" darstellen:
    Raum und Zeit, Natur, Kultur und Technik, Weltanschauung und Wissenschaft. Die Schulfächer geben eine systematische, keinesfalls beliebige Übersicht. Indem sie sich einer fachspezifischen Sprache und Darstellungsform bedienen, sind sie unersetzlich.

  • Die Schulfächer müssen die „großen Gegenstände" herausstellen. Das sind die kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Großleistungen, die für die Menschheit repräsentativ oder eben „klassisch" sind.

  • Die Lehrpläne aller Fächer müssen aktuelle Gegenwartsprobleme enthalten - auch wenn es hier immer wieder Paradigmenwechsel wie das Verschwinden des Ost-West-Gegensatzes gibt. Dabei ist eine Balance zwischen Tradition und Gegenwart herzustellen.

Letzthin hat die Diskussion über Bildungsstandards zu folgendem Resumee geführt (Eckhard KLIEME 2003, S. 97):

Im schulischen Kontext repräsentiert das Kerncurriculum die Struktur allgemeiner Bildung und die Initiation in die für das Leben notwendigen Modi der Welterschließung:
o Sprachlich-literarische,
o mathematisch-naturwissenschaftliche,
o historisch-sozialwissenschaftliche sowie
o ästhetisch- expressive 
   Dimensionen grundlegender Allgemeinbildung.

Kerncurricula können diese Leistung ermöglichen, denn
o sie bestimmen ein obligatorisches Fächergefüge,
o nennen zentrale Themen und Inhalte,
o bezeichnen erwartete Kompetenzen der Adressaten schulischer Arbeit
o und das alles "klar, eindeutig und verbindlich".

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5.0 Anhang

Wilhelm FLITNER (a.O. S. 5, 8 f., 14) argumentiert wie folgt:

„Erst bleibt noch das Phänomen der Grundbildung als eines historisch bestimmten Funktionszusammenhanges zu klären. Darüber gibt es nur die Lebenserfahrung, kein wissenschaftlich prüfbares Modell, aber auch die Lebenserfahrung ist intersubjektiv mitteilbar und läßt sich zu einem historischen Consensus bringen.

In allen europäischen Ländern ist die Vorbereitung auf wissenschaftliche Studien aufgebaut auf einer Kombination sprachlicher, mathematischer und realistischer Studien. [...]
Es handelt sich dabei um einen historisch gegebenen Consensus. Es dürfte schwer sein, ihn rational zu begründen. Auch die Curriculumforschung kann nur davon ausgehen, daß hier ein historischer Zusammenhang besteht, der einen Regelkreis darstellt: weil jener Kanon die Bevölkerung gebildet hat, wurden die heutigen politischen, ökonomischen und technischen Verhältnisse möglich; weil diese nunmehr bestehen, nötigen sie dazu, in der Bevölkerung eine allgemeine Grundausbildung anzustreben, die möglichst jeden gewinnt und in irgendeinem Grade mitformt und begabt. Daß ein Kanon sich wandeln kann und muß, liegt in seinem historischen Charakter, aber diese Wandlungen gehen in Längswellen von Epochen vor sich und nicht in den Kurzwellen modischer Strömungen. Der Kanon hat in unserer Epoche einen partiell, keineswegs total wissenschaftlichen Charakter.
Ebenso scheint es unerläßlich, daß diese allgemeine, wissenschaftsrelevante Grundbildung gesteigert wird zu einer wissenschaftspropädeutischen. [...]

Die Angabe der fünf bis sechs „Grunddisziplinen" des wissenschaftspropädeutischen Kanons [gemeint sind Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichte und Sozialkunde, Muttersprache und Fremdsprachen] bezieht sich nur auf die Unterrichtsthemata. Ihr traditioneller Inhalt muß modernisiert werden [...] Das alles stellt alles neue didaktisch-methodische Aufgaben. [...]
Es geht nicht um die Vorwegnahme von Informationen, die in der Universität oder in den Fachstudien gebraucht werden, sondern um Einführung in das kulturelle Verständnis, um Einführung in die Typen wissenschaftlicher Fragestellungen und Denkweisen, um die Grundlagen unseres sozialen und politischen Lebens, die nach wissenschaftlichen Forschungen verlangen."

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6.0 Literaturnachweis

Hier werden nur die Titel nachgewiesen, die sich speziell auf das Thema »Kanon« beziehen. Die generellen Literaturnachweise zum Thema »Bildung« finden Sie auf der Webseite „Literaturgrundlage".

  • Konrad ADAM
    Muß es einen Bildungskanon geben?
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 25 vom 30. Januar 1999

  • Aleida und Jan Assmann (Hrsg.)
    Kanon und Zensur
    Archäologie der literarischen Kommunikation II
    München 1987

  • Christine BRINCK
    Bildungskanon - wozu?
    Die Suche nach der Wahrheit als zentrale Aufgabe aller Bildung
    Die Welt vom 24. Januar 2002

  • Wilhelm FLITNER
    Die Hochschulreife in der heutigen Situation
    Zeitschrift für Pädagogik 15 (1969), Nr. 1, S.

  • Manfred FUHRMANN
    Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters
    Frankfurt am Mai 2000, 3. Auflage

  • ders.
    Die Furie des Verschwindens
    Literatur war der Kern europäischer Selbstvergewisserung
    »Die Welt« vom 24. Januar 2002

  • Werner FULD
    Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen
    Berlin 2004

  • Hans GÄRTNER
    Kanon
    in: Der kleine Pauly
    Lexikon der Antike, Band 3, Sp. 108 f.
    Stuttgart 1967

  • Roman HERZOG
    Der Kern eines Bildungskanons
    Auszug einer Rede auf einem Bildungskongress in Bonn
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 86 vom 14. April 1999

  • Günther JAHN
    „Gedanken unter der Feder reif werden lassen" -
    Anregungen aus Lessings Schreibwerkstatt
    Der Deutschunterricht 41 (1989) H. 3, S. 57

  • Eckhard KLIEME – u.a.
    Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards
    Eine Expertise
    Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF)
    Frankfurt am Main 2003
    Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

  • Susanne KNOCHE - Lennart KOCH - Ralf KÖHNEN (Hrsg.)
    Lust am Kanon
    Denkbilder in Literatur und Unterricht
    Frankfurt am Main/Bern 2003
    dazu die Rezension von
    Heinz-Elmar TENORTH

    Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) Nr. 3, S. 430 - 435

  • Horst KÖHLER
    Bildung für alle
    "Berliner Rede" am 21. September 2006
    http://www.bundespraesident.de/-,2.633054/Berliner-Rede-von-Bundespraesi.htm

  • Gotthold Ephraim LESSING
    Werke
    herausgegeben von Herbert Georg GÖPFERT
    München 1970 - 1971
    Band 3, S. 178

  • Jürgen OELKERS
    Kanon und Wissen:
    Standards gymnasialer Bildung
    Anregung 41 (1999) S. 250 - 261

  • Horst OPPEL
    Kanon
    Philologus Supplement 30 (1937) S.4

  • Heike SCHMOLL
    Wiederbelebung des Literaturkanons
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 102 vom 3. Mai 2001

  • Winfried Schulze
    Kanon und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit
    in:
    Aleida und Jan Assmann (Hrsg.)
    München 1987, S. 317 - 325

  • Gustav SEIBT
    Freiraum Bastille
    Wozu der literarische Kanon gut war
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 101 vom 30. April 1996

  • Heinz-Elmar TENORTH
    „Alle alles zu lehren"
    Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung
    Darmstadt 1994

  • ders. 
    Alles, was man lernen muss
    Tagesspiegel vom 18. August 2003

  • ders.
    Rezension Susanne KNOCHE -  Lennart KOCH -  Ralph KÖHNEN
    Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) Nr. 3, S. 430 - 435

  • ders.
    Bildungsstandards und Kerncurriculum
    Systematischer Kontext, bildungstheoretische Probleme
    Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), Nr. 5, S. 650 - 661

  • ders.
    "Grundbildung" und "Basiskompetenzen"
    Herkunft, Bedeutung und Probleme
    im Kontext allgemeiner Bildung
    Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7 (2004), H. 2, S. 169 - 182

  • Wolfgang THIERSE
    Kulturpolitik im Vakuum
    Rede am 8. Dezember 2000 auf dem Kulturforum der Sozialdemokratie Kassel e.V.

  • Klaus WESTPHALEN
    Retten, was zu retten ist
    Von der Aufgabe der Schule, trotzdem Allgemeinbildung zu vermitteln
    Deutsche Lehrerzeitung Nr. 47/48 vom 27. November 1997

Interessante Ausführungen zu 
                                    Begriff und Funktion des »Kanon« 
finden Sie im Internet unter folgenden Adressen:


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Literaturgrundlage


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 25.09.06
1998-2004 -