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Bildung
Klärungsversuche im politischen Raum
Übersicht
1.0 Einführung
1.1 Das Argumentationsfeld
1.2 Die Reden der
Bundespräsidenten
1.3 Rat der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Denkschrift 2003
2.0 Dokumentation
2.1 Bundespräsident Roman HERZOG
Rede am 4.
November 1997 im Berliner Schauspielhaus
2.2 Bundespräsident Johannes RAU
Rede am 14. Juli 2000 auf dem Ersten Kongress des Forums Bildung
Rede am 10. Januar 2002 auf dem Abschlusskongress des Forums Bildung
2.3 Bundespräsident
Horst KÖHLER
Berliner Rede in der Kepler-Oberschule Berlin-Neukölln am 21. September
2006
2.4 "Maße des Menschlichen"
Denkschrift
2003 des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
2.5 Diskussion
3.0 Quellennachweise
1.0 Einführung
1.1 Das
Argumentationsfeld
Die Äußerungen von Politikern zum Thema
Bildung sind so zahlreich, dass sie sich jedem Versuch einer Dokumentation entziehen. In
fast allen diesen Beiträgen ist ein Sprachgebrauch zu beobachten, in dem der Begriff
Bildung sehr allgemein bleibt. Das verbindet einen Vorteil mit einem
Nachteil.
Ohne Zweifel steht Bildung, zumal seit
die PISA-Studien veröffentlicht werden, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.
Als dafür typisch kann gelten, dass seit der Wahl des neuen Berliner Senats am 17. Januar
2002 die Senatsverwaltung für Schule jetzt den Namen Senatsverwaltung für
Bildung" erhalten hat.
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1.2 Die Reden
der Bundespräsidenten
Bereits Bundespräsident Roman HERZOG
hat am 5. November 1997 in einer bedeutenden Grundsatzrede die Bedeutung der Bildung
herausgestellt und gefordert:
Bildung
muß in unserem Land zum Megathema werden."
Zumimdest sind Zweifel gerechtfertigt, ob
dieser Forderung entsprochen wurde. Jedenfalls hat nunmehr auch Bundespräsident Johannes
RAU in zwei groß angelegten Reden die Autorität seines Amtes eingesetzt, um zu
notwendigen Entscheidungen und Entwicklungen beizutragen.
Aus den Reden beider Bundespräsidenten
werden hier einige der zentralen Gedanken
dokumentiert.
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1.3 Maße
des Menschlichen"
Unter diesem Titel hat Kirchenamt der
Evangelischen Kirche in Deutschland im Auftrage des Rates der EKD eine Denkschrift
herausgegeben (Gütersloh 2003). Sie formuliert
Evangelische
Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003
Diese Denkschrift richtet sich neben der
innerkirchlichen insbesondere an die allgemeine bildungspolitische Öffentlichkeit und
versucht Kriterien für ein zeitgemäßes Bildungsverständnis zu benennen. Bildung
versteht die EKD als
Zusammenhang
von Lernen, Wissen, Können,
Wertbewußtsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit
im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens".
Der Streit zwischen
Menschenbildung auf der einen und wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten auf der anderen
Seite wird aufgegeben.
Ökonomisch
erforderliche Bildung braucht kulturelle Bildung,
wertorientierte Bildung der Person
und Stärkung der einzelnen als Subjekte."
Eine Zusammenstellung zentraler
Positionen finden Sie hier. Umfangreiche Textauszüge
können Sie unter der Adresse http://www.ekd.de/EKD-Texte/1854_33367.html
einsehen.
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2.0
Dokumentation
2.1 Roman
HERZOG
Roman HERZOG eröffnete seine Rede, die er auf
Einladung der drei Berliner Universitäten am 5. November 1997 im Berliner Schauspielhaus
hielt, mit folgenden Worten.
Bildung muß in
unserem Land zum Megathema werden, wenn wir uns in der
Wissensgesellschaft des nächsten Jahrhunderts behaupten wollen. Wir brauchen eine breite,
nationale Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems. Die Spatzen pfeifen es von
den Dächern: Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land.
Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen. Wer sich den höchsten
Lebensstandard, das beste Sozialsystem und den aufwendigsten Umweltschutz leisten will,
der muß auch das beste Bildungssystem haben.
Außerdem ist Bildung ein
unverzichtbares Mittel des sozialen Ausgleichs.
Bildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und noch immer die beste Prophylaxe gegen
Arbeitslosigkeit. Sie hält die Mechanismen des sozialen Auf- und Abstiegs offen und hält
damit unsere Gesellschaft in Bewegung. Und sie ist zugleich das Lebenselixier der
Demokratie in einer Welt, die immer komplexer wird, in der kulturelle Identitäten zu
verschwimmen drohen und das Überschreiten der Grenzen zu anderen Kulturen zur
Selbstverständlichkeit wird."
Nach einer knappen Situationsanalyse
forderte er,
jetzt alle Kräfte
zusammenzunehmen und einen neuen Aufbruch zu wagen.
Es geht darum, Tabus zu knacken, Irrwege abzubrechen und falsche Mythen zu beseitigen.
[...]
Ich rufe auf zu einem öffentlichen
Diskurs über die Inhalte, die das 21. Jahrhundert bestimmen werden. Dazu brauchen wir
zumindest im Kern einen neuen Grundkonsens über unsere Bildungsziele, an dem sich alle
Bildungsinstitutionen orientieren können.
Ich glaube an die Zukunft eines
Bildungssystems, das sich durch sechs Eigenschaften auszeichnet: das erstens
wertorientiert und zweitens praxisbezogen ist, das drittens international
und viertens vielgestaltig ist, das fünftens Wettbewerb zuläßt und sechstens
mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht."
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2.2 Johannes
RAU
Bevor Johannes RAU Ministerpräsident und
später Bundespräsident wurde, war er Bildungsminister des Landes Nordrhein-Westfalen und weiß
daher, wovon er spricht. Vorab wird seine Definition von Bildung zitiert:
Die drei bleibenden
Ziele von Bildung sind:
- die Entwicklung der Persönlichkeit,
- die Teilhabe an der Gesellschaft
- die Vorbereitung auf den Beruf.
Sie stehen nicht unverbunden
nebeneinander.
Rede am 14. Juli 2000 auf dem Ersten Kongress des Forums Bildung
Die Bildungspolitik steht ... vor
einer außerordentlichen, doppelten Herausforderung:
- Sie muss das Wissen und die Fähigkeiten
vermitteln, die in Zukunft die Lebenschancen des Einzelnen und den gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Fortschritt bestimmen,
- und sie muss gleichzeitig verhindern, dass
das Tempo der Veränderungen zu wachsender sozialer Ausgrenzung führt und damit zu einer
neuen Form der Klassengesellschaft."
*
Ich glaube aber, dass sich bei allen
Veränderungen die formalen Fähigkeiten und auch das Basiswissen, das man braucht, nicht
so schnell wandeln, wie immer wieder gesagt wird. Es gibt auch in Zukunft einen
Grundbestand an Wissen, der zum Denken und Verstehen, zum Urteilen und Begründen
befähigt. Dazu braucht man nicht den Unterrichtsstoff zu vermehren, man muss lediglich
stärker differenzieren. Das ist auch keine Frage der Länge der Unterrichtszeit, sondern
der Übung in Konzentration, Ausdauer und Entspannung.
*
Wir sollten deshalb Bildung wieder
stärker ganzheitlich verstehen. In der Bildung vergewissern wir uns unserer selbst und
finden unsere Identität. Bildung ist, wie jede Kultur, die menschliche Form der
Weltaneignung und zugleich ihr Ergebnis. Zur Bildung gehören die Vorstellungen und
Einstellungen, die Fähigkeiten, die Kenntnisse und die Gewohnheiten, die es dem Menschen
ermöglichen, die Welt selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten.
Dafür brauchen wir neuen Schwung und
neue Ideen für Schulen und Hochschulen. Dafür brauchen wir neue gesellschaftliche
Prioritäten, die sich auch in den öffentlichen Haushalten niederschlagen müssen.
*
Wir stehen nicht zum ersten Mal vor der
Aufgabe, uns über eine Bildungsreform verständigen zu müssen. Mitte der sechziger Jahre
ging es vor allem um quantitative Fragen und um die Ausschöpfung von Bildungsreserven.
Heute geht es eher um qualitative Fragen.
Ein Ziel aber bleibt gleich: die
Begabungen aller erfolgreich zu fordern und zu fördern.
Dazu müssen wir fragen:
- Was sollen Kinder und junge Menschen
lernen? Welches Wissen und welche Fähigkeiten sind in Zukunft besonders
wichtig? Wie soll
gelernt werden?
- Wie können wir Bildung, Ausbildung und
Weiterbildung für möglichst alle verwirklichen, wie können wir Ausgrenzung
zurückdrängen und Integration fördern?
- Was müssen unsere Lehrer und Ausbilder
gelernt haben und können?
- Welche Rolle haben die Familien, die
Eltern?
*
Die Anforderungen des Arbeitsmarktes sind
heute anders als vor dreißig Jahren und oft auch höher. Dennoch: Wir dürfen Bildung
nicht darauf beschränken, junge Menschen auf den Beruf und für den Arbeitsmarkt
vorzubereiten. Wer ausschließlich vom "Bedarf" her denkt, hat schon verfehlt,
was mit Bildung eigentlich gemeint ist. [...]
Bildung ist auch etwas anderes als
Wissen. Wissen lässt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit und Erfahrung. [...]
Selbständig und frei denken zu lernen:
darum geht es nach wie vor. Wer nicht denken gelernt hat, der kann diesen Mangel durch
noch so viele Informationen nicht ersetzen, auch nicht durch modernste technische
Hilfsmittel.
- Denken und Verstehen: das hat zu tun mit
dem ganzen Menschen, mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand.
- Denken und Verstehen: das hat zu tun mit
analytischen Fähigkeiten und Phantasie, mit Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit,
sich neue Welten zu erschließen.
- Denken und Verstehen: das bedeutet,
Orientierung suchen, Orientierung haben und Orientierung geben zu können in einer Welt,
die uns mit immer neuen und immer mehr Einfällen, Eindrücken und Einsichten überhäuft.
*
Die drei bleibenden Ziele von Bildung
sind:
- die Entwicklung der
Persönlichkeit,
- die Teilhabe an der Gesellschaft
- die Vorbereitung auf den Beruf.
Sie stehen nicht unverbunden
nebeneinander.
Im Gegenteil:
Die Herausforderungen des technischen und sozialen Wandels führen dazu, dass sich diese
drei Hauptziele immer stärker gegenseitig bedingen und wechselseitig ergänzen.
Wir wissen, dass auch für den Erfolg im
Beruf die Persönlichkeit und die Gemeinschaftsfähigkeit eine weit größere Rolle
spielen, als wir das lange Zeit glauben wollten. Wir brauchen Menschen, die nicht nur
darauf aus sind, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und zu verwirklichen, sondern die
bereit und in der Lage sind, Verantwortung für andere zu übernehmen. [...]
Aber es gibt auch eine Kehrseite der
Medaille: Das Wissen ist wegen seiner Fülle, wegen seiner dynamischen Entwicklung, wegen
seiner Differenzierung und Spezialisierung immer schwerer zu erschließen. Das ist für
viele Menschen eine Belastung, vor allem für Ältere. Die Fähigkeit, schnell Wissen
parat zu haben, entscheidet immer mehr über persönliche Chancen und im
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wettbewerb.
Wer sich im vorhandenem Wissen richtig orientieren kann, wer
Informationen richtig auszuwählen versteht, kann selbständig handeln. Wer in der
Wissensflut und in den Scheinwelten des Informationsüberflusses versinkt, ist
ohnmächtig. Neben solidem Fachwissen werden daher Fähigkeiten wie Eigenverantwortung,
Urteilsvermögen und Kreativität immer wichtiger.
Darüber, wie wir in einer demokratischen
Gesellschaft, aber auch im Freundeskreis oder in der Familie zusammenleben, entscheiden
jene Fähigkeiten, die man gemeinhin als "soziale Kompetenzen" bezeichnet:
Teamfähigkeit, Toleranz, die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, aber eben auch die
Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Solche Schlüsselkompetenzen können Fachwissen nicht ersetzen.
Aber Fachwissen wird erst durch sie fruchtbar. Deshalb müssen sie in der Bildung ein
anderes Gewicht bekommen. Es gilt, soziales und intellektuelles Lernen stärker
zusammenführen.
*
Heute reicht es längst nicht mehr,
unseren Kindern in der Schule die klassischen Fertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen
beizubringen. Die technologische Entwicklung erfordert zwingend die Kenntnis neuer
Kulturtechniken : Nur wer mit den neuen Medien kompetent und kritisch umgehen kann, kann
auch das richtige Wissen finden, auswählen und anwenden.
Wer den Umgang mit diesen Techniken beherrscht, hat ungleich
bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Wo jedoch kein Zugang zu neuen Medien besteht oder wo die
Fähigkeit zum Umgang mit ihnen nicht vermittelt wird, kann Ungleichheit entstehen oder
verstärkt werden. [...]
Der Computer ist ein wunderbarer und intelligenter Knecht, aber
er ersetzt nicht menschliche Begegnungen oder Lebenserfahrung. Gute Pädagogik muss
verhindern, dass der Bildschirm die Wirklichkeit ersetzt. Der 'intelligente Knecht' darf
nicht bestimmen, was gefragt und wie gelernt wird, er darf sich nicht zum Herrn
aufschwingen.
*
Am wichtigsten scheint mir, dass sich
alle nach ihren Fähigkeiten entwickeln können. Das sind wir jedem Einzelnen schuldig,
und darauf sind wir als Gesellschaft angewiesen. Hüten wir uns vor falschen Alternativen.
Bildung heißt: Benachteiligung vermeiden, es heißt aber auch, Begabung, ja auch
Höchstbegabung, rechtzeitig zu erkennen und zu fördern. Das sind Ziele, die nicht
gegeneinander stehen. Darum dürfen wir sie auch nicht gegeneinander ausspielen.
*
Was sollten wir von unseren Schulen auch
in Zukunft erwarten?
Die Schulen müssen
- den Schülerinnen und Schülern Vertrauen
entgegen bringen und ihnen Verantwortung übertragen,
- sie müssen ihnen Mut zum Leben machen,
- und sie dürfen den Kindern das Kindliche
nicht austreiben,.
- Sie müssen die Teamarbeit fördern und
den selbstbezogenen Einzelnen einbinden,
- sie müssen den Schülerinnen und Schüler
die Chance geben, Umwege zu beschreiten und aus Fehlern zu lernen.
- Sie müssen das fächerübergreifende
Denken fördern
- und den Umgang mit neuen Medien üben.
Und schließlich: Die Schulen müssen
offen sein für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld, in dem sie arbeiten.
Ich wünsche mir,
dass alle die Chance haben, eine solche Schule zu besuchen.
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Rede am 10. Januar
2002 auf dem Abschlusskongress des Forums Bildung
Es geht vor allem um qualitativ
verbesserte Teilhabe, um eine Teilhabe, die die Veränderungen unserer Gesellschaft seit
den sechziger und siebziger Jahren berücksichtigt.
-
Was heißt Bildungsteilhabe in einer
Gesellschaft, in der es nicht mehr selbstverständlich ist, dass die Familie der ruhende
Pol ist?
-
Was heißt Bildungsteilhabe in einer
Gesellschaft, in der Frauen ihre Gleichberechtigung in der Arbeitswelt nicht nur
selbstverständlich einfordern, sondern in wachsendem Maße auch wahrnehmen?
-
Was heißt Bildungsteilhabe in einem Land,
das seit langem zu einem Einwanderungsland geworden ist, das diese Tatsache aber eher
widerwillig als aktiv gestaltend zur Kenntnis nimmt?
-
Was heißt Bildungsteilhabe in einer
Gesellschaft, die sich individualisiert und pluralisiert hat, in der der Konsens über
verbindende und verbindliche Werte nicht mehr selbstverständlich ist, in der dieser
Konsens vielmehr immer wieder diskutiert und ausgehandelt werden muss?
-
Was heißt Bildungsteilhabe in einer
Gesellschaft, in der für viele Menschen die Erwerbsarbeit elastischer, poröser und
fluider" geworden ist, wie das Jürgen Kocka einmal formuliert hat?
- Was heißt schließlich Bildungsteilhabe
in einer Gesellschaft, die älter wird und die bisher weder die Chancen noch die
Belastungen ausreichend sieht und entsprechend handelt, die in dieser Entwicklung liegen?
Bildung ist immer langfristig angelegt.
Sie braucht Zeit. Man muss sich diese Zeit auch nehmen und geben. Für Bildung am Beginn
des Lebens gilt das ganz besonders.
Hier geht es um die Vermittlung der Grundfertigkeiten, um Lesen,
Schreiben, Rechnen, um all das, was man braucht, damit man die späteren Bildungsangebote
optimal nutzen kann. Vor allem geht es aber darum, die Lust am Lernen zu fördern.
All das hat sehr viel mit Teilhabe zu tun: Die Kindergärten, die
Kindertagesstätten und die Grundschulen sind ja nicht nur die Tore zum Bildungswesen, sie
sind auch die Tore zu unserer Gesellschaft, zu Selbstentfaltung und
Gemeinschaftsfähigkeit, zu beruflichem Erfolg und staatsbürgerlicher Verantwortung.
*
Ich stehe, wie Sie wissen, dem Begriff
Wissensgesellschaft" skeptisch gegenüber, weil er deutlich zu kurz greift. Im
Zentrum unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung steht nicht der homo oeconomicus,
sondern der mündige, der zu eigenem Urteil fähige Bürger.
Dieser Bürger steht im Erwerbsleben, ganz gewiss - aber das
Erwerbsleben ist nur ein Teil des gesellschaftlichen Lebens, und wir sind schlecht
beraten, wenn wir diesen Teil des gesellschaftlichen Lebens für das Ganze halten. Das
Berufsleben ist enorm wichtig, aber es ist nur ein Teil und wenn Erziehung und Bildung das
übersehen, dann leisten sie einer Form des Analphabetismus Vorschub, die uns noch teuer
zu stehen kommen kann.
*
Wir diskutieren seit einiger Zeit, mal
intensiv, mal weniger intensiv über Werteerziehung; darüber, wie wichtig
Werteorientierung und Urteilsfähigkeit sind. [...]
Ich beharre darauf: Wir brauchen nicht
nur Fakten, nicht nur quantifizierbares Wissen, wir brauchen in unseren Bildungsstätten
auch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen und Maßstäben.
Dass diese Maßstäbe allgemein sind, ist kein Fehler, sondern
eine Tugend. Nur so können wir Kinder und Jugendliche bei den Fragen und Antworten
abholen, die sie selber stellen und geben.
Auch die Stätten der Bildung sind Orte, an denen man Werte
erfahren, an denen man sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Dieser Verantwortung
dürfen sie sich nicht unter Hinweis auf ihre gewiss wichtigen Aufgaben der
Berufsvorbereitung entziehen. Sie müssen sie aktiv wahrnehmen. Da schließe ich die
Hochschulen ein.
Auf diesem Feld geschieht schon viel. Wir sollten diesen
Einfallsreichtum und dieses Engagement fördern und nicht unterdrücken mit dem Hinweis
auf den Ernst des Lebens und die notwendige Vermittlung von beruflich verwertbarem Wissen.
Auch das ist Teilhabe, die mehr ist als Teilhabe am Erwerbsleben: Teilhabe am Leben.
*
Gibt es eine Formel, die all das
zusammenfasst, was jetzt in der Bildung getan werden muss?
Es geht um Teilhabe,
um qualitativ verbesserte Teilhabe an Bildung
in einer Gesellschaft, die sich gewandelt hat und immer weiter verändert.
Das wollte ich deutlich machen.
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2.3 Horst KÖHLER
Horst KÖHLER hielt die seit
Roman HERZOG zur Tradition gewordene »Berliner Rede« der Bundespräsidenten am 21. September
2006 in der Kepler-Oberschule zu Berlin-Neukölln. Das war angesichts der
enormen Probleme gerade in den Hauptschulen eine Demonstration.
Hier werden zwei zentrale Passagen
dieser Rede zitiert:
Bildung
für alle
-
"Gute Bildung stellt den ganzen Menschen in den Mittelpunkt. Diese Erkenntnis finden wir bei Humboldt und Kant, bei Goethe und Pestalozzi. Der Blick auf das Individuum - das muss auch heute unser Ausgangspunkt sein. Gute Bildung geht nicht in erster Linie von gesellschaftlichen Bedürfnissen oder den Anforderungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes aus. Zuallererst hilft gute Bildung uns, das zu entwickeln, was in jedem einzelnen von uns steckt; was uns von Gott gegeben ist.
-
Dieser Weg steht allen offen - dem Hauptschüler genauso wie dem Abiturienten, dem Jugendlichen genauso wie dem Rentner. Jeder kann etwas, und jeder braucht die Chance, sich durch Bildung weiter zu entwickeln und mehr aus dem eigenen Leben zu machen. Bildung bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft. Bildung gibt uns einen inneren
Kompass. Sie befähigt uns, zwischen Wichtig und Unwichtig und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
-
Bildung hilft, die Welt und sich selbst darin kennen zu lernen. Aus dem Wissen um das Eigene kann der Respekt für das Andere, das Fremde wachsen. Und sich im Nächsten selbst erkennen, heißt auch: fähig sein zu Empathie und Solidarität. Bildung ohne Herzensbildung ist keine Bildung.
-
Erst wenn Wissen und Wertebewusstsein zusammenkommen, erst dann ist der Mensch fähig, verantwortungsbewusst zu handeln. Und das ist vielleicht das höchste Ziel von Bildung.
-
Gute Bildung ist und bleibt für den Einzelnen auch die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung und berufliches Fortkommen. Zwar bietet selbst Bildung keinen absoluten Schutz vor den Risiken am Arbeitsmarkt. Aber die Berufs- und Beschäftigungschancen eines Menschen steigen, je besser er gebildet und ausgebildet ist. Gute Bildung ist deshalb eine besonders wirksame Form der sozialen Absicherung.
-
Übrigens ist auch Demokratie auf Bildung angewiesen. Unsere freiheitliche Gesellschaft lebt davon, dass mündige Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für sich und für das Gemeinwohl übernehmen. Eine Diktatur kann sich ungebildete Menschen leisten - nein: sie wünscht sich die sogar. Eine Demokratie dagegen braucht wache und interessierte Bürger, die Ideen entwickeln und Fragen stellen. Wo die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, da kann es nicht gleichgültig sein, in welcher geistigen Verfassung sich das Volk befindet. Und: Wer Populisten, Extremisten und religiösen Fanatikern widerstehen soll, braucht dafür Bildung."
Grundaufgaben
der Schule "Die Schule soll jungen Menschen eine solide Grundausstattung an Fähigkeiten und Kenntnissen mitgeben. Das
beginnt mit Lesen, Schreiben und Rechnen - die drei sind der Grundstock. Und darüber hinaus? Um diese Frage
wird von jeher heftig gerungen. [...] Ich bilde mir nicht ein, da Experte zu sein. Aber zwei Feststellungen sind mir wichtig.
-
Erstens:
Die Schule soll jungen Menschen doch das vermitteln, was nötig ist, um sich in der Welt zurechtzufinden, um selbständig weiterzulernen und um Neues beurteilen zu können. Dafür aber sind
Maßstab und Richtschnur nötig. Das griechische Wort für "Richtschnur" heißt:
Kanon. Gerade im Bildungswesen brauchen wir eine klare Vorstellung vom Maßgebenden und Maßgeblichen. Der Inhalt des Bildungskanons wird immer im Wandel bleiben, denn immer kommt Neues hinzu, und Altes veraltet. Aber was wirklich Maß gibt, das hat lange Bestand.
-
Zweitens:
Bei der Konkurrenz um die knappe Schul- und Lernzeit dürfen Fächer wie Musik, Kunst und Sport nicht ins Hintertreffen geraten. Denn Musik, Kunst und Sport bringen Vernunft und Gefühl zusammen, und das ist wichtig für die Persönlichkeit und gut für Intuition und Kreativität.
-
Und noch ein Schulfach liegt mir am Herzen:
der Religionsunterricht. Er bietet jungen Menschen Antworten auf ihre Sinnfragen. Jedem steht es frei, ob er diese Angebote annehmen möchte oder nicht. Ich finde es wichtig, dass auch in der Schule die Frage nach Gott gestellt wird. Deshalb halte ich den Religionsunterricht für unverzichtbar.
Gerade weil wir in einer pluralen Gesellschaft leben, sollen die Religionen ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen müssen, sondern im Unterricht Zeugnis von dem geben können, woran sie glauben und worauf sie hoffen. Das gilt natürlich auch für den Islam."
Am
17. Juni 2008 hat Horst KÖHLER in einer weiteren »Berliner Rede« drei Ziele
für Deutschland genannt:
Arbeit,
Bildung, Integration
Hier
wird die zentrale Passage wiedergegeben, in der der Bundespräsident seine
Überlegungen zur Bildung vorträgt.
Bildung:
Dazu habe ich im
September 2006 in der Kepler-Oberschule in Neukölln meine Berliner Rede „Bildung
für alle“ gehalten. Die können Sie im Internet nachlesen, sie ist weiterhin
gültig. Ich nenne folgende Kernpunkte.
-
Im
Mittelpunkt des Bemühens um Bildung stehen nicht die Bedürfnisse von
Wirtschaft und Arbeitsmarkt, sondern der einzelne Mensch. Wer sich bildet,
will nicht nur etwas können, sondern etwas werden: orientierungssicher und
selbstkritisch, aufgeschlossen für neue Ideen und unbestechlich bei ihrer
Prüfung, der eigenen Wurzeln bewusst und weltoffen, selbstbestimmt und
verantwortungsbereit. So zu werden, das soll jeder und jedem von uns offen
stehen. Darauf ist auch unser Land angewiesen, weil gute Bildung sozialen
Zusammenhalt und wirtschaftliche Kraft stiftet.
-
Deutschland
braucht ein Klima der Begeisterung und der Anerkennung für Bildung. Es soll
ein Land werden, in dem alle Lernen lernen, neugierig bleiben und sich ein
Leben lang weiterbilden. Es soll ein Land werden, in dem Bildung auf Respekt
stößt, und das Bemühen um Bildung auf Anerkennung und Hilfe.
-
Deutschland
muss endlich gute Bildungschancen für alle bieten. Es ist beschämend, wie
oft in unserem Bildungswesen die Herkunft eines Menschen seine Zukunft
belastet. Zum Beispiel bekommen Kinder, deren Eltern nicht studiert haben,
nur ein Drittel der Chancen zum Besuch des Gymnasiums wie ihre
Altersgenossen aus Akademiker-Haushalten, und während von denen 83 von 100
studieren, sind es bei den Nichtakademiker-Kindern von 100 nur 23. Für
Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Chance, eine qualifizierte Ausbildung
zu bekommen, nur halb so groß wie für Kinder aus einheimischen Familien.
Fast jeder fünfte Jugendliche mit ausländischen Wurzeln verlässt die
Schule ohne Abschluss, und zwei von fünf schließen keine Berufsausbildung
ab. Entsprechend schlecht sind dann ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und
für den sozialen Aufstieg.
-
Hinter
diesen Zuständen steckt kein böser Wille; aber doch zu oft
Gleichgültigkeit, Antriebsschwäche und Wegsehen – auf allen Seiten.
Schluss damit. Wir brauchen flächendeckend intensive Deutschkurse für
Zuwandererkinder und nötigenfalls auch für ihre Eltern, verpflichtende
Sprachprüfungen vor Schuleintritt und gezielte Hilfe für alle
Schülerinnen und Schüler, egal ob einheimisch oder zugewandert, die sich
schwer tun. In den Stundenplänen dürfen Musik, Kunst und Sport nicht zu
kurz kommen; und es sollte möglichst überall Angebote geben wie „Jedem
Kind ein Musikinstrument“ und Schnupperkurse im Sportverein.
-
Unser
Bildungswesen darf niemanden aufgeben und zurücklassen und niemandem
gestatten, sich treiben zu lassen. Auf Seiten der Lernenden und der
Ausgebildeten braucht es die Erkenntnis: Wissen, Können und Bildung kommen
nicht per Nürnberger Trichter und nicht ein für alle Mal, sondern sie sind
das Ergebnis eigener Anstrengung ein Leben lang. Keine Schulabbrecher mehr,
ein gehaltvoller Abschluss für alle am Ende der Schulzeit und endlich ein anspruchsvolles
System zur beständigen beruflichen Weiterbildung – das sind gute Ziele
für die Agenda 2020. Und wer immer das Zeug dazu hat, das Abi zu machen und
zu studieren, soll sich ermutigt und gefördert sehen, von der
Schulempfehlung beim Elternabend bis zur fairen Hilfe bei der Finanzierung
des Studiums. Apropos Schulempfehlung: Ich hatte Glück. Bei mir gab es den
Lehrer Balle. Seinetwegen kam ich aufs Gymnasium. Aber darf das heute noch
Glückssache sein?
-
Nötig
sind exzellente Bildungsangebote schon in Kindergarten und Vorschule; nötig
sind bruchlose Übergänge von Abschnitt zu Abschnitt des Bildungsweges;
nötig ist individuelle Förderung von Anfang an, und zwar auch für die
Hochbegabten; nötig sind Schulen und Hochschulen, deren Qualität wieder
Weltruf genießt – nicht aus Freude am Weltruf, sondern aus Verantwortung
für die Schüler und Studenten. Dafür braucht unser Bildungswesen mehr
Geld. Es nehme also niemand sinkende Schüler- und Studentenzahlen zum
Vorwand für Einsparungen!
-
Was
hilft den Schulen und Universitäten, dieses Ziel zu erreichen? Es helfen
ihnen mehr Raum zur eigenständigen Gestaltung und weniger bürokratische
Gängelung; mehr Lehrende und mehr pädagogischer Ehrgeiz; noch mehr
Verständnis und Hilfe vonseiten der Eltern und viel mehr Interesse und
Beistand vonseiten der Öffentlichkeit; weniger Reformitis im föderalen
Struktur- und Lehrplan-Dschungel und dafür mehr bundesweite
Qualitätsstandards mit dem entsprechenden Druck zur Angleichung der
Leistungsniveaus.
Kurz und gut: In
Sachen Bildung lässt sich für alle mehr tun und von allen mehr erwarten. So
können ungezählte Menschen mehr innere Unabhängigkeit gewinnen, mehr aus
ihren Talenten machen, mehr beitragen zum guten Miteinander in Deutschland und
mehr daran teilhaben.
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2.4
Maße
des Menschlichen" - Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland
Der Inhalt
1.0 Neue Bedingungen und
Herausforderungen
1.1 PISA eine mehrfache Herausforderung
1.2 Mehrdimensionale Bildung
1.3 Unterrichtserneuerung und Lernkultur
1.4 Unterrichtsqualität und Qualitätskontrolle
1.5 Vielschichtigkeit von Leistungserwartung- und Förderung
1.6 Bildung und soziale Lage
1.7 Selbstverantwortlichkeit und Selbstwert
1.8 Lebenslanges Lernen
1.9 Bildung, Lebenssinn und der »ganze Mensch«
2.0 Lebenslagen und Menschenbild
2.1 Lebenslagen von Kindern
2.2 Lebenslagen Jugendlicher
2.3 Lebenslagen Erwachsener
2.4 Was ist der Mensch
3.0 Maße von Menschsein und Bildung evangelische Perspektiven
3.1 Weltgesellschaftliche Veränderungen und biblisches Menschenbild
3.2 Grundsätze evangelischen Bildungsverständnisses
4.0 Zeitgemäße Bildung
4.1 Bildung umfasst Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Handeln und Sinn
4.2 Bildung der Zukunft braucht Raum für das Unerwartete
4.3 Bildung gliedert ökonomische Leistungserwartungen
in die Entwicklung der Person und Kultur ein
4.4 Globalisierung erfordert interkulturelle und interreligiöse Bildung
4.5 Der vernünftige Umgang mit alten und neuen Technologien setzt Bildung voraus
4.6 Bildungsprozesse verlangen Zeit und gesammelte Anstrengung
4.7 Bildung braucht Geschichtsbewusstsein, Erinnerung und Gedenken
4.8 Zur Bildung gehören Transzendenz und Gottesfrage
5.0 Bildung in menschlichen Maßen Thesen
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Aus der Einleitung
Der Begriff »Bildung« wird oft nur
formelhaft oder schillernd gebraucht. Wenn im Namen von Bildung das pädagogische
Leistungsniveau in Deutschland gehoben werden soll und muss, ist dagegen ein
unverkürztes, mehrdimensionales Verständnis von Bildung anzustreben. Dies gilt auch für
die Kirche selbst. Adressat dieser Denkschrift ist deshalb die allgemeine
bildungspolitische und die innerkirchliche Öffentlichkeit.
Die evangelische Kirche fragt nach den
Maßstäben, an denen Bildung in ihrer humanen Qualität zu messen ist. Welche Bildung
eine Wissens- und Lerngesellschaft wirklich braucht, versteht sich viel weniger von
selbst, als dies in den heutigen Diskussionen und Verlautbarungen zu Bildungsfragen
erkennbar wird. Was dient der Entfaltung des Menschen, jedem Einzelnen wie der
menschlichen Gemeinschaft, die heute nur noch in einem globalen Horizont verstanden werden
kann?
Gegenüber anderen gesellschaftlichen
Instanzen akzentuiert diese Denkschrift das Bildungsverständnis in folgenden Punkten:
-
Weil Bildung und Menschsein
zusammengehören, werden die konkreten Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen in Relation zu dem zugrunde zu legenden Menschenbild vor Augen gerückt.
-
Das eigene Bildungsverständnis
korrespondiert mit theologischen Grundsätzen der evangelischen Kirche.
-
Im Unterschied zu Stellungnahmen und
Studien, die sich entweder auf bestimmte Teilaspekte von Bildung konzentrieren und darauf
einengen (»kognitive Gesellschaft«, »lebenslanges Lernen«) oder von vornherein
verständlicherweise nur bestimmte Seiten von Grundbildung untersuchen wollen (PISA), wird
das volle Spektrum der Aufgaben einer »zeitgemäßen Bildung« diskutiert.
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Thesen (Auszüge)
These 1
Bildung betrifft den einzelnen Menschen als Person, seine Förderung und Entfaltung als
»ganzer Mensch« und seine Erziehung zu sozialer Verantwortung für das Gemeinwesen.
These 2
Bildung spiegelt als Kulturanspruch die Sinn- und Wertorientierung einer Gesellschaft und
verlangt daher einen kontinuierlichen öffentlichen Bildungsdiskurs.
These 3
Die Erziehungs- und Bildungsaufgaben der Gegenwart erstrecken sich auf schulische wie
außerschulische Bereiche.
Entsprechend umfasst Kultur über das traditionelle ästhetische
Verständnis hinaus die humane Kultivierung aller Lebensverhältnisse. Hierbei bilden die
Familie, das Zusammenleben der Generationen und das Zusammenleben mit Menschen anderer
Herkunftskulturen besondere Prüfsteine des kulturellen Willens und Vermögens. Eine
bürgergesellschaftliche Lernkultur lebt gleichermaßen von formellem und informellem
Lernen, von Bildungserfahrungen in Schule und Alltag. Beide Lernformen sind anzuerkennen
und gegenseitig anschlussfähig zu machen.
These 4
Bildung muss Wissen und Lernen inhaltlich qualifizieren.
»Lernen« und »Wissen« sind Funktionsbegriffe. Sie geben von
sich aus nicht zu erkennen, was gelernt werden soll, welches Wissen zu welchen Zwecken in
welchen Dimensionen unbedingt notwendig ist und wie sich die Auswahlkriterien ihrerseits
begründen. Weder die räumliche Entgrenzung durch die neuen Informationsmedien noch die
zeitliche unter der Devise lebenslangen Lernens liefern als solche inhaltliche Kriterien.
Bildung dagegen fragt umfassender nach der Substanz und den Zielen von Wissen und Lernen.
Die nationale und europäische Bildungsdiskussion braucht deswegen unter Beachtung der
Bildungshoheit der Bundesländer eine Aufklärung über Bildung, die stärker an
inhaltlichen Maßstäben und Qualitätsgesichtspunkten orientiert ist.
These 5
Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein und Handeln im
Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen.
Wissen als äußere Beherrschung von Mitteln ermöglicht noch
nicht verantwortungsbewusstes Handeln. Erst Bildung als Wertbewusstsein in der
Einschätzung der für das »Überleben« und das »gute Leben« notwendigen Zwecke
begründet vernünftige Mittel- und Ressourcenverwendung. Die alte Unterscheidung zwischen
Wissen und Weisheit ist heute mehr denn je notwendig.
These 11
Die Frage nach Gott ist für zeitgemäße Bildung unabdingbar, da sie vor absolutierendem
Denken und Handeln schützt.
In der für den Protestantismus zentralen Rede von der
»Rechtfertigung« des Menschen »allein aus Gnade« und »allein durch den Glauben« wird
zwischen Gott und Mensch sowie zwischen dem Menschen als »Person« und seinen »Werken«
ebenso radikal wie heilsam unterschieden. Die Radikalität dieser Unterscheidung bewahrt
vor Absolutsetzungen jeder Art.
Quellennachweis:
Die vorstehenden Texte werden nach der Web-Site der EKD zitiert. Die Adresse
finden Sie hier.
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2.5 Diskussion
Das Echo der beiden Reden kann hier nicht dokumentiert
werden. Eine Veröffentlichung sei jedoch erwähnt, weil sie in sie in einer
offiziösen Publikation erschienen ist und ihr Verfasser Detlef JOSCZOK mit dem Titel
Bildung - kein Megathema" auf HERZOGs Rede explizit Bezug
nimmt.
Der Verfasser begründet sein paradox wirkendes Wortspiel
(S. 33) wie folgt. Das Megathema" heiße "Ökonomie". Bildung sei deswegen
kein Thema, weil es im öffentlichen Disput und in der Praxis ausschließlich um das Fitmachen", den raschen Erwerb
verwertbaren Wissens, um (berufliche) Ausbildung und Qualifizierung gehe. Bildung besitze
jedoch einen Mehrwert". Der freilich bedürfe immer wieder grundsätzlicher
Vergewisserung.
JOSCZOK versteht Bildung als
Chiffre dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt sich nicht auf
Marktbeziehungen"
reduzieren lässt, wie es Wolfgang THIERSE unlängst formuliert hat.
Bildung meine einen umfassenden ökonomischen, soziokulturellen und politischen
Zusammenhang. Insbesondere sei sie ein wesentlicher Faktor der innergesellschaftlichen
Integration. Ein (pragmatischer) Kern von Bildung ließe sich durchaus als
Ausbildung und Qualifizierung bestimmen, wenn zugleich das, was darüber hinausreicht,
ausdrücklich mit gedacht, mit thematisiert und mit diesem pragmatischen Kern in Beziehung
gesetzt würde." (S. 38) Hier beruft sich JOSCZOK auf die - oben
dokumentierten - Ausführungen von Johannes RAU.
In der Frage, wie das geleistet werden könne, bezieht sich
JOSCZOK auf Hartmut von HENTIG und seine Maßstäbe" (Vgl. dazu die
Webseite Maßstäbe, an denen sich Bildung
bewähren muss").
3.0
Quellennachweise
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 18.07.08
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