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Aspekte zeitgenössischer Bildungstheorien

Ein Überblick

Übersicht
1.0 Wolfgang KLAFKI
       1.1 Kategoriale Bildung
       1.2 Differenzierung des Bildungsbegriffes
2.0 Hartmut von HENTIG
      2.1 Themenbereiche von Bildung
       2.2 Die drei Aufgaben der Bildung
3.0 Saul B. ROBINSOHN
       Kriterien für die Auswahl von Bildungsinhalten
4.0 Erich E. GEISZLER
       Ein integratives Verständnis von Bildung
5.0 Ernst CLOER
       Drei Aspekte von Bildung
6.0 Dietrich BENNER
       Ein „politisches" Verständnis von Bildung
7.0 Theodor WILHELM
       „Die Allgemeinbildung muss neu entdeckt werden"
8.0 Bildungskommission NRW
       Elemente eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs
9.0 Hubert MARKL
       Die Legende von den „zwei Kulturen"
10.0 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland
       Maße des Menschlichen
11.0 PISA und die Bildung
       11.1 Rudolf MESSNER- Die Aufgabe der Bildungstheorie
       11.2 Hartmut von HENTIG - Die vermessene Bildung
12.0 Literaturnachweis

Vorbemerkung

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Erziehungswissenschaftler mit der reichen geistesgeschichtlichen Tradition zum Thema Bildung auseinandergesetzt. Auf unterschiedlichste Weise haben sie versucht, den Begriff der Bildung näher zu bestimmen und mit Inhalt zu füllen. Im Folgenden werden einige bildungstheoretische Ansätze vorgestellt, die als repräsentativ gelten können und für pädagogische Arbeit bedeutsam sind.

1.0 Wolfgang KLAFKI

1.1 Kategoriale Bildung

In seiner gleichnamigen Studie (1959/1967, S. 25 - 45) ordnet KLAFKI die überkommenen Bildungstheorien vier Haupttypen zu:

  • Materiale Bildungstheorien - Ausgangspunkt: das Objekt
    - Der bildungstheoretische Objektivismus geht von den objektiven Inhalten der Kultur aus
      und führt in der einseitigen Form des Scientismus zur Verwissenschaftlichung der Schule.
    - Die Bildungstheorie des Klassischen versucht der unübersehbaren Stofffülle Herr zu werden,
       indem sie das Klassische als ein ausdrücklich pädagogisches Auswahlkriterium einführt.
  • Formale Bildungstheorien - Ausgangspunkt: das Subjekt
    - Die Theorie der funktionalen Bildung bezeichnet als Schwerpunkt der
      pädagogischen Tätigkeit die „Bildung der Kräfte des Kindes".
    - Die Theorie der methodischen Bildung sieht die Hauptaufgabe der Pädagogik darin,
      den Schüler Denkweisen, Gefühlskategorien, Wertmaßstäbe - „Methoden" - gewinnen
      und beherrschen zu lassen, mit deren Hilfe er später Lebenssituationen bewältigen
      kann.

In der Auseinandersetzung mit diesen Bildungstheorien formuliert KLAFKI (S. 39) wie folgt:

„Nur eine Bildungsauffassung, die von Anfang an jene in den besprochenen Theorien isolierten und verabsolutierten Ansätze als 'Momente' im Sinne des dialektischen Denkens begreift, ... hat ... Aussicht, das 'Wesen der Bildung' zureichend zu deuten und damit zugleich der Bildungspraxis ... zum rechten Selbstverständnis zu verhelfen."

Aus diesem gedanklichen Ansatz entwickelt KLAFKI den Begriff der „Kategorialen Bildung". Als Bildung bezeichnet er (S. 43)

„jenes Phänomen, an dem wir - im eigenen Erleben oder im Verstehen anderer Menschen - unmittelbar der Einheit eines objektiven (materialen) und eines subjektiven (formalen) Momentes innewerden."

Somit ist Bildung

„Erschlossensein
einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit
für einen Menschen,

das heißt zugleich:
Erschlossensein dieses Menschen für ... seine Wirklichkeit."

Ebenso ist Bildung als Vorgang zu sehen; sie ist

„der Inbegriff von Vorgängen, in denen sich die Inhalte einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit erschließen.
     Dieser Vorgang ist nichts anderes als das Sich-Erschließen bzw. Erschlossenwerden eines Menschen für jene Inhalte und ihren Zusammenhang als Wirklichkeit."

Dieser dialektische Prozess vollzieht sich, indem dem Menschen allgemeine, kategorial erhellende Inhalte sichtbar werden und er dadurch allgemeine Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen gewinnt.

Zusammenfassend formuliert KLAFKI (S. 44):

„Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine Wirklichkeit 'kategorial' erschlossen hat und dass eben damit er selbst - dank der selbstvollzogenen 'kategorialen' Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse - für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist."
Anmerkung:
Das Wort 'Kategorie' geht auf ein griechisches Substantiv zurück, das mit 'Grundaussage' wiedergegeben werden kann. Als Fachausdruck der Philosophie bezeichnet es gedankliche Grundformen von ontologischer oder logischer Wertigkeit.

Der dialektische Grundgedanke dieses Bildungsbegriffes lässt sich etwas schlichter wie folgt formulieren:

Die Wirklichkeit
erschließt sich dem Schüler
oder wird ihm erschlossen.

Der Schüler
erschließt sich seinerseits der Wirklichkeit.

Aus heutiger Sicht können diese Positionen abgehoben akademisch wirken. Desto interessanter ist die Tatsache, dass Armin BERNHARD (1999) unlängst KLAFKIs Gedanken zur Kategorialen Bildung ausdrücklich aufgegriffen und in den Mittelpunkt seines Bemühens gestellt hat, den Bildungsbegriff zu "reformulieren", also wiederzugewinnen. Vertiefende Informationen dazu finden Sie auf der Webseite "Neuere Grundlagenkritik an der Didaktik".

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1.2 Differenzierung des Bildungsbegriffes

In einer weiteren Studie (a. O. S. 82 ff.) interpretiert und differenziert KLAFKI Bildung als den zentralen Zielbegriff der Didaktik wie folgt (S. 94 ff.):

1. Bildung kann nicht mehr individualistisch oder subjektivistisch verstanden, sondern muss auf die Mitmenschlichkeit, die Gesellschaftlichkeit und auf die politische Existenz des Menschen bezogen gedacht werden.
2. Bildung ist eine positive Form, sich auf die Existenz in der Welt einzustellen. Sie meint im Kern eine innere Haltung und Geformtheit, ist jedoch immer und von vornherein auch auf einen Beruf bezogen.
3. Bildung kann nicht mehr an harmonistischen Zielvorstellungen orientiert werden. Sie ist vielmehr als eine Haltung zu verstehen und zu ermöglichen, die dazu hilft, Konflikte zu bewältigen oder zu ertragen.
4. Zur Bildung gehört auch und unverzichtbar die sittliche Dimension der menschlichen Existenz.
5. Bildung kann nicht mehr als eine sozialständische Kategorie verstanden werden. Der inhaltliche und organisatorische Aufbau von Bildungsarbeit soll geradezu das Beispiel einer demokratischen und mobilen Gesellschaft der Gleichberechtigten und sozial Gleichwertigen sein.
6. Bildung muss grundsätzlich auf einen „weltweiten Horizont" hin orientiert sein.
7. Bildung muss sich als dynamisch, wandlungsfähig und offen verstehen.

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2.0 Hartmut von HENTIG

2.1 Themenbereiche der Bildung

Hartmut von HENTIG (1973, S. 7) beschreibt Themenbereiche, aus denen sich Vorstellungen von Bildung und Bildungsarbeit ableiten lassen.

Sie werden deshalb KLAFKIs Überlegungen gegenübergestellt.

Das Leben

- in der sich beschleunigt verändernden Welt,
- in der arbeitsteiligen (spezialisierten) Welt,
- in der von Wissenschaft und Technik rationalisierten Welt,
- im Beruf zwischen Theorie und Praxis,
- mit der Fülle der Mittel und der Vielfalt der Ziele,
- mit der Kunst,
- in der Demokratie, in der Politik, in der Öffentlichkeit,
- in der Konsumgesellschaft,
- in der säkularisierten Welt,
- mit einigen Entlastungstechniken.,
- mit dem eigenen Körper, mit den Trieben,
- mit den anderen Generationen,
- in der einen Welt.

Da von HENTIG diese Aufstellung vor nahezu dreißig Jahren geschrieben hat, setzte er heute sicherlich noch hinzu

Das Leben mit der - gewollten oder nicht gewollten - Freizeit.

2.2 Die drei Aufgaben der Bildung

Hartmut von HENTIG hat sich kürzlich (2003) tiefschürfend und differenziert mit der Konzeption von TIMMS und PISA auseinandergesetzt (vgl. unten in Nr. 11.2). Er sieht drei Bestimmungen der »Bildung« (a.a.O., S. 224):

  • Bildung ist erstens das, was "der sich bildende Mensch" aus sich zu machen versucht, ein Vorgang mehr als ein Besitz.

  • Bildung ist zweitens das, was dem Menschen ermöglicht, in der Welt, in die er gestellt ist, zu überleben. Sie ist mithin die Gesamtheit des Wissens und der Fertigkeiten, der Einstellungen und Verhaltensweisen, die für Orientierung und Überleben erforderlich sind, und kann als praktische Bildung bezeichnet werden.

  • Bildung ist drittens das, was der Gemeinschaft erlaubt, gesittet und friedlich, in Freiheit und mit einem Anspruch auf Glück zu bestehen.
         Sie richtet den Blick des Einzelnen  auf das Gemeinwohl, auf Existenz, Kenntnis und Einhaltung von Rechten und Pflichten, auf die Verteidigung der Freiheit und die Achtung für Ordnungen und Anstand.
         Sie ist für dikaiosyne - Gerechtigkeit, verstanden als die richtige Balance in der Gesellschaft - zuständig. Sie hält zur Prüfung der Ziele, der Mittel und ihrer beider Verhältnis an.
         Sie befähigt zur Entscheidung angesichts von Macht und Ressourcen in begrenzter Zeit.
    Das ist die politische Bildung.

Alle dieser drei Bildungsaufgaben sind der Schule übertragen worden. Von HENTIG betont, dass keine dieser Aufgaben der anderen geopfert werden dürfe, es aber schwer sei, deren Erfüllung in Einklang und Balance zu halten.

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3.0 Saul B. ROBINSOHN

Kriterien für die Auswahl von Bildungsinhalten

Saul B. ROBINSOHN (1969/1973, S. 67) hat drei „Kriterien für die Auswahl von Bildungsinhalten" formuliert, die als 'Berliner Modell' bekannt geworden sind. und indirekt gleichfalls einen Beitrag zum Begriff der Bildung leisten. Er schreibt:

1. Die Bedeutung eines Gegenstandes im Gefüge der Wissenschaft, damit auch die Voraussetzung für weiteres Studium und weitere Ausbildung.
2. Die Leistung eines Gegenstandes für Weltverstehen, d.h. für die Orientierung innerhalb einer Kultur und für die Interpretation ihrer Phänomene.
3. Die Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwendungssituationen des privaten und öffentlichen Lebens.

ROBINSOHN forderte auf der Grundlage dieser Kriterien eine Revision des Gesamtcurriculums.
In diesem Rahmen war beabsichtigt,

o die künftigen Lebenssituation Heranwachsender zu identifizieren,
o daraus detaillierte Qualifikationsanforderungen abzuleiten,
   die an Schulabsolventen gerichtet werden,
o und die Inhalte zu gewinnen, die im Curriculum des Bildungssystems
   verankert werden müssen.

Wie Dietrich BENNER (2002, S. 72) darlegt, ist dieses ehrgeizige Vorhaben gescheitert.
Gleichwohl können die zitierten Kriterien zur Auswahl und didaktischen Erschließung von Gegenständen des Unterrichts beitragen.
     Weiterhin durchaus aktuell ist jedoch ROBINSOHNs knappe These (1969/1973, S. 13):

"Bildung als Vorgang [...] ist die Ausstattung zum Verhalten in der Welt."

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4.0 Erich E. GEISZLER

Ein integratives Verständnis von Bildung

Im Laufe der Zeit sind die unterschiedlichsten Versuche unternommen worden, den Begriff der Bildung näher zu bestimmen und mit Inhalt zu füllen. Betrachtet man die verschiedenen Theorien von Bildung näher, so erweisen sie sich als jeweils besonders herausgehobene Aspekte einer zusammengehörenden Bildungstheorie. Sie sind keine einander ausschließenden Definitionen, obwohl sie sich in ihrer geschichtlichen Entfaltung zumeist scharf und ausdrücklich gegeneinander abgesetzt haben.
     Ein integratives Verständnis von Bildung sollte also diese Aspekte mehr in ihrer Zusammengehörigkeit als in ihrer Gegnerschaft zeigen und sie unbeschadet ihrer Unterschiedlichkeit in ihrem strukturellen Zusammenhang darstellen.
     Die folgenden Aspekte einer in dieser Form verstandenen Theorie von Bildung lassen sich im Anschluss an Erich E. GEISZLER (1981) herausarbeiten und benennen:

  • Erster Aspekt
    einer auf Grundfragen menschlichen Lebens ausgerichteten zweckfreien Bildung, der traditionellen Allgemeinbildung.
         Teilhabe an der Kultur ist - so schreibt Manfred FUHRMANN, 2000 S. 28 f. - in unserer Zeit keine Sache unreflektierter Tradition. Sie bedarf vielmehr des Lernens, der Kenntnisse, der Reflexion - mithin der Bildung.
         Alfred K. TREML (1994, S. 536) bezeichnet es als einen weitverbreiteten Irrtum, Erziehung müßte vor allem Wissen vermitteln. "Viel wichtiger, und zunehmend wichtiger wird es jedoch, mit der Unwissenheit umgehen zu können."

  • Zweiter Aspekt
    einer formalen Bildung in ihren drei Bereichen:
    o Verfahren systematischer Arbeit zu beherrschen,
    o Fähigkeit zur Bewältigung von Problemen zu besitzen,
    o über exemplarische, d.h. zentral wichtige Informiertheit zu verfügen.

  • Dritter Aspekt
    der auf Verwendungsbezüge und Weltorientiertheit ausgerichteten pragmatischen Bildung.
    Auf dessen Dignität hat kürzlich Rudolf MESSNER (2003, S. 403 f.) hingewiesen. Für den Pragmatismus gelte als Wahrheitskriterium der Bildung die Bewährung im tätigen Leben. Die damit verbundene aktuelle Problematik wird unten unter Nr. 11.1 erörtert.

  • Vierter Aspekt
    einer sozial orientierten Bildung, die immer in der Spannung von Tradition und Kritik, Bewahrung und Weiterführung steht.

  • Fünfter Aspekt
    einer auf Selbstbeherrschung und ethische Entscheidungsfähigkeit zielenden Bildung.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat  im Januar 2003 seine Denkschrift „Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft" veröffentlicht. Dort werden Positionen vertreten, die ähnlichen Grundgedanken folgen und sie noch weiter entfalten. Sie finden sie unten unter Nr. 10.

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5.0 Ernst CLOER

Drei Aspekte von Bildung

Ernst CLOER (1987 S. 309) hat im Anschluss an Heinz-Joachim HEYDORN die folgenden Überlegungen zur Bildung formulierte:

  • Erster Aspekt
    Bildung ist, wenn man so will, die Voraussetzung
    für das bare Überleben:
    damit das Individuum im Konkurrieren in der Gesellschaft nicht untergehe;
    andererseits für menschliches Überleben:
    damit das Individuum sich angesichts der allgemeinen Orientierungskrise selbst entdecke,
    sich seiner schöpferischen Kräfte bewusst werde, seine Identität finde.

  • Zweiter Aspekt
    Bildung des Bewusstseins und die dabei zu leistende Anstrengung verweisen aber nicht nur auf die Bedürfnisse des Individuums. Sie sind auch „unerlässliche Voraussetzung für veränderliches Wirken" in der Gesellschaft, sind Voraussetzung für den „Fortschritt der Humanität".

  • Dritter Aspekt
    Bildung als Voraussetzung für Überleben ist inhaltlich an die „Aneignung der kulturellen Hinterlassenschaft" gebunden. Diese Aneignung erfordert Anstrengung, Ertragen von Enttäuschung, Sublimierung und innere Disziplin.

Ergebnis

Ohne Bildung,
die ihrerseits Anstrengung und innere Disziplin erfordert,
ist Mündigkeit nicht zu erreichen.

Eine ähnliche Beschreibung der Aufgaben von Bildung hat kürzlich Hartmut von HENTIG vorgetragen. Sie wird in Nr. 2.2 referiert.

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6.0 Dietrich BENNER

Ein „politisches" Verständnis von Bildung

Dietrich BENNER hat in seiner Studie „Bildung und Demokratie" kürzlich die zwischen Politik und Schule bestehenden Beziehungen untersucht. In diesem Rahmen formuliert er folgenden Aufgaben und Leistungen von Bildung:

„Zur Erziehung des modernen Menschen gehört inzwischen eine auf
alle Grundformen menschlichen Handelns ausgerichtete Bildung,
welche

  • nicht nur Ökonomie und Politik,
  • sondern auch Sitte, Pädagogik,
  • Kunst und Religion umfasst.

Der moderne Mensch muss lernen,

  • seine Subsistenz in einem immer noch expandierenden System der Bedürfnisse
    durch Tätigkeiten im Beschäftigungssystem zu sichern,
  • seine Lebensformen und Bezugspersonen selbst zu wählen,
  • an der politischen Praxis nicht nur durch Delegation des eigenen Willens auf andere, sondern mitdiskutierend, mitberatend und mitentscheidend zu partizipieren,
  • in von den anderen Praxisformen freigestellten Räumen der Kunst
    Welt ästhetisch zu erfahren
  • und die eigene Endlichkeit und Abhängigkeit vom Absoluten
    in religiösen Praxisformen zu reflektieren."

Bundespräsident Johannes RAU hat letzthin sein Verständnis von Bildung auf folgende Formel gebracht:

Die drei bleibenden Ziele von Bildung sind:

  • die Entwicklung der Persönlichkeit,
  • die Teilhabe an der Gesellschaft
  • die Vorbereitung auf den Beruf.

Sie stehen nicht unverbunden nebeneinander.

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7.0 Theodor WILHELM

Die Allgemeinbildung muss neu entdeckt werden

Theodor WILHELM zitiert ((1984 S. 60) Heinrich ROTH. 1980 hatte ROTH auf dem Bildungskongress der GEW die - seinerzeit gegebene - bildungspolitische Situation kritisch bewertet und am Schluss seiner Ausführungen ebenso mutig wie zuversichtlich eine provozierende Forderung formuliert:

„Was Allgemeinbildung heißen kann, muss und wird neu entdeckt werden."

WILHELM greift diese Forderung auf und skizziert (a.O. S. 61) die folgenden Überlegungen.

„Allgemeinbildung setzt voraus,

  • dass man nicht alles zu wissen braucht, aber ein weiter Gesichtskreis zur Verfügung steht;
  • dass dieser Gesichtskreis auch die Zukunft umfasst und dass man sich für diese Zukunft verantwortlich weiß;
  • dass hochrangige berufliche Spezialisierung die Empfänglichkeit für anderes nicht verschließt;
  • dass das Bedürfnis, alles immer noch einmal zu überdenken, nicht erloschen ist, und dass man sich dazu die nötige Zeit nimmt;
  • dass man in der Lage ist, das Einzelne in den Zusammenhang des Ganzen zu stellen;
  • dass man über dem Sehen und Hören das Fragen nicht vergisst;
  • dass man sich nicht geniert, Nichtwissen zuzugeben;
  • dass man sich nicht zu gut ist, immer wieder zu den elementaren Fragen zurückzukehren;
  • dass man tolerant ist gegenüber der Meinung anderer, daher auch neugierig, sie zu erfahren;
  • und dass man sich weder durch intellektuelle Spiegelgefechte noch durch Vielwisserei (oder alles besser zu wissen) imponieren lässt."

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8.0 Bildungskommission NRW

Elemente eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs

In ihrer Denkschrift „Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" hat die Bildungskommission
beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen „Elemente eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs" formuliert. Die Denkschrift führt aus (S. 30):

„Bildung ist [...] tragendes Element der Kultur, die alle Lebens- und Arbeitsformen einer Gesellschaft umfasst. Durch Bildung wird Kultur angeeignet und {wird} selbst zu einem zu einem dynamischen, orientierenden Element der Gesellschaft.
[...]
Bildung soll im im Folgenden als individueller, aber auf die Gesellschaft bezogener Lern- und Entwicklungsprozess verstanden werden, in dessen Verlauf die Befähigung erworben wird,

  • den Anspruch auf Selbstbestimmung und die Entwicklung eigener Lebens-Sinnbeziehungen zu verwirklichen,
  • diesen Anspruch auch für alle Mitmenschen anzuerkennen,
  • Mitverantwortung für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse zu übernehmen und
  • die eigenen Ansprüche, die Ansprüche der Mitmenschen und die Anforderungen der Gesellschaft in eine vertretbare, den eigenen Möglichkeiten entsprechende Relation zu bringen."

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9.0 Hubert MARKL

Die Legende von den „zwei Kulturen"

„Gebildet ist,
wer zugleich tugendhaft und lebenstüchtig ist -
auch wenn er dies
nicht in literarischem Stil auszudrücken vermag."

Als „Schnee von gestern" bezeichnet Hubert MARKL eine ebenso altes wie beliebtes Argumentationsschema - den Gegensatz von geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Bildung. MARKL, von 1986 bis 1991 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 19996 bis Juni 2002 Direktor der Max-Planck-Gesellschaft, widerspricht der auf Charles Percy SNOW zurückgehenden These in einem Essay, den der SPIEGEL (Nr. 32 vom 5. August 2002) soeben veröffentlicht hat.
     Er entwickelt dazu folgende Thesen:

  • Der oft behauptete Gegensatz zwischen humanistischer bzw. geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Bildung mag eine amüsante Karikatur geistiger Vielfalt sein. Er eignet sich jedoch nicht zum erhellenden Ordnungsprinzip.
  • Der Gegensatz besteht vielmehr zwischen rational aufgeklärten und nicht von Aufklärung geprägten Bildungskulturen - zugespitzt formuliert, zwischen Bildung und Verbildung.
  • Bildung wird oft als „sorgfältig eingeübter Rückgriff auf einen kanonischen Vorrat an Geistesgütern" missverstanden. Doch besteht sie nicht in „semiotischen Bekleidungsvorschriften, die aus Menschen erst Leute (von Stand) machen".
  • In einer demokratischen Massengesellschaft sollte Bildung als der durch Erziehung gestützte Entwicklungsprozess verstanden werden, der junge Menschen zu urteilsfähigen und selbstverantwortlichen Menschen macht - zu Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft, die zugleich zur Verantwortung für ihre Mitmenschen und für die gemeinsamen Lebensbedingungen fähig und bereit sind.
         Altfränkisch formuliert:
         Gebildet ist, wer zugleich tugendhaft und lebenstüchtig ist -
         auch wenn er dies nicht in literarischem Stil auszudrücken vermag.

    Lebenstüchtigkeit allein genügt nicht, denn viel zu viele Lumpen erweisen sich als nur allzu tüchtig. Und Tugend ohne Tüchtigkeit lässt die Lumpen so erfolgreich sein.
  • Alle geistes- und naturwissenschaftlichen Beiträge zur Heranbildung ertüchtigender Leistungsfähigkeit - mögen sie noch so konträr scheinen - wurzeln sämtlich in einer gemeinsamen Grundlage -
         der Fähigkeit zu klarem, kritischem Denken und begründetem Argumentieren.
  • Ein sinnvoller Bildungsbegriff darf nicht in einem nach inhaltlicher Vollständigkeit strebenden Wissenskanon bestehen, sondern muss ganzheitlich verstanden werden. Dann bleibt er offen für verschiedene Verständnis- und Erfahrungsformen, für die Bahnung sehr verschiedener Zugangswege zum Leben, die jeder Einzelne in freier Entscheidung wählen und weiter erkunden mag, wie es ihm Begabung, Neigung und Anregung nahelegen. Das Schema von den beiden Kulturen verstellte dabei den Zugang zu einer Vielfalt, die untrennbar mit unserem Menschsein verbunden ist und nur gemeinsam verstanden werden kann.

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10.0 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland

„Maße des Menschlichen"

Unter diesem Titel hat die EKD im Januar 2003 ihre Denkschrift „Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft" veröffentlicht. Eine Übersicht der zentralen Positionen finden Sie auf der Webseite „Bildung - Klärungsversuche im politischen Raum".
     An dieser Stelle wird lediglich der a.a.O. S. 14 verwendete Begriff einer „mehrdimensionalen Bildung" vorgestellt.

  • Lernen, das wirksam »bildet«, ist erstens intensiver in seiner den Lernenden geistig einbeziehenden inneren Reichweite. Es umfasst Fleiß und Neugier, sorgfältige Aufgabenerledigung und selbständige, eigensinnige Suche, Kenntnisse und Verständnis, Wissen und Reaktionsfähigkeit, Problemwahrnehmung und Problemlösekompetenz, disziplinierte Anstrengung und kreative Muße.
  • »Bildendes« Lernen muss zweitens auf Basiswissen in Kernbereichen ausgerichtet sein und »Grundbildung« sichern [...]
  • Ein klassisches Beispiel von Bildung ist drittens mehrdimensionales geistesgegenwärtiges Problembewusstsein einschließlich Handlungsfähigkeit.

Die Bildungsdimensionen dieses dritten Punktes werden (a.a.O. S. 15) wie folgt entfalten:

  • Ethische Dimension:
    Wertbewusstsein, Einstellungen und Haltungen,
    moralisches Verhalten und Handeln,
    Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit,
  • soziale Dimension:
    Umgang mit Aggression, Abbau von Gewalt,
    Kompromiss- und Friedensfähigkeit,
  • religiöse Dimension:
    Offenheit für Transzendenz und die Frage nach Gott,
    einschließlich interreligiösen Lernens als »Dialogfähigkeit«,
  • interkulturelle Dimension:
    Bereitschaft zum Zusammenleben mit Fremden
  • ästhetische Dimension:
    Sinn für »übernützliche« kulturelle (ästhetische) Zeugnisse und Gestaltungsfähigkeit
  • medienkritische Dimension:
    Kenntnisse der problematischen Veränderungen der Wirklichkeitswahrnehmung
    aufgrund virtueller medialer Einflüsse und besonnener Umgang mit ihnen;
  • ökologische Dimension:
    Sensibilität angesichts ökologischer Gefahren
    und Bereitschaft zu Verhaltenskonsequenzen,
  • geschichtliche Dimension:
    Erinnerung und Gedenken, Wissen um Schuld und Scheitern,
  • Dimension der Zukunft:
    Offenheit für Unerwartetes,
  • Dimension der Lebensphasen:
    Fähigkeit, allen Bildungsbereichen die der Lebensphase
    jeweils angemessene Zeit einzuräumen.

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11.0 PISA und die Bildung

11.1 Rudolf MESSNER - Die Aufgabe der Bildungstheorie -

Die PISA-Studie hat das Bildungsproblem in das Zentrum der gesellschaftlichen  Aufmerksamkeit gerückt. So setzt sich Rudolf MESSNER (2003, S. 400 - 410) mit den Konsequenzen auseinander, die die PISA-Debatte für die Erörterung des Themas »Bildung« hat. Er vermutet, dass der Begriff »Bildung« in der öffentlichen Diskussion vielfach nur als "Signalwort" diene. Er werde unspezifisch, ja geradezu beliebig dafür gebraucht, unterschiedliche, jeweils opportun erscheinende Veränderungswünsche an Schule und Unterricht zu richten.

MESSNER untersucht die Konzeption des PISA-Programms und stellt insbesondere den pragmatischen Charakter des Bildungsbegriffes heraus, der darin deutlich werde. Das Konzept der Basiskompetenzen sei ohne Zweifel grundlegend wichtig. Bei dessen unkritischer Um- und Durchsetzung könne es jedoch zu einer dramatischen, ja geradezu "kulturrevolutionären" Neuakzentuierung schulischer Bildung kommen. Die Betonung der sachstrukturell-kognitiven Intelligenz berge die Gefahr, wesentliche Dimensionen der Allgemeinbildung, wie sie insbesondere von Hartmut von HENTIG (1993, 1996) vorgestellt worden  sind, auszublenden.

PISA hat wichtige Anstöße gegeben. Wegen der Grenzen des Untersuchungsansatzes dürften freilich dessen Ergebnisse nicht als Gesamturteil über die Leistung der Schule missverstanden werden - wie es vielfach zu beobachten ist. PISA könne vielmehr einen Dialog zwischen den verschiedenen Sichtweisen auslösen.

In einem solchen Dialog komme der Bildungstheorie die Aufgabe zu,
den Sinnzusammenhang pädagogischer und schulischer Praxis zu entwerfen
.

MESSNER plädiert dafür, die Tradition von Aufklärung und Neuhumanismus aufzugreifen (a.a.O. S. 410). Das Konzept von Bildung in seinem aufklärerisch-humanistischen Kern habe sich - wenn auch in philosophisch-aufklärerischer Brechung - als unersetzlich erwiesen.

11.2 Hartmut von HENTIG - Die vermessene Bildung

Hartmut von HENTIG hat sich im Vorwort der Taschenbuchausgabe seines Buches "Die Schule neu Denken", Weinheim 2003 (Abdruck: Neue Sammlung 43, 2003, H. 2, S. 211 - 233) mit den Ansätzen von TIMMS und PISA auseinandergesetzt. Er betont, ähnlich wie MESSNER, die Gefahr, dass die Schwerpunktsetzungen von PISA eine verhängnisvolle Reduktion wichtiger Aufgaben der Schule nahelegen könnten. Eine zentrale Passage sei zitiert (N.S. 2003, S. 222):

"Der Mangel von PISA liegt [...] bei der Verengung des Blicks auf ein kleines, gut zu bezeichnendes, öffentlich hoch bewertetes Spektrum von drei Kompetenzen. Es vermisst einen winzigen Ausschnitt der Absichten der Schule, ihrer Tätigkeiten und Wirkungen [...] und erzeugt so ungewollt den Eindruck, als stünde jeweils die Schule insgesamt auf dem Prüfstand."

Von HENTIG stellt dem stellt dem eine Definition von Bildung gegenüber, die seine vielfachen Äußerungen zu diesem Thema in klarer Kontur zusammenfasst. Aus systematischen Gründen wird sie in Nr. 2.2 dieser Webseite referiert.

12.0 Literaturnachweis

Um die einzelnen Bausteine zu entlasten, werden auch in diesem thematischen Bereich die Literaturnachweise in einem gesonderten Baustein „Literaturgrundlage" zusammengefasst.
Wenn Sie also Zitate nachlesen wollen oder weiterführende Titel suchen, klicken Sie bitte auf „Literaturgrundlage".


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 22.05.15
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