Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]

Was ist Bildung?

I. Stimmen aus dem Off

Die erste Stimme

Antike

Der griechische Redner und Redelehrer ISOKRATES schreibt:

„Was für Menschen sind es nun, die ich - wenn ich von Berufskenntnissen, Fachwissen, Fähigkeiten absehe - gebildet nenne?

  • Zunächst einmal diejenigen, welche auf die rechte Art mit den täglich auf sie eindringenden Schwierigkeiten fertig werden und über eine zutreffende Einschätzung der Situation verfügen, die sie dazu befähigt, in der Regel das Richtige zu erkennen.

  • Sodann diejenigen, die taktvoll und gerecht die mit ihnen verkehrenden Menschen behandeln, dabei gelassen und mühelos das unerfreuliche und lästige Wesen anderer ertragen, sich selbst aber ihrer Umgebung möglichst umgänglich und bescheiden zeigen.

  • Und weiter diejenigen, die ihre Begierden stets beherrschen, Unglücksfällen aber nicht zu sehr erliegen, sondern sich tatkräftig mit ihnen abfinden und der Veranlagung würdig, die wir Menschen nun einmal haben.

  • Schließlich - und das ist die Hauptsache - diejenigen, die sich nicht von ihren Erfolgen korrumpieren lassen noch die Besonnenheit verlieren noch sich vom Hochmut hinreißen lassen, sondern fest in der Front der Vernünftigen stehen und sich über die ihnen durch Zufall zuteil gewordenen Güter nicht mehr freuen als über solche, die sie ursprünglich ihrer Naturanlage und ihrer eigenen Einsicht verdanken.

  • Diejenigen aber, die nicht nur in einer, sondern in allen genannten Eigenschaften eine ausgeglichene seelische Verfassung besitzen, die sind - so meine ich - weise, vollkommen und mit allen Vorzügen ausgestattet. Sie sind gebildet."

Anmerkungen zum Verständnis dieses Textes

Fragen der Erziehung und der Bildung gehören zu den großen Themen der griechischen Literatur und Philosophie. Der vorstehende Text stammt von ISOKRATES und findet sich in dessen letzter großen Rede, dem sog. „Panathenaikos", 30 - 32.
     ISOKRATES lebte von 436 bis 338 v.Chr. in Athen. Er war der erfolgreichste Redner und der bedeutendste Redelehrer seiner Zeit. Den „Panathenaikos" schrieb er im Alter von 93 Jahren.

*

Die zweite Stimme

Beginn der Neuzeit

Martin LUTHER sagt, drei Dinge müsse ein Mensch wissen, um selig zu werden.

Vorab eine Worterklärung:
Das Wort „selig" bedeutet in LUTHERs Sprache etwas anderes als in unserer zeitgenössischen Ausdrucksweise. Das mittelhochdeutsche Ausgangswort ist mit dem gotischen Adjektiv „sels", „tauglich", verwandt. Gemeint ist also ein Mensch, der den ihm im Leben gestellten Aufgaben gewachsen ist und darum als glücklich gelten kann.

Hier die drei Elemente des „Grundlagen-Wissens":

  • „Zum ersten: daß er wisse, was er tun und lassen soll.
  • Zum andern: wenn er nun siehet, daß er es aus seinen Kräften nicht tun noch lassen kann, dann soll er wissen, wo ers hernehmen, suchen und finden soll, damit er das tun und lassen könne.
  • Zum dritten: daß er wisse, wie ers suchen und holen soll."

Diese knappen Sätze können als Kurzdefinition der Bildung gelten. Sie beschreiben zugleich die Aufgabe, die wir Lehrer zu erfüllen haben.

Quellennachweis:

  • Martin LUTHER
    Eine kurze Form der Zehn Gebote,
    eine kurze Form des Glaubens,
    eine kurze Form des Vaterunsers. 1520.
    In:
    LUTHERs Werke,
    Weimarer Ausgabe Band 7, S. 204, Z. 13 -21

*

Die dritte Stimme

Moderne I

Wolfgang SCHULZ hat in seinem Aufsatz „Die lerntheoretische Didaktik", Westermanns Pädagogische Beiträge 32 (1980), S. 85 eine Definition von Erziehung und Bildung gegeben, die - sinngemäß bearbeitet - wie folgt lautet:

Als Erziehung

bezeichne ich alle gegenseitigen Beziehungen und Handlungen,
mit denen Menschen, Mitglieder einer Gesellschaft,
das entwicklungsbedingte Informations-, Verhaltens- und Wertungsgefälle
untereinander dauerhaft verringern wollen.

Dabei geht es nicht vor allem darum,
unmittelbar Aufgaben in Natur und Gesellschaft zu lösen.
Vielmehr sollen die jüngeren,
in ihren Einstellungen und Handlungen noch nicht sicheren Menschen
dazu fähig werden, über sich selbst zu verfügen.

Sie setzen sich dabei mit den ökonomischen und kulturellen Ordnungen auseinander.
Diese urteilsfähig aufzunehmen und sie mitzubestimmen
soll gleichermaßen gelehrt und gelernt werden.

Das Ziel dieses Prozesses kann Bildung genannt werden.

*

Die vierte Stimme

Moderne II

Der italienische Schriftsteller Cesare PAVESE (1908 - 1950) hat die anrührendste Definition von »Bildung« formuliert (zitiert nach Peter von BECKER, Der Tagesspiegel vom 7. August 2005, S. 25): 

"Mit dem Bedürfnis, 
die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben - 
übrigens der einzige Weg, 
sich selbst zu verstehen und zu lieben -, 
damit beginnt Bildung."

Dieses Verständnis von Bildung beschreibt zugleich die uns Lehrern gestellte erzieherische Aufgabe.

*

II. Stimme aus dem Publikum

„Keine Allgemeinbildung. Nirgends":

Mit diesem ironisch entstellten Christa-Wolf-Zitat begann Ulrich BRÖMMLING seine Rede, die von der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel" im Rahmen des Campus-Rhetorik-Wettbewerbes als beste ausgezeichnet und am 24. Oktober 2001 vorgestellt wurde. Weder die Zusammensetzung der Jury noch deren Kriterien waren dem Bericht hinreichend genau zu entnehmen, doch ist zu vermuten, dass eher Darbietung und Wirkung als gedankliche Tiefe bewertet wurden. Der Preisträger ist lt. „Tagesspiegel" Pressesprecher des Bundesverbandes der Deutschen Stiftungen.

Für uns Lehrer kann es zu erfahren interessant sein, wie unsere Bemühungen um Bildung von den Adressaten unserer Tätigkeit wahrgenommen werden. Deshalb seien im Folgenden einige markante Formulierungen dieser Rede zitiert.

BRÖMMLING setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, ob es einen Kanon der Allgemeinbildung gebe, und fragt:

„Wer bestimmt? Schwanitz?
     Wer entscheidet eigentlich, dass man „Nora" als Beispiel eines Dramas von Ibsen kennen muss und nicht „Hedda Gabler" oder „Gespenster"?
     Lassen Sie uns erst einmal überlegen, ob wir überhaupt einen verbindlichen Kanon haben, bevor wir daran gehen, ihn zu erneuern."

Sodann erweitert er die Fragestellung:

„Und lassen Sie uns besser noch den ersten Schritt tun und fragen: Brauchen wir eine Allgemeinbildung? Allgemeinbildung braucht kein Mensch.
     Was überhaupt ist Allgemeinbildung und wofür ist sie gut?
Den Allgemeinbildungskanon kann kein Mensch komponieren. Da trifft es sich gut, dass ihn auch kein Mensch braucht. Denn Brauchen steht mit Nutzen in Zusammenhang."

Anschließend meint BRÖMMLING, drei große Missverständnisse dürften zu beheben sein.

  • Der erste Irrtum:
    Allgemeinbildung hilft im täglichen Leben.
    Nicht Allgemeinbildung hilft, sondern Erfahrung, Gebrauchsanweisungen und Geist.

  • Der zweite Irrtum:
    Durch Allgemeinbildung gewinnen wir Erkenntnis.
    Nicht Allgemeinbildung hilft, sondern eigenes Denken und eigener Geist.

  • Der dritte Irrtum:
    Allgemeinbildung macht das Leben mit den Mitmenschen möglich.
    Nicht Allgemeinbildung, sondern Instinkt, Großmut und Geist."

BRÖMMLING schließt seine Überlegungen wie folgt.

„Nichts gegen Bildung, die jeder für sich selbst entdeckt. Bildung kann glücklich machen. Allgemeinbildung als abgespeckte Ausgabe für alle - als Kanon - jedoch nicht.
     Allgemeinbildung brauchen wir wirklich nicht. Was wir benötigen, ist Geist.
Und Herz. Nicht mehr. Nicht weniger.
     Dann könnten wir auch mal wieder eine normale Überschrift in der Zeitung lesen:"

„Goethe, Schiller: Alle tot!"

Quelle:
Der Tagesspiegel vom 24. Oktober 2001


Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
-