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»Gedächtnis« Übersicht 1.0 »Gedächtnis« ist vielschichtig Das Wort »Gedächtnis« wird im täglichen Sprachgebrauch stets auf ein Individuum, den einzelnen Menschen, bezogen. Jeder Mensch lebt jedoch in und mit einer Familie, in und mit einer Gruppe. Er ist auch in das Volk eingebunden, dem er angehört. Und er existiert in und aus der Kultur dieses Volkes. »Gedächtnis« ist also eine vielschichtige Kategorie. Deshalb unterscheidet Aleida ASSMANN (2001, S. 34 - 45) vier Formen – man könnte auch sagen: Aspekte – von Gedächtnis:
Auch Lernen ist nicht lediglich ein individuelles Geschehen, sondern ereignet sich in einem sozialen und kulturellen Horizont. Diese Tatsache ist in das Nachdenken über Lernen und Gedächtnis einzubeziehen. Aus diesem Grunde werden ASSMANNs Grundgedanken hier vorgestellt. 2.0 Vier Formen von »Gedächtnis« 2.1 Individuelles Gedächtnis Erst die Erinnerungsfähigkeit macht Menschen zu Menschen, mögen unsere Erinnerungen auch trügerischer und flüchtiger sein, als wir wahrhaben wollen. Aus den eigenen biografischen Erinnerungen ist das Bild der eigenen Identität gemacht. Nur ein kleiner Teil unserer Erinnerungen ist uns – sprachlich aufbereitet – als Kern unserer Lebensgeschichte präsent. Der größere Teil kann uns nur durch einen äußeren Anlaß in das Bewusstsein gerufen und sprachlich verfügbar gemacht werden. Außerdem gibt es so schmerzliche und so beschämende Erinnerungen, dass sie unzugänglich sind, weil Trauma und Verdrängung sie unter Verschluss halten. Für individuelle Erinnerungen sieht ASSMANN vier verallgemeinernde Merkmale:
Das individuelle Gedächtnis ist das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung. Zugleich ist es ein kommunikatives Gedächtnis, weil es im Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion und geteilter Erfahrung entsteht. Persönliche Erinnerungen existieren nicht nur in einem besonderen sozialen Milieu, sondern auch in einem spezifischen Zeithorizont. Er umfaßt 80 bis 100 Jahre – den Zeitraum, in dem drei bis maximal fünf Generationen gleichzeitig existieren und durch persönlichen Austausch eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft bilden. Der lebendige Erinnerungsbezug löst sich jedoch auch dann in der Abfolge der Generationen auf, wenn Erinnerungsgegenstände in Gestalt von Andenken vorhanden sind. 2.2 Soziales Gedächtnis Individuen sind mit ihren Erinnerungen in das größere Gedächtnis ihrer Gemeinde, ihrer Stadt, ihrer Generation eingespannt. Mit jedem Generationenwechsel verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft. Jeder Mensch wird in seiner Altersstufe von bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt. Er teilt mit seinen Altersgenossen gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster. Das gemeinsame Generationengedächtnis trägt wesentlich zur Ausformung des persönlichen Gedächtnisses bei. Mithin wird das individuelle Gedächtnis nicht nur in seiner zeitlichen Erstreckung, sondern auch in den Formen seiner Erfahrungsverarbeitung durch den Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt. Die Kommunikation zwischen den Generationen stößt an eine Grenze, die aus der Zeitgebundenheit des Erlebens entsteht. 2.3 Kollektives Gedächtnis Institutionen und Körperschaften „haben“ kein »Gedächtnis« nach Art des individuellen Gedächtnisses – denn es gibt hier keine biologische Grundlage eines Erinnerns –, sondern sie „schaffen“ sich eines. Dazu dienen Zeichen und Symbole wie Texte, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Monumente. Individuen werden auf bestimmte Gedächtnisinhalte eingeschworen und dadurch zu Trägern des kollektiven Gedächtnisses gemacht. Mit diesem „Gedächtnis“ schaffen sich Institutionen und Körperschaften zugleich eine Identität. Solch ein Gedächtnis enthält keine spontanen Momente, sondern ist intentional verfasst und symbolisch konstruiert – gleichsam ein „Gedächtnis des Willens“. Der Inbegriff eines kollektiven Gedächtnisses ist das nationale Gedächtnis. Das Deutsche Historische Museum hat dieses Phänomen 1998 mit ihrer Ausstellung »Mythen der Nationen – ein europäisches Panorama« umfassend aufgearbeitet und eindrucksvoll vorgestellt. Hier wird auch deutlich, dass das kollektive Gedächtnis – anders als das individuelle Gedächtnis – weniger der gegenseitigen Verständigung dient, sondern eher zur polemischen Gegenkonstruktion neigt. Das Deutsche Historische Museum hat in einer weiteren Ausstellung »Mythen der Nationen 1945 – Arena der Erinnerungen« insbesondere dieses Phänomen ins Bild gesetzt. Mythen und Legenden transportieren eine klare Aussage. Diese beruht auf symbolischen Zeichen, die die Erinnerung fixieren, verallgemeinern, vereinheitlichen und vor allem über die Generationen hinweg überliefern. Monumente und Denkmäler, Jahrestage und Riten befestigen die Erinnerung und verpflichten spätere Generationen darauf, in sie hineinzuwachsen. Das Jahr 2005 bietet für diesen Sachverhalt mit der 60. Wiederkehr zentraler Daten des Kriegsendes 1945 umfangreiches und zugleich komplexes Anschauungsmaterial, wie vor allem die öffentliche Diskussion zum 8. Mai und dessen Würdigung zeigt. Neben dem dargestellten Unterschied zum individuellen Gedächtnis gibt es jedoch auch eine Gemeinsamkeit. Beide Gedächtnisformationen sind perspektivisch organisiert und beruhen auf einer strikten Auswahl. Nicht nur Erinnerung, auch Vergessen ist ein konstitutiver Teil ebenso des kollektiven wie des individuellen Gedächtnisses. Erlittenes Leid prägt sich tief in das Gedächtnis ein, Schuld und Scham werden durch Vergessen – wenn auch nur scheinbar – bewältigt. So stärken Siege das positive Selbstbild einer Nation; was nicht in dieses heroische Bild paßt, fällt dem Vergessen anheim. Auch Niederlagen können zu zentralen Bezugspunkten einer nationalen Identität werden, wenn sie die Erinnerung an erlittenes Unrecht wachhalten oder unbeirrbaren Selbstbehauptungswillen mobilisieren.
Uns Deutschen ist es unendlich schwer geworden, die Schuld einzugestehen und uns ihr zu stellen, die durch die Ausrottung der Juden auf unserem Land liegt. Das wurde beispielhaft in der Debatte über ein „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ deutlich. Bau und Vollendung dieses Denkmals können als Sinnbild dafür gelten, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Beschweigen und Vergessen nicht ungeschehen machen oder auch bloß leugnen lassen, sondern durch gemeinsames Erinnern aufgearbeitet werden müssen. So hat Bundespräsident Horst KÖHLER am 2. Februar 2005 in seiner Rede vor der Knesset gesagt: „Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität.“ Er hat diesen Gedanken wie folgt vertieft:
In seiner Ansprache zum 8. Mai 2005 hat Bundespräsident KÖHLER diesen Gedanken wieder aufgegriffen und vertieft.
2.4 Kulturelles Gedächtnis Aleida ASSMANN beschreibt (a.a.O., S. 43) in einer pointierten Definition Kulturen als „Versicherungssysteme gegen das allgemeine und unaufhaltsame Vergessen“. Deshalb setzt sie oberhalb des kollektiven Gedächtnisses eine weitere Ebene an – das kulturelle Gedächtnis. Ebenso wie jenes hat dieses die Funktion, Erfahrungen und Wissen über die Generationsschwellen hinweg zu transportieren und ein soziales Langzeitgedächtnis auszubilden. Während jedoch das soziale Gedächtnis – durch Affekte gesteuert – die Inhalte des Erinnerns strikt auswählt, hat das kulturelle Gedächtnis die Funktion, Wissen, Erinnerungen und Erfahrungen einer Gesellschaft umfassend und systematisch zu bewahren und zu pflegen, zu deuten und zu vermitteln. Dieser Aufgabe dienen Institutionen wie Bibliotheken, Archive, Museen mit einer Fülle von externen Datenträgern aller Art. Dabei werden die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses gleichsam ausgelagert. Sie neigen deshalb dazu, sich vom lebendigen Bewusstsein zu entfernen. Ein kulturelles Gedächtnis entsteht erst dann, wenn sie von den Menschen wahrgenommen, für wertvoll gehalten und geistiger Besitz werden – vermittelt durch Medien, kulturelle Einrichtungen, Bildungsinstitutionen. Zu unterscheiden sind hier außerdem zwei Aspekte: ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis ist – als ein passives Gedächtnis – das kulturelle Archiv. Es bewahrt auch die Inhalte, die nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein präsent sind. Das Funktionsgedächtnis enthält die Inhalte, die gegen Vergessen und Fremdwerden besonders geschützt sind. Sie haben durch Auswahl und Kanonisierung einen sicheren Platz im aktiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft erhalten. Das manifestiert sich in den Lehrplänen der Bildungseinrichtungen, den Spielplänen der Theater und Opern, in Museen, Konzerten, Verlagsprogrammen. Die Problematik der Kanonbildung wird auf der Webseite "Muss es einen Bildungskanon geben? - Begriff - Positionen - Argumente" erörtert. Die Grenze zwischen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis ist durchlässig und wird immer wieder in beiden Richtungen überschritten. Inhalte des Funktionsgedächtnisses sinken in das Archiv ab, und aus dem Archiv steigen Inhalte in das Funktionsgedächtnis auf. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Matthäus-Passion von Johann Sebastian BACH. Ihre Wiederaufführung durch Felix MENDELSSOHN-BARTHOLDY im Jahre 1829 hat eine Bach-Renaissance ausgelöst, so dass BACHs Werke bis auf den heutigen Tag fest im kulturellen Funktionsgedächtnis verankert sind. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Erinnertem und Vergessenem, Bewußtem und Unbewußtem, Manifestem und Latentem. Das macht das kulturelle Gedächtnis komplex und wandlungsfähig, aber auch gefährdet und umstritten. 3.0 Literaturnachweis 3.1 Textgrundlage
3.2 Weiterführende Literatur
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zur Übersicht ] Ausgearbeitet
von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 15.01.08
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