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Fragend-entwickelndes
Lehren
Protokoll eines
Unterrichtsgespräches
Der Lehrer, Herr Meister - M. -,
zeigt dem Schüler - S. - ein Quadrat:
Durch die Mittelpunkte jeder Seite sind zum gegenüberliegenden Mittelpunkt
Verbindungslinien gezogen.
Er führt mit dem
Schüler folgendes Gespräch.
Lassen Sie die
Mitschrift auf sich wirken
und bilden Sie sich ein Urteil über die Fragetechnik des Lehrers.
M: |
Sag,
mein Junge, siehst du dieser viereckigen Fläche an, dass sie ein Viereck ist? |
S: |
Ja,
das sehe ich, Herr Meister. |
M: |
Gibt
es also eine viereckige Figur, bei der alle diese vier Seiten gleich lang sind? |
S: |
Allerdings,
ja, Herr Meister. |
M: |
Sind
an diesem Viereck nicht auch diese Linien, die durch die Mitte gehen, gleich? |
S: |
Das
sind sie, Herr Meister. |
M: |
Eine
solche Fläche kann man sich auch größer oder kleiner denken? |
S: |
Sicherlich,
Herr Meister. |
M: |
Wenn
nun diese Seite vier Fuß lang wäre und jene auch vier Fuß, wie viel Fuß enthielte dann
die ganze Fläche? Überleg es dir so: Wenn sie auf dieser Seite zwei Fuß hätte, aber
auf jener nur einen, enthielte dann nicht die ganze Fläche einmal zwei Fuß? |
S: |
Ja,
Herr Meister. |
M: |
Da
die Fläche nun aber auch auf jener Seite zwei Fuß misst, enthält sie dann nicht zweimal
zwei Fuß? |
S: |
Bestimmt,
Herr Meister. |
M: |
Zweimal
zwei Fuß enthält sie also? |
S: |
In
der Tat, ja, Herr Meister. |
M: |
Wie
viel Fuß zweimal zwei Fuß sind, mein Junge, das rechne aus und sag mir. |
S: |
Vier,
Herr Meister! |
M: |
Kann
es nun nicht eine Fläche geben, die doppelt so groß ist wie diese, sonst aber genauso
aussieht, weil alle vier Seiten gleich lang sind? |
S: |
Ja,
Herr Meister, sicher wird es sie geben. |
M: |
Wie
viel Fuß muss sie dann enthalten? |
S: |
Acht
natürlich, Herr Meister. |
M: |
Gut.
Nun versuch mir auch zu sagen, wie lang jede Seite an diesem neuen Viereck sein wird.
Erinnere dich, am kleinen Viereck misst sie zwei Fuß, und wie viel Fuß am doppelt so
großen? |
S: |
Offenbar
ist sie zweimal so lang, Herr Meister. |
M: |
Naja,
hm, mein Junge, sag mal, aus der doppelt so langen Seite entsteht das doppelt so große
Viereck? Ich meine aber ein richtiges Quadrat, nicht ein Viereck, das hier lang ist, dort
aber kurz, sondern es soll an allen vier Seiten gleich lang sein wie dieses hier, aber die
doppelte Fläche enthalten, also acht Fuß. Sieh noch einmal genau hin! Meinst du
wirklich, dass es entsteht, wenn diese Seite zweimal so lang ist? |
S: |
So
meine ich es, Herr Meister. |
M: |
Schön.
Diese Seite wird also doppelt so lang wie jene, wenn wir hier eine ebenso lange Strecke
hinzufügen? |
S: |
Wird
sie, Herr Meister. |
M: |
Und
du glaubst, wenn wir vier solche Seiten nehmen, werde daraus eine Fläche von acht Fuß
entstehen? |
S: |
Ja,
Herr Meister. |
M: |
Dann
lass uns doch mal vier solche gleich langen Seiten aufzeichnen. Nicht wahr, diese neue
Fläche enthält deiner Meinung nach acht Fuß? |
S: |
Allerdings,
Herr Meister. |
M: |
Sind
nun nicht in diesem neuen Viereck vier Vierecke enthalten, von denen jedes eine gleich
große Fläche enthält wie unser erstes Viereck mit vier Fuß Fläche? |
S: |
Ja,
Herr Meister. |
M: |
Wie
groß ist es also? Nicht viermal so groß? |
S: |
Muss
es, Herr Meister. |
M: |
Ist
nun das viermal so große Viereck das zweimal so große, das wir suchen? |
S: |
Oh
..., Scheiße, nein, Herr Meister. |
M: |
Ich
bitte dich! Wir sind hier nicht in Zehlendorf.
(Pause)
Sondern wie viel Mal so groß ist es? |
S: |
Viermal
so groß, Herr Meister. |
M: |
Wenn
wir also die Seite verdoppeln, erhalten wir dann nicht ein Viereck mit doppelter Fläche,
sondern eines mit vierfacher Fläche? |
S: |
So
ist es, Herr Meister. |
M: |
Denn
von vier ist das Vierfache sechzehn, nicht wahr? |
S: |
Jaaa
...., Herr Meister. |
M: |
Aus
welcher Seite entsteht denn nun das Viereck mit acht Fuß Fläche? Denn, nicht wahr, aus
jener entsteht das mit vierfacher Fläche? |
S: |
Das
finde ich auch, Herr Meister. |
M: |
Und
das Viereck mit vier Fuß Fläche entsteht aus dieser halben Seite? |
S: |
Ja,
Herr Meister. |
M: |
Schön.
Das achtfüßige Viereck, ist es nicht von diesem hier das Doppelte, von jenem aber die
Hälfte? |
S: |
Allerdings,
Herr Meister. |
M: |
Muss
es also nicht aus einer Seite gebildet werden, die länger ist als diese Seite, aber
kürzer als jene? Oder nicht? |
S: |
Das
meine ich auch, Herr Meister. |
M: |
Bravo!
Du brauchst nur zu antworten, was du denkst. Und nun sag mir, hatte diese Seite nicht zwei
Fuß Länge, jene aber vier Fuß? |
S: |
Hatte
sie, Herr Meister. |
M: |
Also
muss die Seite des Vierecks von acht Fuß größer sein als diese Seite von zwei Fuß
Länge und kleiner als jene von vier Fuß? |
S: |
Das
muss sie, Herr Meister. |
M: |
Dann
versuch zu sagen, wie lang sie deiner Meinung nach ist. |
S: |
Drei
Fuß, Herr Meister. |
M: |
Gut.
Wenn sie drei Fuß lang sein soll, so wollen wir von dieser Seite noch die Hälfte
dazunehmen, dann wird sie drei Fuß lang. Denn das hier sind zwei Fuß, und das ist ein
Fuß, und auf dieser Seite sind das ebenso zwei Fuß und ein Fuß. Und das ist nun das
Viereck, das du meinst. |
S: |
Ja,
Herr Meister. |
M: |
Wenn
das Viereck nun hier drei Fuß hat und dort auch drei Fuß, dann enthält das ganze
Viereck doch eine Fläche von neun Fuß? |
S: |
Offenbar
ja, Herr Meister. |
M: |
Dreimal
drei aber - wie viel Fuß sind das? |
S: |
Neun,
Herr Meister. |
M: |
Und
wie viel Fuß sollte das Viereck mit doppelter Fläche enthalten? |
S: |
Acht,
Herr Meister. |
M: |
Also
auch aus einer Seite mit drei Fuß Länge erhalten wir kein Viereck mit acht Fuß Fläche? |
S: |
Wirklich
nicht, Herr Meister. |
M: |
Von
einer Seite mit welcher Länge erhalten wir denn nun das Viereck? Und wenn du es nicht mit
Rechnen schaffst, dann zeig es mir doch einfach |
S: |
den
Tränen nahe: Weiß ich nicht ... |
|
Nach
einer kleinen Pause:
M. zeigt S. das ursprüngliche Viereck. |
M: |
Geduldig:
Ist das hier nicht unser Viereck mit vier Fuß Fläche? |
S: |
Ja. |
M: |
Können
wir nun hier nicht noch ein gleich großes daransetzen? |
S: |
Ja. |
M: |
Und
auch dieses dritte, das ebenso groß ist wie die beiden? |
S: |
Ja. |
M: |
Können
wir nun nicht auch das noch hier in der Ecke ausfüllen? |
S: |
Ja. |
M: |
Und
nun? Das Wie vielfache ist wohl das Ganze von diesen? |
S: |
Das
Vierfache. |
M: |
Wir
sollten doch aber nur ein zweifach so großes Viereck bekommen, oder erinnerst du dich
nicht? |
S: |
Ja. |
M: |
Schneidet
nun nicht diese Linie, die aus einem Winkel in den anderen geht, jedes von diesen
Vierecken in zwei gleiche Teile? |
S: |
Ja. |
M: |
Und
werden das nicht vier gleiche Linien, die dieses neue Viereck einschließen? |
S: |
Ja. |
M: |
So.
Nun überleg dir mal, wie groß das neue Viereck ist. |
S: |
Versteh
ich nicht ... |
M: |
Hat
nicht bei diesen vier Vierecken von je einem jede Seite die Hälfte nach innen zu
abgeschnitten? Oder nicht? |
S: |
Ja. |
M: |
Wie
viel solche sind nun in diesem Viereck? |
S: |
Vier. |
M: |
Und
wie viel in jenem? |
S: |
Zwei. |
M: |
Und
vier ist von zwei was? |
S: |
Das
Doppelte. |
M: |
Wie
viel Fuß Fläche hat also dieses Viereck? |
S: |
Acht. |
M: |
Und
von welcher Linie? |
S: |
zeigt
auf die Diagonale: Von dieser. |
M: |
Von
der, die das vierfüßige Viereck aus einem Winkel in den anderen teilt? |
S: |
Ja. |
M: |
Diese
Linie heißt in der Geometrie Diagonale, so dass, wenn sie Diagonale heißt, aus der
Diagonale das doppelt so große Viereck entsteht. Das hast du ganz toll herausgefunden. |
S: |
Danke,
Herr Meister. |
Kommentierendes Nachwort
Die Quelle
Wahrscheinlich haben Sie trotz der
kleinen Verfremdungen erkannt, dass hier Sokrates persönlich
unterrichtet. Er lässt einen Jungen erkennen, dass man die Diagonale eines Quadrates
bestimmen muss, wenn man seine Grundfläche verdoppeln will.
Der Text findet sich in PLATONs Dialog Menon
(Kapitel 16 - 19, 82 b - 85 b) und gilt als Ur-Text der mäeutischen Methode.
Sokrates verhilft, einer Hebamme gleich, dem unbewusst schon vorhandenen Wissen des
Lernenden ans Licht. Es handelt sich also um den ersten didaktischen Text Europas -
ein Grund legendes Dokument.
Die Würdigung
Wenn Sie den Text nicht kannten,
werden Sie sich wahrscheinlich über die kurzschrittige, geradezu suggestive Fragetechnik
gewundert haben. Vielleicht haben Sie sich auch gefragt, was Ihnen wohl Ihre Ausbilder zu
dieser Fragetechnik zu sagen hätten, wollten Sie so unterrichten.
Hier geht es nicht
darum,
einen ehrwürdigen Text
zu entzaubern oder gar lächerlich zu machen.
Ganz im Gegenteil - die
Präsentation dieser Ur-Szene des Lernens soll zum Nachdenken über wirksame Anleitung zum
Lernen beitragen und deren zeitlos gültige Aussage von den Schlacken gängiger
Fehldeutung befreien.
-
Eine entsprechende Interpretation finden
sie auf der Webseite Anleitung zum Lernen - Sokrates
unterrichtet Mathematik".
-
Vorschläge für eine Anleitung, die
selbständigen Erkenntnisgewinn nicht vorspiegelt, sondern tatsächlich auslösen kann,
finden Sie auf der Webseite Die Fläche des Quadrates
verdoppeln - eine Alternative".
-
Die Grenzen einer Gesprächsführung nach
dem Vorbild des Urtextes sind schon früh erkannt worden - zumal bei
vordergründig-flachem Transfer. Lesen Sie dazu die Webseite "Das
sokratische Lehrgespräch - eine Satire".
-
Weiterführende Analysen zur
Gesprächsführung im Unterricht finden Sie auf der Webseite "Das Unterrichtsgespräch - Lehrerfrage oder
Lehr-Lern-Diskurs?"
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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