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Moralische
Urteilsfähigkeit
I. Grundlagen und Entwicklung
Übersicht
1.0 Das Problemfeld
1.1 Jean PIAGET
1.2 Lawrence KOHLBERG
1.3 KOHLBERGs Gedanken
und ihre Entfaltung
2.0 Entwicklungsstufen der Moral
2.1 Das Grundmodell
2.2 Variante des
Grundmodells
2.3 Ausgestaltung
des Grundmodells
2.4 Anwendungen
2.5 Ein Problem der Politischen
Bildung
3.0 Literaturnachweis
3.1 Grundlegende Veröffentlichungen
3.2 Weitere
Veröffentlichungen zum Thema
3.3 Hinweis auf die Webseite Literaturgrundlage"
1.0 Das
Problemfeld
Die Fähigkeit der Menschen, sich in
ihrem Handeln an sittlichen Maßstäben zu orientieren, ist das große Thema der antiken
Philosophie. Exemplarisch wird sie in den Dialogen des Philosophen PLATON
erörtert; er lässt SOKRATES die schlichte Einsicht formulieren:
Wer das Gute kennt,
handelt danach.
Mithin besteht für PLATON ein enger
Zusammenhang zwischen den intellektuellen Fähigkeiten der Menschen und ihrer Fähigkeit
zu moralischem Urteil sowie entsprechendem Handeln.
In der Gegenwart ist die Diskussion dieses Themas insbesondere
von Jean PIAGET und Lawrence KOHLBERG bestimmt worden.
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1.1 Jean PIAGET
Auf der Grundlage seiner Untersuchungen
der kognitiven Entwicklung bemühte sich Jean PIAGET als erster, Stufen des moralischen
Denkens bei Kindern zu definieren, indem er Kinder interviewte und (bei Regelspielen)
beobachtete. Auf dieser Grundlage definierte er (1932; dt. 1983) drei Entwicklungsniveaus:
1. |
die prämoralische
Stufe
Ein Gefühl der Verpflichtung auf Regeln gibt es hier noch nicht. |
2. |
die heteronome
Stufe
Das moralisch Richtige besteht auf dieser Stufe in buchstäblichem Gehorsam gegenüber
Regeln. Die Verpflichtung besteht darin, sich Macht und Strafe zu unterwerfen (ungefähres
Altersspektrum: 4 - 8 Jahre). |
3. |
die autonome
Stufe
Hier werden der Zweck und die Konsequenzen einer Regelbefolgung erwogen. Die Verpflichtung
beruht auf Gegenseitigkeit und Austausch (ungefähr 8 - 12 Jahre). |
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1.2 Lawrence
KOHLBERG
Lawrence KOHLBERG
knüpft an PIAGET an. Er schreibt:
DEWEYs und PIAGETs Niveaus bzw.
Stufen nahm ich zur Grundlage, als ich 1955 begann, Stufen der moralischen Entwicklung neu
zu definieren und (durch Längsschnittuntersuchungen und transkulturelle Forschung) zu
validieren." (KOHLBERG und TURIEL 1978, S. 18 f., zitiert bei LIND-RASCHERT 1987, S.
27.)
1.3 KOHLBERGs
Gedanken und ihre Entfaltung
KOHLBERG hat seine Überlegungen und
Gedanken über viele Jahre hin in zahlreichen Publikationen entfaltet und diskutiert (vgl.
dazu das Literaturverzeichnis in KOHLBERG 1995, 510 - 523). Da diese z.T. recht schwer
zugänglich waren, wurden sie im deutschsprachigen Raum vor allem durch andere Autoren
erschlossen. Mit KOHLBERG 1995 liegt erstmalig eine Textsammlung in deutscher Sprache vor,
die es gestattet, die Entfaltung und Komplexität seiner zentralen Überlegungen
nachzuvollziehen.
Die nachstehende Übersicht folgt außer KOHLBERG in wesentlichen
Teilen auch den Zusammenfassungen von LIND-RASCHERT, OSER-ALTHOF und KEGAN.
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2.0 Entwicklungsstufen
der Moral
2.1 Das
Grundmodell
Im Anschluss an PIAGET analysierte
KOHLBERG in kulturvergleichender Forschung die Antworten von Kindern zu einer Reihe von
hypothetischen moralischen Konfliktsituationen. Er konnte sie zuverlässig jeweils einer
von sechs Stufen zuordnen, die er in drei Hauptniveaus zusammenfasst (KOHLBERG 1968, in
1995, S. 26 f., ergänzt aus OSER-ALTHOF 1992, S. 54).
- Niveau I - Prämoraliscbes Denken
Stufe 1: Orientierung an Strafe
und Gehorsam.
Geurteilt wird nach Gesichtspunkten von Lohn und Strafe
und unter dem Aspekt physischer Konsequenzen.
Stufe 2: Naiver instrumenteller Hedonismus.
Geurteilt wird nach dem Schema »Jedem das Seine« »Wie du mir, so ich dir« »Hier
besteht eine Vorstellung von Gegenseitigkeit, in der
Verdienste eine Rolle für Gerechtigkeit spielen.
Niveau II - Moral der
konventionellen Rollenkonformität
Stufe 3: Moral des guten Kindes,
das gute Beziehungen aufrechterhält
und die Anerkennung der anderen sucht.
Geurteilt wird nach dem Prinzip der Goldenen Regel:
»Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu!« _
Rücksicht auf die Gruppe und die Gruppenmehrheit.
Stufe 4: Moral der Aufrechterhaltung von Autorität.
Geurteilt wird nach für alle in gleicher Weise gültigen gesellschaftlichen Rechten
und Pflichten. Gesetze werden wichtig, weil sie garantieren, dass jeder vor dem
Gesetz gleich ist.
- Niveau III - Moral der
selbst-akzeptierten moralischen Prinzipien
Stufe 5: Moral des Vertrages, der
individuellen Rechte und
des
demokratisch anerkannten Gesetzes/Rechtssystems.
Stufe des Sozialvertrags, des sozialen Nutzens und der individuellen
Rechte: »Gerechtigkeit bedeutet, dass Menschen ihre fundamentalen Rechte
wahrnehmen können.)
Stufe 6: Moral der individuellen Gewissensprinzipien.
Stufe der universalen ethischen Prinzipien; der Gesellschaft vorgeordnete
Perspektive bzw. Perspektive eines »moralischen Standpunkts« von dem sich
»gesellschaftliche Ordnungen herleiten.
2.2 Variante
des Grundmodells
Klaus BECK
(Zeitschrift für Pädagogik
46, 2000, S. 351) gibt eine interessante Variante des vorstehenden Grundmodells an:
- Prämoralische Phase (etwa bis zum
4. Lebensjahr)
Egozentrische Ebene
-präkonventionell"
Stufe 1: Orientierung am eigenen Wohlergehen
(Lust/Schmerz, Belohnung/Bestrafung)
Stufe 2: Orientierung an strategischer Tauschgerechtigkeit
(Wie du mir, so ich dir")
- Soziozentrische Ebene -
konventionell"
Stufe 3: Orientierung an
Erwartungen von Bezugspersonen
(Rollenkonformität; good boy, nice girl")
Stufe 4: Orientierung an Grundgesetz und Verfassung
(Recht und Ordnung, Systemperspektive)
- Universalistische Ebene -
postkonventionell"
Stufe 5: Orientierung am
Sozialvertragsdenken
(Legitimität des positiven Rechts, Menschenrechte)
Stufe 6: Orientierung an universalen Prinzipien
(Gerechtigkeitsidee, Kategorischer Imperativ)
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2.3
Ausgestaltung des Grundmodells
Der hohe Abstraktionsgrad des
Grundmodells macht es erforderlich, die sechs Stufen zu konkretisieren. KOHLBERG leistet
das 1976, S. 34 ; die deutsche Fassung ist leicht verändert und korrigiert nach COLBY und
KOHLBERG, 1984, S. 356 f.; vgl. auch OSER-ALTHOF 1992, S. 64 ff., deren Arbeit KOHLBERGs
Modell in eine umfassende Erörterung der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich
einbetten.
- Niveau I - Präkonventionelles
Denken
Stufe 1 - Heteronome Moralität
Was rechtens ist
Regeln einzuhalten, deren Übertretung mit Strafe bedroht ist. Gehorsam als Selbstwert.
Personen oder Sachen keinen physischen Schaden zuzufügen.
Gründe, das Rechte zu tun
Vermeiden von Bestrafung und die überlegene Macht der Autoritäten.
Soziale Perspektive der Stufe
Egozentrischer Gesichtspunkt. Der Handelnde berücksichtigt die Interessen anderer nicht
oder erkennt nicht, dass sie von den seinen verschieden sind, oder er setzt zwei
verschiedene Gesichtspunkte nicht miteinander in Beziehung. Handlungen werden rein nach
dem äußeren Erscheinungsbild beurteilt und nicht nach den dahinter stehenden
Intentionen. Die eigene und die Perspektive der Autorität werden miteinander verwechselt.
- Stufe 2 - Individualismus,
Zielbewusstsein und Austausch
Was rechtens ist
Regeln zu befolgen, aber nur dann, wenn es irgendjemandes unmittelbaren Interessen dient;
die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen und andere dasselbe tun zu lassen.
Gerecht ist auch, was fair ist, was ein gleichwertiger Austausch, ein Handel oder ein
Übereinkommen ist.
Gründe, das Rechte zu tun
Um die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen, wobei anerkannt wird, dass auch
andere Menschen bestimmte Interessen haben.
Soziale Perspektive der Stufe
Konkret individualistische Perspektive. Einsicht, dass die verschiedenen individuellen
Interessen miteinander im Konflikt liegen, so dass Gerechtigkeit (im
konkret-individualistischen Sinne) relativ ist.
- Niveau II - Konventionelles Denken
Stufe 3 - Wechselseitige
Erwartungen, Beziehungen
und interpersonelle Konformität
Was rechtens ist
Den Erwartungen zu entsprechen, die nahestehende Menschen oder Menschen
überhaupt an mich als Träger einer bestimmten Rolle (Sohn, Bruder, Freund usw.) richten.
»Gut zu sein ist wichtig und bedeutet, ehrenwerte Absichten zu haben und sich um andere
zu sorgen. Es bedeutet, dass man Beziehungen pflegt und Vertrauen, Loyalität,
Wertschätzung und Dankbarkeit empfindet.
1. Das Verlangen, in den eigenen Augen und in denen
anderer Menschen
als »guter Kerl zu erscheinen.
2. die Zuneigung zu anderen;
3. der Glaube an die »Goldene Regel«»
4. der Wunsch, die Regeln und die Autorität zu erhalten,
die ein stereotypes »gutes« Verhalten
rechtfertigen.
Soziale Perspektive der Stufe
Perspektive des Individuums, das in Beziehung zu anderen Individuen steht. Der Handelnde
ist sich gemeinsamer Gefühle, Übereinkünfte und Erwartungen bewusst, die den Vorrang
vor individuellen Interessen erhalten. Mittels der »konkreten goldenen Regel« bringt er
unterschiedliche Standpunkte miteinander in Beziehung, indem er sich in die Lage des
jeweils anderen versetzt. Die verallgemeinerte »System«-Perspektive bleibt noch außer
Betracht.
- Stufe 4 - Soziales System und
Gewissen
Was rechtens ist
Die Pflichten zu erfüllen, die man übernommen hat. Gesetze sind zu befolgen,
ausgenommen in jenen extremen Fällen, in denen sie anderen festgelegten sozialen
Verpflichtungen widersprechen. Das Recht steht auch im Dienste der Gesellschaft, der
Gruppe oder der Institution.
Gründe, das Rechte zu tun
Um das Funktionieren der Institution zu gewährleisten, um einen Zusammenbruch des Systems
zu vermeiden, »wenn jeder es täte« oder um dem Gewissen Genüge zu tun, das an die
selbstübernommenen Verpflichtungen mahnt. »Leicht zu verwechseln mit dem für die Stufe
3 charakteristischen Glauben an Regeln und Autorität.
Soziale Perspektive der Stufe
Macht einen Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Standpunkt und der interpersonalen
Übereinkunft bzw. den auf einzelne Individuen gerichteten Motiven. Übernimmt den
Standpunkt des Systems, das Rollen und Regeln festlegt. Betrachtet individuelle
Beziehungen als Relationen zwischen Systemteilen.
- Niveau III - Postkonventionelles
oder prinzipiengeleitetes Denken
Stufe 5 - Die Stufe des sozialen
Kontrakts
bzw. der gesellschaftlichen Nützlichkeit,
zugleich die Stufe individueller Rechte
Was rechtens ist
Sich der Tatsache bewusst zu sein, dass unter den Menschen eine Vielzahl von Werten und
Meinungen vertreten wird, und dass die meisten Werte und Normen gruppenspezifisch sind.
Diese »relativen« Regeln sollten im Allgemeinen jedoch befolgt werden, im Interesse der
Gerechtigkeit und weil sie den sozialen Kontrakt ausmachen. Doch gewisse absolute Werte
und Rechte wie Leben und Freiheit müssen in jeder Gesellschaft und unabhängig von der
Meinung der Mehrheit respektiert werden.
Gründe, das Rechte zu tun
1. Ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Gesetz aufgrund der im
Gesellschaftsvertrag niedergelegten Vereinbarung, zum Wohle und
zum Schutz der Rechte aller Menschen Gesetze zu schaffen und
sich an sie zu halten;
2. ein Gefühl der freiwilligen vertraglichen Bindung an Familie,
Freundschaft,
Vertrauen und Arbeitsverpflichtungen;
3. Interesse daran, dass Rechte und Pflichten gemäß der rationalen
Kalkulation
eines Gesamtnutzens verteilt werden nach der Devise »Der
größtmögliche Nutzen
für die größtmögliche »Zahl«.
Soziale Perspektive der Stufe
Der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive. Perspektive eines rationalen Individuums, das
sich der Existenz von Werten und Rechten bewusst ist, die sozialen Bindungen und
Verträgen vorgeordnet sind. Integriert unterschiedliche Perspektiven durch die formalen
Mechanismen der Übereinkunft, des Vertrags, der Unvoreingenommenheit und der angemessenen
Veränderung. Zieht sowohl moralische wie legale Gesichtspunkte in Betracht, anerkennt,
dass sie gelegentlich in Widerspruch geraten, und sieht Schwierigkeiten, sie zu
integrieren.
Stufe 6 - Die Stufe der
universalen ethischen Prinzipien
Was rechtens ist
Selbstgewählten ethischen Prinzipien zu folgen. Spezielle Gesetze oder gesellschaftliche
Übereinkünfte sind im allgemeinen deshalb gültig, weil sie auf diesen Prinzipien
beruhen. Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstoßen, dann handelt man in
Übereinstimmung mit dem Prinzip. Bei den erwähnten Prinzipien handelt es sich um
universale Prinzipien der Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche Rechte, und die
Würde des Einzelwesens ist zu achten.
Gründe, das Rechte zu tun
Der Glaube einer rationalen Person an die Gültigkeit universaler moralischer Prinzipien
und ein Gefühl persönlicher Verpflichtung ihnen gegenüber.
Soziale Perspektive der Stufe
Perspektive eines moralischen Standpunktes, von dem sich gesellschaftliche Ordnungen
herleiten. Es ist dies die Perspektive eines jeden rationalen Individuums, das das Wesen
der Moralität anerkennt bzw. anerkennt, dass jeder Mensch seinen (End-)Zweck in sich
selbst trägt und entsprechend behandelt werden muss.
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2.4 Anwendungen
KOHLBERG hat jede dieser sechs
allgemeinen Stufen der moralischen Orientierung nach ihrer spezifischen Haltung etwa 32
Aspekte der Moralität zugeordnet.
Dazu ein Beispiel:
Für den Aspekt »Motivation, Regeln zu befolgen oder moralisch zu handeln« werden
die sechs Stufen wie folgt beschrieben:»
Stufe
1: |
Befolge Regeln, um
Strafe zu vermeiden. |
Stufe
2: |
Verhalte dich
konform, um Belohnungen zu bekommen,
erwidere Gefälligkeiten usw. |
Stufe
3: |
Verhalte dich
konform, um die Missbilligung und die Abneigung
der anderen zu vermeiden. |
Stufe
4: |
Verhalte dich
konform, um die Kritik durch legitime Autoritäten
und daraus folgende Schuldgefühle zu vermeiden. |
Stufe
5: |
Entsprich den Regeln
(Prinzipien), um die Achtung des unvoreingenommenen
Zuschauers zu bewahren, der im Sinne des allgemeinen Wohlergehens urteilt. |
Stufe
6: |
Entsprich den Regeln
(Prinzipien), um Selbstverurteilung zu vermeiden. |
Diese Stufen
werden meist stillschweigend als ein Niveau des moralischen Urteilens
verstanden, das das Individuum in jedem Fall zur Grundlage seines Handelns
macht - sog. Homogenitätsthese. Neuerdings haben Klaus BECK und Kerstin
PARCHE-KAWIK (2004, S. 244 ff.) empirische Befunde vorgestellt, die
wesentlich heterogenere Urteilsformen belegen. So kann ein und die selbe
Person zu ein und derselben Zeit in unterschiedlichen situativen Kontexten auf
zwei oder sogar drei Stufen argumentieren, die noch nicht einmal benachbart
zu sein brauchen (a.a.O. S. 246).
Das darf nicht überraschen und stellt die
idealtypische bzw. analytische Schlüssigkeit von KOHLBERGs Theorie
keineswegs in Frage. Vielmehr entspricht es der Lebenswirklichkeit, dass
frühere Stufen des moralischen Urteils nicht etwa aufgelöst werden,
sondern erhalten bleiben und höhere Stufen lediglich additiv hinzukommen.
Ein Individuum muss sich durch eine außerordentliche Integrität
auszeichnen, wenn es in jedweder denkbaren Situation den erreichten Entwicklungsstand
seines moralischen Urteils ohne Rückfall auf frühere Stufen bewähren
soll.
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2.5 Ein Problem
der Politischen Bildung
Die vorstehende Darstellung beruht im
Wesentlichen auf Literaturgrundlagen aus der amerikanischen Forschung und bedarf daher
für folgenden Sachverhalt einer Ergänzung.
Die Stufen des moralischen Urteilens, vor allem aber die für
ihre Beschreibung verwendeten Begriffe können ein Missverständnis auslösen, das der
Verfasser der Bausteine für ein pädagogisch überaus heikles Problem hält. Es
besteht in folgendem Konflikt.
Eine wichtige Aufgabe der politischen
Bildung besteht darin, die jungen Menschen zur Loyalität - zum Gehorsam
gegenüber den Gesetzen - anzuhalten und zu befähigen. Und nicht nur gegenüber
denen, die sie einsehen oder billigen, sondern gerade auch gegenüber denen, die ihnen,
aus welchen Gründen immer, nicht gefallen.
Fachbegriffe des KOHLBERG-Modells wie konventionell"
und postkonventionell" sind Beschreibungen, doch lassen sie sich auch als
Wertungen verstehen. So kann eine eindimensionale Vermittlung der Stufenfolge oder deren
unkritische Übernahme zu dem Irrtum führen, das eigene Urteil habe einen höheren
moralischen Rang und berechtige deshalb dazu, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen,
wenn man dafür gute Gründe habe.
In allgemeiner Form - der Hintergrund des Konfliktes ist die
Spannung zwischen Legalität (Gesetzlichkeit) und Legitimität
(Rechtlichkeit). Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite Legalität, Legitimität,
Loyalität". Diese Spannung führt u.a. zu der Empfehlung zum zivilen
Ungehorsam", wobei vor allem amerikanische Traditionen (u.a. David
THOREAU, Martin Luther KING) als rechtfertigende Vorbilder
dienen.
Der Parlamentarische Rat hat bei der Abfassung des Grundgesetzes
- unter dem Eindruck
des im Gewande des Gesetzes herrschenden Unrechts der NS-Zeit - die Legalität der
Legitimität unterstellt.
Mit Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 bindet das Grundgesetz die
Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, also insbesondere an den Katalog der
Grundrechte in Art. 1 - Art. 19, die unmittelbar geltendes Recht sind. Ferner hat gemäß
Art. 99 GG das Bundesverfassungsgericht die - seit seinem Bestehen sorgfältig und
problembewusst - wahrgenommene Aufgabe zu prüfen, ob trotz dieser strengen
Vorgabe strittige Gesetze der Verfassung entsprechen.
Solange das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz nicht aufgehoben
oder korrigiert hat,
gilt es und bindet alle Bürger.
In anderen Staaten mag das anders sein. In der Bundesrepublik
Deutschland ist dem Bürger das Recht, ein Gesetz nach eigenem Ermessen nicht zu beachten,
entzogen. Das Grundgesetz unterscheidet sich in diesem Punkt von den meisten modernen
Verfassungen anderer Staaten.
Diese Sachlage muss bei Unterricht über
die Stufen der Urteilsfähigkeit beachtet werden. Sonst könnte es bei Schülern zu
verhängnisvoller Desorientierung kommen, wenn sie den Eindrück gewönnen, die Stufen 5
und 6 rechtfertigten die Verletzung des geltenden Rechts. Das lässt sich insbesondere
dadurch vermeiden, dass auf den Kategorischen Imperativ (s. oben)
Bezug genommen wird. Vertiefungen dazu finden Sie auf den Webseiten Immanuel
KANT - Der Kategorische Imperativ"
sowie Die pädagogische Theorie".
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3.0
Literaturnachweis
3.1
Grundlegende Veröffentlichungen
- Ann COLBY - Lawrence KOHLBERG
Das moralische Urteil:
Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz
in: Gerhard STEINER (Hrsg.)
Entwicklungspsychologie, Band 1, S. 348 - 366
Weinheim, Beltz 1984
- Lawrence KOHLBERG
Die Psychologie der Moralentwicklung
Herausgegeben von Wolfgang ALTHOF
unter Mitarbeit von Gil NOAM und Fritz OSER
Frankfurt am Main 1995;
darin enthalten:
o Moralische Entwicklung (1968)
o Zusammenhänge und Brüche zwischen der Moralentwicklung in der Kindheit
und im Erwachsenenalter (mit Richard KRAMER, 1969)
o Zusammenhänge und Brüche zwischen der Moralentwicklung in der Kindheit
und im Erwachsenenalter - neu interpretiert (1973)
o Moralstufen und Moralerwerb
Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz (1976)
o Die Bedeutung und Messung des Moralurteils (1979)
o Zum gegenwärtigen Stand der Theorie der Moralstufen
(mit Charles LEVINE und Alexandra HEWER, 1984)
o Die Beziehung zwischen moralischem Urteil und moralischem Handeln
(mit Daniel CANDEE), 1984
Anhang: Das Interview zur Erhebung der Stufe des moralischen Urteilens:
Dilemmata-Texte und Standardfragen
Literatur, Namens- und Sachregister
- Fritz OSER - Wolfgang ALTHOF
Moralische Selbstbestimmung
Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich
Ein Lehrbuch
Stuttgart 1992
- Jean PIAGET
Das moralische Urteil beim Kinde
Paris 1932, dt. Stuttgart 1983, 2. Auflage, München 1986, dtv
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3.2 Weitere
Veröffentlichungen zum Thema
- Klaus BECK - Kerstin
PARCHE-KAWIK
Das Mäntelchen im Wind?
Zur Domänespezifität moralischen Urteilens
Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) Nr. 2, S. 244 - 265
- Wolfgang EDELSTEIN
Förderung der moralischen Entwicklung in der Schule
Möglichkeiten und Grenzen
Zeitschrift für Pädagogik 33 (1987) S. 185 ff.
- Horst HEIDBRINK
Stufen der Moral
Zur Gültigkeit der kognitiven Entwicklungstheorie Lawrenz KOHLBERGs
München 1991
- Walter HERZOG
Mit KOHLBERG unterwegs zu einer pädagogischen Theorie
der moralischen Erziehung
Neue Sammlung 28(1988), 16 ff.
- ders.
Die Banalität des Guten
Zur Begründung der moralischen Erziehung
Zeitschrift für Pädagogik 37 (1991) S. 41 ff.
- Robert KEGAN
Die Entwicklungsstufen des Selbst
Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben
München 1986
- Georg LINDT - Jürgen RASCHERT
Moralische Urteilsfähigkeit
Eine Auseinandersetzung mit Lawrence KOHLBERG
Weinheim 1987
- Hans-Ulrich MUSOLFF
Entwicklung versus Erziehung
Ein Diskussionsbeitrag zur Verhältnisbestimmung von Entwicklungslogik,
Ethik und Pädagogik
Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), 331 ff.
- Fritz OSER
Moralstruktur und inhaltliche Komponenten des Unterrichts
Zeitschrift für Pädagogik 33 (1987) S. 143 ff.
- ders.
Was kann die KOHLBERG-Theorie für eine pädagogische Handlungsorientierung
leisten?
Versuch eines Resümees
Die Deutsche Schule 84(1992), 423 ff.
- ders. - Reinhard FATTKE - Otfried
HÖFFE (Hrsg.)
Transformation und Entwicklung
Grundlagen der Moralerziehung
Frankfurt am Main 1986, Suhrkamp stw
- Gerhard PORTELE
Sozialisation und Moral
Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung
Weinheim 1978
- Sibylle REINHARDT
Was heißt Anwendung" von Sozialwissenschaften in der schulischen
Praxis?
Zeitschrift für Pädagogik 33 (1987) S. 207 ff.
- Günther SCHREINER
Gerechtigkeit ohne Liebe - Autonomie ohne Solidarität?
Versuch einer kritischen Würdigung der Entwicklungs- und Erziehungstheorie
von Lawrence KOHLBERG
Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979) S. 505 ff.
3.3 Hinweis auf
die Webseite Literaturgrundlage"
Die vorstehenden Angaben sind eine
Auswahl. Aus praktischen Gründen wird die zum Thema Werte-Erziehung" insgesamt
benutzte sowie die darüber hinaus empfohlene Literatur auf einer eigenen Webseite
zusammengefasst. Sie finden dort auch weitere Literatur zu KOHLBERG.
Klicken Sie dazu Literaturgrundlage
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 20.10.08
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