[ Home ] [ Nach oben ] [ Zurück ] [ Weiter ]
Gestörter Unterricht
Sachverhalte, Deutungen, Maßnahmen
1.0 Der Problemhorizont
Störungen des Unterrichts sind eine
Tatsache, mit der sich jeder Lehrer gedanklich und handelnd auseinandersetzen muss. Der
Begriff 'Störungen' wird hier verwendet, weil er den Sachverhalt lediglich benennt
und beschreibt.
Im Gegensatz dazu enthält der Begriff 'Disziplinschwierigkeiten'
eine Wertung. Jedenfalls jedoch ist er in einen komplexen anthropologischen und
erziehungsphilosophischen Zusammenhang eingebettet, der eine handlungsorientierte Deutung
von Unterrichtsstörungen und deren sachgerechte Beeinflussung eher erschwert als
erleichtert.
Unterrichtsstörungen sollten nicht subjektiv oder personal
definiert werden, also weder aus den Normen der Lehrer noch aus Lust und Laune der
Schüler. Sie sollten vielmehr vom Lehr- und Lernprozess her gesehen werden, weil es nicht
darum geht, sie zu verurteilen, sondern sie zu verstehen, um sie bearbeiten
zu können.
1.1 Vorläufige Definition
Mithin ist von Unterrichtsstörungen
dann zu sprechen, wenn Lehr- und Lernprozesse unterbrochen werden, stocken, enden, sinnlos
oder inhuman werden.
1.2 Störungen sind Mitteilungen
Ein erster Schritt zum Verständnis von
Unterrichtsstörungen besteht darin, sie als eine Mitteilung zu begreifen
(Vertiefungen dazu finden Sie auf der Webseite "Themenzentrierte
Interaktion"). Um diese Interpretation verständlich und produktiv
zu machen, ist es sinnvoll, einen Blick auf mögliche Motive von störendem Verhalten zu
werfen.
Jedem sozial störenden Verhalten kann
wenigstens eines von fünf Zielen zugrunde liegen:
Man will
- Mängel vertuschen.
- Aufmerksamkeit erregen.
- Überlegenheit gewinnen.
- Vergeltung/Rache üben.
- Liebe/Zuneigung bekommen.
2.0 Diagnose
von Unterrichtsstörungen
Weitere Schritte zum Verständnis von
Unterrichtsstörungen setzen ein Erfassen des Sachverhaltes voraus, das sich nicht auf
pauschale Wahrnehmung und vorgefasste Interpretationsmuster beschränkt.
Als Hilfe zur genaueren Bestimmung von Störungen eignet sich der
folgende Katalog von analytischen Fragen.
1. |
Lässt
sich die jeweilige Unterrichtsstörung eingrenzen? Formen von Unterrichtsstörungen können sein:
o Verstöße gegen in der Klasse und/oder Schule geltende Regelungen,
Provokationen,
o akustische oder visuelle Dauerstörungen,
o Störungen aus dem Außenbereich des Unterrichts,
o Lernverweigerung und Passivität. |
2. |
Auf
welcher Ebene wir die Störung als solche definiert? o Ausschließlich vom Lehrer her?
o Ausschließlich von den Schülern her?
o Vom beeinträchtigten Lehr- und Lernprozess her? |
3. |
Lassen
sich Störungsrichtungen ausmachen? o personale Richtungen:
Schüler - Schüler, Schüler - Lehrer, Lehrer - Schüler, Lehrer - Lehrer;
o objektive Richtungen:
Objekt - Schüler, Schüler - Objekt, Objekt - Lehrer, Lehrer - Objekt;
o abstrakte Richtungen:
Norm - Schüler, Schüler - Norm, Norm - Lehrer, Lehrer - Norm. |
4. |
Lassen
sich Störungsfolgen beobachten oder vermuten ? Zum Beispiel:
o kurze Stockung,
o längere Unterbrechung,
o hartnäckige Blockade,
o allgemeine Verstimmung,
o neuerliche Störungen,
o körperliche oder psychische/soziale Schädigungen,
o Rückwirkungen auf die Lehrinhalte, Lehrmethoden, Beziehungen u. a.
o sonstige Störungsfolgen. |
5. |
Liegen
die Ursachen mehr im schulisch-unterrichtlichen Zusammenhang? o im lehrerzentrierten, verbal
betonten Unterrichtsstil,
o im angstbesetzten Schulalltag,
o in 'geheimen' Lehrstrategien,
o in schulorganisatorischen Schwierigkeiten,
o wo vielleicht sonst? |
6. |
Liegen
die Ursachen mehr im psychisch-sozialen Zusammenhang? o beim Schüler (organische,
psychische, soziale Dimension),
o beim Lehrer (organische, psychische, soziale Dimension),
o in der Lehrer-Schüler-Interaktion,
o im familiären Hintergrund der Schüler,
o in der Wirkung von Gruppenzwängen,
o in gesellschaftlichen Widersprüchen,
o wo vielleicht sonst? |
Noch eine Anmerkung - das
Erfassen der Ursachen muss immer wieder bewusst geübt werden, nicht nur allein,
sondern auch zusammen mit Kollegen. Dann jedoch ist es leichter und eher erfolgreich,
Unterrichtsstörungen günstig zu beeinflussen. Anregungen und Materialien dazu finden Sie
im "Konstanzer Trainingsmodell".
3.0 Möglichkeiten
zur Beeinflussung von Unterrichtsstörungen
Die Ursachen von Unterrichtsstörungen
können auf verschiedenen Ebenen bearbeitet werden:
- pädagogisch-therapeutische
Möglichkeiten,
- psychoanalytische Prozesse,
- Gruppentherapien,
- Verhaltenstherapien,
- Behandlung mit Psychopharmaka.
Aus pragmatischen und zugleich auch
prinzipiellen Gründen kommen hier allein Maßnahmen aus der ersten Gruppe in Betracht.
Dennoch sollten Lehrer über seelisch-geistige Störungen informiert sein, um Missgriffe
im Umgang mit Schülern vermeiden zu können. Entsprechende Informationen finden Sie in
der "Literaturgrundlage" bei
Walter SPIEL (1986) und Rainer WINKEL (1977).
Folgende Möglichkeiten einer helfenden
Einflussnahme lassen sich benennen:
|
Pädagogische
Maßnahme |
Funktion |
1. |
Bewusstes
Ignorieren |
Unerwünschtes
Verhalten nicht verstärken |
2. |
Zeichen
geben |
Bereits
gelerntes Verhalten verstärken |
3. |
Verschieben
der physischen Distanz
und Kontakthalten |
Beruhigen |
4. |
Unauffällige
affektive Zuwendung |
Trösten |
5. |
Entspannen
der Situation durch Humor |
Entkrampfen |
6. |
Hilfestellungen
zur Überwindung des Hindernisses |
Darüber
hinweghelfen |
7. |
Umstrukturieren
der Situation |
Verfremden,
ablenken |
8. |
Umgruppierung
der Schüler |
Reizbeseitigung |
9. |
Intellektuelle
Gegenbeweise |
Ernst
nehmen, aufklären |
10. |
Bewusstmachung
und Beseitigung
der emotionalen Spannungen |
Rationale
Einstellung |
11. |
Appelle
an das Ich und das Über-Ich oder an das Wir (Verhaltensnormen der Gruppe) |
Ich-Stützung |
12. |
Vorbeugendes
Hinausschicken |
Abreagieren
und Verhüten von Schlimmerem |
13. |
Physische
Einschränkungen |
Ablenkungen
vermeiden |
14. |
Beschränkung
von Aktivität, Raum und Gegenständen |
Desensibilisieren
|
15. |
Erweiterter
Freiraum bei gleichzeitig schärferer Grenzziehung |
Verdeutlichen |
16. |
Verbote |
Markierungen
aufzeigen |
17. |
Versprechungen |
Hoffnungen
wecken, ermutigen |
18. |
Belohnungen |
Anerkennung,
Freude und Dank zeigen |
19. |
Drohungen,
d. h. Hinweis auf negative Konsequenzen |
Warnen |
20. |
Strafen
im Sinne von Wiedergutmachung |
Re-Sozialisieren |
Noch einige
Anmerkungen zu diesen Maßnahmen:
- Alle diese Maßnahmen haben nicht nur
Vorzüge, sondern auch Nachteile; sie können produktiv genutzt, aber auch missbraucht
werden.
- Vor allem der situative Zusammenhang
entscheidet über Wert oder Unwert einer dieser Maßnahmen.
- Jede dieser Maßnahmen muss
geistesgegenwärtig und einfallsreich ausgestaltet werden; es gibt keine Rezepte, die von
allein wirken.
Der Handlungszwang einer Situation wird
es nicht immer zulassen, sich dieses Kataloges zu erinnern. Dennoch führt auch hier
Übung zur raschen Verfügung über ein geeignetes Repertoire.
Darum noch ein paar
Möglichkeiten, im Augenblick sachgerecht zu reagieren:
- Nicht alles persönlich nehmen.
Wir Lehrer sind oft austauschbare Ersatzobjekte für psychische Bedürfnisse, die auf den
Unterricht als Störung wirken.
- Nicht impulsiv, sondern besonnen
reagieren, d.h. nach einer - und sei es kurzen - Besinnungspause.
- Bewusstes Vermeiden der mit Sicherheit
falschen Reaktionsweise; erst danach Wählen einer wahrscheinlich richtigen
Reaktionsweise; dabei auch den Blickwinkel und die Erlebnisebene des Schüler bedenken.
- Wenn einem überhaupt nichts anderes
Sinnvolles einfällt -
humorvoll und damit menschlich souverän zu reagieren ist nur selten falsch
Die Abwehr von körperlichen Übergriffen und Aggressionsakten ist eine andere
Ebene.
Literaturnachweis
Ausgearbeitet im Anschluß an Rainer WINKEL (1982 a).
[ Nach oben ] [ Zurück ] [ Weiter ]
Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
- |