Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]

Selbsttätigkeit des Schülers

Der Schüler muß Methode haben.
Dem Lehrer aber muß die Methode, 
seinen Zögling zur Methode zu führen,
eigen sein.“

Diese These stammt von Hugo GAUDIG (1860 – 1923). Der Vertreter der Arbeitsschulbewegung der Reformpädagogik hat sie in seinem Buch »Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit«, Leipzig 1930, 3. Auflage, formuliert. Sie trägt - wenn auch in altmodisch erscheinender Formulierung - eine Forderung vor, die in der Gegenwart vielfach erhoben und erörtert wird - den Schülern Schlüsselqualifikationen zu vermitteln und sie das Lernen zu lehren.

Im Folgenden wird die Passage des Kapitels »Die Methode«, in dem sie sich findet, vollständig wiedergegeben (zitiert nach Hilbert MEYER 1987 II, S. 416 f.).

"Selbsttätigkeit ist das Kennwort der Methodik der von uns geforderten Schule der Zukunft. Durch Selbständigkeit wird die Schule zur »Arbeitsschule« d. h. zu der Schule, in der die selbständige Tätigkeit des Schülers die wesentliche, den Charakter der Schule beherrschende Tätigkeitsform ist. Selbsttätigkeit fordere ich für alle Phasen der Arbeitsvorgänge. Beim Zielsetzen, beim Ordnen des Arbeitsgangs, bei der Fortbildung zum Ziel, bei den Entscheidungen an kritischen Punkten, bei der Kontrolle des Arbeitsganges und des Ergebnisses, bei der Korrektur, bei der Beurteilung soll der Schüler freitätig sein.

Der freitätige Schüler bedarf keiner Fremdeinwirkung, um den Antrieb zur Tätigkeit zu gewinnen; er bedarf während der Arbeit keiner Erregung der Kraft von außen, er bedarf nicht der Wegführung, damit er den Weg zur Lösung seiner Aufgabe findet. Das Prinzip der Selbsttätigkeit beherrscht den gesamten Schulkursus vom ersten bis zum letzten Tage. Es durchdringt alle Disziplinen, die geistig- und naturwissenschaftlichen sowie die technischen. Ebenso beherrscht es alle Arbeitsformen, die Arbeit am anschaulichen Objekt, die Arbeit am Text, das entwickelnde Verfahren und alles darstellende Tun. Und endlich: Es beherrscht die Arbeit sowohl dann, wenn sie - innerhalb der Klasse - Einzelarbeit ist, d. h. Arbeit, bei der sich die Arbeit des einzelnen Schülers absondert, wie auch dann, wenn die Klasse das eigentlich arbeitende Subjekt ist.

Sofern der Schüler selbsttätig ist, ist seine Arbeit »eine Handlung« bei der er selbst das »handelnde Subjekt« oder wie man es ausdrücken kann: »der Täter seiner Taten« ist.  An solchem Handeln können sich die Dispositionen entwickeln, die wir aufgezählt haben; durch solches Handeln entwickelt sich vor allem auch persönliches Leben. Die Fähigkeit zu solchem freien Tun bringt bereits der Schulneuling mit, so daß man an der Schwelle der Schule den verhängnisvollen, grundsätzlichen Irrtum abweisen kann, als handle es sich bei der Selbsttätigkeit um eine Form der Tätigkeit, die erst am Ende der Schulzeit und vielleicht nur bei der Auslese von Köpfen möglich sei. Natürlich aber bedarf es einer planmäßigen Erziehung zur Selbsttätigkeit, damit immer schwierigere Arbeitsleistungen in selbsttätiger Wirksamkeit von den Schülern bewältigt werden können.

Durch diese planmäßige Einschulung ist dahin zu wirken, daß der Schüler die Arbeitstechnik gewinnt. So paradox das klingen mag: Der Schüler muß Methode haben. Dem Lehrer aber muß die Methode, seinen Zögling zur Methode zu führen, eigen sein. Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um das Eindrillen einer Arbeitsmanier, die, einmal eingedrillt, mechanisch angewandt wird, Schon die Einschulung in eine Arbeitstechnik muß im Geiste der Selbsttätigkeit erfolgen: die einzelnen Momente des Arbeitsverfahrens werden nicht etwa kommandiert und exerziert.

Die Schüler – vor allem die »führenden Geister« – versuchen sich an der Arbeit. Auch Irrwege oder minder bequeme Wege werden vom Lehrer nicht von vornherein verboten, damit echter Pfadfindergeist und echte Pfadfinderstimmung gewonnen wird. Bisweilen wird auch das Vormachen des Lehrers am Platze sein. So sieht der Schüler die Arbeit vor seinen Augen werden und liest die Technik gleichsam aus der werdenden Arbeit ab. Es folgt dann die Erläuterung der Technik, durch die der Schüler den Sinn und die Zweckmäßigkeit der gewählten Arbeitsweise erkennt. Die nächste Stufe läßt sich kennzeichnen als Nachmachenlassen und nachfolgendem Urteil, mit steter Hinleitung zur Selbstbeurteilung. Nun folgt das Einüben bis zur Beherrschung der Technik.

Den krönenden Abschluß bildet das freie Arbeiten. Dies Arbeiten wird um so freier sein, je mehr die Einführung in die Arbeitstechnik darauf bedacht ist, die Schüler auf die Mehrheit von Wegen, die an sich möglich sind, hinzuweisen und zu der überlegsamen Auswahl der Wege anzuhalten. Dann vermögen sie das Arbeitsverfahren an die gegebene konkrete Aufgabe, die gegebene Arbeitslage anzupassen."

Hilbert MEYER (Unterrichtsmethoden, Band II, 1987, 2. Auflage, S. 417) kommentiert den Text wie folgt:

"Hugo Gaudig verficht eine formale bzw. methodische Bildungstheorie. Für ihn ist der entscheidende, allen anderen Zielstellungen übergeordnete Gesichtspunkt die Entwicklung der Methodenkompetenz. Die Frage, an welchen Inhalten diese Kompetenzen zu entwickeln sind, wird untergeordnet. Dies ist eine heute nicht mehr akzeptable Position. Die Methodenfrage darf der Inhaltsfrage nicht hierarchisch übergeordnet werden –  ebensowenig wie eine Unterordnung akzeptabel wäre (vgl. Band I, S. 77). Die unterrichtsmethodische Grundlinie des Autors verliert mit diesem Hinweis aber nicht ihre Gültigkeit."


Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 30.04.18
© Inhalte 2000-2008 - Impressum