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Bildung oder Selbstorganisation?

Lösen die Begriffe
Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz
den Bildungsbegriff ab ?

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Der Bildungsbegriff
      2.1 Dimensionen des Bildungsbegriffs
      2.2 Folgerungen für das Verständnis von Bildung
3.0 Wie entstehen Ordnung und Bedeutung?
      3.1 Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz
      3.2 Folgerungen für das Verständnis von Lernen
4.0 Zusammenfassung
5.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

Der deutsche Bildungsbegriff gilt aus zahlreichen Gründen als problematisch und wird aus verschiedenen Richtungen geradezu konträr kritisiert. Einerseits ist er ein konturenarmer Allerweltsbegriff, andererseits wird er so heterogen gebraucht oder mit Bedeutung aufgeladen und überhöht, dass eine Verständigung schwer oder gar nicht möglich ist (vgl. dazu die Webseite „Bildung - Formen der Thematisierung und Bedeutung"). Deshalb ist immer wieder, doch ohne überzeugenden Erfolg versucht worden, ihn zu ersetzen.
     Bei dieser Sachlage hat Dieter LENZEN (1997) die Frage geprüft, ob die Begriffe „Selbstorganisation", „Autopoiesis" und „Emergenz" - SAE - geeignet seien, den Begriff Bildung abzulösen. Sie werden seit einiger Zeit zur Beschreibung der Humanontogenese verwendet.
     Weitere Vertiefungen zu den hier erörterten Positionen finden Sie auf der Webseite „Konstruktivismus und Didaktik".

2.0 Der Bildungsbegriff

Zu diesem Zweck hält es LENZEN für erforderlich, die Bedeutungsebenen des Bildungsbegriffs zu ermitteln. Erst dann sei ein Vergleich mit Selbstorganisation/Autopoiesis/Emergenz sinnvoll.

2.1 Dimensionen des Bildungsbegriffs

LENZEN sieht und untersucht die folgenden Dimensionen. Bildung kann verstanden werden als

  • individueller Wissensbestand,
  • individuelles Können,
  • individueller Prozess,
  • individuelle Selbstüberschreitung,
  • Aktivität bildender Institutionen.

Anschließend formuliert LENZEN die zentrale Fragestellung der weiteren Untersuchung:

Welche Bedeutung
hat die bildende Tätigkeit von Institutionen
für den Selbstorganisationsprozess des Individuums?

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2.2 Folgerungen für das Verständnis von Bildung

Aus den oben skizzierten Dimensionen leitet LENZEN folgendes, idealtypisch gedachtes Verständnis von Bildung ab.

  • Bildung bezeichnet eine mehrfache Paradoxie.
  • Bildung ist zugleich ein Prozess und Resultat eines Prozesses.
  • Bildung ist als Prozess zugleich abgeschlossen („Reife").
    und unabgeschlossen („Selbstüberwindung").
  • Bildung als Prozess ist zugleich zielorientiert („Vollendung") und zieloffen („Freiheit").
  • Bildung als Prozess ist zugleich determiniert („innere Natur")
    und indeterminiert („Sichselbstschaffen").
  • Bildung als Prozess bedeutet für das Individuum, etwas zu werden,
    das es zugleich seiner naturalen Möglichkeit nach schon ist.
  • Bildung ist als Resultat zugleich (Höher-)Bildung des Individuums und der Gattung.
  • Bildung ist als Resultat das Produkt gleichzeitig des Individuums wie der Sozialität.
  • Bildung ist aufgrund seiner paradoxalen Struktur ein auf Dauer gestellter Prozess.

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3.0 Wie entstehen Ordnung und Bedeutung?

3.1 Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz

Das Konzept der Selbstorganisation ist der Versuch, die spontane Entstehung von Ordnung und Bedeutung zu beschreiben und zu klären. Es lässt sich auf unterschiedliche Bereiche anwenden, z.B. die Thermodynamik, die Lasertheorie, das globale Wettermodell, so auch auf die Soziologie. Auf die Erziehungswissenschaft ist es bislang noch nicht bezogen worden, obwohl es interessante Ansätze gibt, auch Lebewesen als „autopoietische Systeme" zu verstehen. Lebewesen und vor allem deren Nervensysteme lassen sich als Systeme interpretieren, deren eigene Komponenten nicht durch Einwirkung von außen entstehen, sondern diese mittels solcher Operationen selbst herstellen, die ihrerseits durch diese Komponenten definiert sind.
     Sobald im Nervensystem, einem Netzwerk, die Zustände aller beteiligten Neuronen einen für alle befriedigenden Zustand erreicht haben, ergibt sich spontan ein übergreifendes Zusammenwirken. Dieser Vorgang wird als „Emergenz" bezeichnet. Damit ist zugleich auch eine informationale Geschlossenheit gegeben. An dieser Stelle berührt sich der Emergenzbegriff mit dem radikalen Konstruktivismus. Danach ist die Repräsentation der Außenwelt nur eine Form, in der sich ein kognitives System selbst repräsentiert.

Die vorstehenden Darlegungen mögen wegen ihres abstrakten Charakters verstiegen wirken oder gar Abwehr auslösen. Die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung sind jedoch so bedeutsam, dass wir Lehrer sie zur Kenntnis nehmen und für unsere Arbeit berücksichtigen sollten.
     Danach muss angenommen werden,
                  dass das menschliche Gehirn eine autopoietische Struktur hat.

Obwohl der genetische Code die Entwicklung des Gehirns weitgehend festlegt, bleibt jedoch eine gewisse Restvarianz. Für deren Ausformung spielt die Interaktion des Organismus mit der Umwelt eine besondere Rolle. Die genetische Determiniertheit ist zwar erheblich, doch bleiben die Selbstorganisationsprozesse des Gehirns in ihrer Interaktion mit der Umwelt bis ins Erwachsenenalter plastisch.

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3.2 Folgerungen für das Verständnis von Lernen

Bei der dargestellten Sachlage ist die Vorstellung irrig, die Sinnesorgane lieferten ein bloßes Abbild der Umwelt. Vielmehr „entsteht die Welt im Kopf" (Ernst PÖPPEL, 1995). Lernen und Gedächtnis sind als Ergebnis eines Vorganges zu verstehen, der periphere Erregungen bewertet und durch interne Kombination neue Information produziert. Lern- und Gedächtnisleistungen sind autopoietische Prozesse.
     Kognition, damit auch Lernen, sind somit nicht als Einfluss der Umwelt auf das System und auch nicht als Suche des Systems nach Informationen in der Umwelt zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine „strukturelle Kopplung" (nach Humberto R. MATURANA) von System und Umwelt, die die Wahrnehmungsfähigkeit des Systems steigert und verdichtet. Lernen könne daher, wie Niklas LUHMANN (1995 S. 76) argumentiert, „nicht als Übernahme von Instruktion aus der Umwelt begriffen werden".

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4.0 Zusammenfassung

Diese überaus starken Vereinfachungen sind nicht als Mitteilung von Wahrheit gedacht. Die Aufstellungen des radikalen Konstruktivismus sind keineswegs letztgültige Erkenntnis, sondern Gegenstand strenger Kritik.
     Sicher scheint jedoch zu sein, dass der Bildungsvorgang in einem Bewusstseinsprozess besteht, der wesentlich komplexer ist, als er sich in herkömmlichem Verständnis darstellt. Der Bildungsbegriff braucht deswegen, wie LENZEN (a.O. S. 965 betont, nicht durch Begriffe aus der SAE-Konstellation ersetzt zu werden. Wenn jedoch Erziehung und Unterricht als Umweltreize zu verstehen sind, auf die das „kognitive System" der Individuen jeweils einzeln für sich auswählend reagiert, hätte das zwangsläufig weitreichende Folgen für didaktisches und erzieherisches Handeln. Der Preis für ein sachgerechteres Verständnis von Lernen bestünde freilich im Abschied von hochgemuten Hoffnungen und eindimensionalem Optimismus.

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5.0 Literaturnachweis

Dieser Text beruht im Wesentlichen auf dem Aufsatz von

  • Dieter LENZEN
    Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz
    den Bildungsbegriff ab ?
    Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997) H. 6, S. 949 - 967

Bezug genommen wurde ferner auf

  • Niklas LUHMANN
    Die Autopoiesis des Bewusstseins
    in:
    Niklas LUHMANN
    Soziologische Aufklärung 6
    Opladen 1995, S. 55 - 112
  • Ernst PÖPPEL
    Lust und Schmerz
    Über den Ursprung der Welt im Gehirn
    München 1995
  • Gerhard ROTH
    Die Entstehung von Bedeutung im Gehirn
    in:
    Wolfgang KROHN - Günter KÜPPERS (Hrsg.)
    Emergenz:
    Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung
    Frankfurt am Main 1992, S. 104 - 133
  • ders.
    Das Gehirn und seine Wirklichkeit
    Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen
    Frankfurt am Main 1996, 5. Auflage

Auf das umfangreiche Literaturverzeichnis bei LENZEN (S. 966 f.) wird hingewiesen.
Das vollständige Literaturverzeichnis zum Thema Bildung finden Sie hier.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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