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Über die Zukunft von Bildung

Übersicht
1.0 Das Problemfeld
2.0 Reflexionen über die Zukunft von Bildung
      2.1 Die gesellschaftlich-geschichtliche Situation
      2.2 Notwendige Transformationen und deren konzeptionelle Voraussetzungen
      2.3 Folgerungen für die Konzeption von Bildungsprozessen
      2.4 Zusammenfassung
3.0 Literaturnachweis

1.0 Das Problemfeld

"Wer nicht weiß, woher er kommt, kann nicht wissen, wohin er geht."

So oder ähnlich formuliert, lautet ein gewichtiges Argument in Diskussionen über Bildung. Auch wer dem zustimmt, darf die Gültigkeit des Gedankens nicht überschätzen. Die Kenntnis der Herkunft ist allenfalls die notwendige Bedingung dafür, den richtigen Weg in die Zukunft zu erkennen, nicht aber auch die hinreichende.

Helmut PEUKERT hat sich mit dieser Problematik tiefschürfend auseinandergesetzt. Er nennt (2000 S. 507) Bildung einen der großen Leitbegriffe, mit denen die Menschen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Verständigung über sich selbst suchten. Bildung hat ein Doppelgesicht. Indem sie sich mit dem Werden der Kultur und ihrer Gehalte beschäftigt, wird sie von der Vergangenheit bestimmt. Indem sie den historischen Prozess zu verstehen und ihn selbstbestimmt zu gestalten versucht, wendet sie sich der Zukunft zu.
     Durch Erziehung versucht eine bestehende Generation die nächste Generation dazu zu befähigen, die übernächste zu erziehen. So hat also Erziehung zwangsläufig eine Zukunftsdimension. Aussagen über die Zukunft von Bildung sind jedoch schwierig, weil die eindimensionale Fortschreibung von Trends offensichtlich nicht ausreicht, künftige Entwicklungen zutreffend vorherzusehen. Die nichtlineare Dynamik komplexer Systeme und ihrer Wechselwirkungen lässt sich nicht eindeutig kalkulieren.
     Dennoch darf diese Einsicht nicht zu Resignation und Verzicht auf Nachdenken über künftige Aufgaben von Bildung führen. Bildung besteht allerdings bei dieser Sachlage nicht lediglich in der Aneignung und Interpretation der bestehenden Kultur und ihrer Lebensformen. Sie ist vielmehr als die Fähigkeit zu bestimmen, die die gegenwärtige Lebensform, wenn sie sich selbst gefährdet, in ihren Strukturen und ihren herrschenden Regeln zu transformieren vermag.

Bildung muss also neu definiert werden.

Diese Aufgabe stellt sich PEUKERT. Seine Überlegungen werden im Folgenden vorgestellt, doch schließt deren Dichte und Aspektvielfalt eine adäquate Wiedergabe aus. Hier kann es sich lediglich darum handeln, auf die Kerngedanken aufmerksam zu machen und damit zur Lektüre des Originaltextes anzuregen. Er hat den Charakter eines Vermächtnisses.

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2.0 Reflexionen über die Zukunft von Bildung

PEUKERT gliedert seine Analyse in drei Schritte.

2.1 Die gesellschaftlich-geschichtliche Situation

Die Situation ist durch ein Ansteigen der Weltbevölkerung bestimmt, das bislang nicht gekannte Konsequenzen haben wird. Wenn die Biosphäre unter den Anforderungen einer Multi-Milliarden-Menschheit nicht zusammenbrechen soll, müssen die Menschen ihre Lebensgewohnheiten grundlegend ändern. Damit stellt sich eine außerordentliche Herausforderung, die zu heftigen Spannungen oder gar Spaltungen führen kann und unzählige Menschen ausschließt - nicht nur von materiellen Ressourcen, sondern vor allem von jeder Teilhabe an primärer Bildung .
     Daraus folgt die Frage, wie die Verfasstheit der Gesellschaft so transformiert werden kann, dass ein Überleben der Menschen möglich ist, ohne zugleich immer mehr Menschen eine humane Existenzform zu verweigern.

2.2 Notwendige Transformationen und deren konzeptionelle Voraussetzungen

PEUKERT stellt die Frage, ob wir die eigene Situation überhaupt zureichend erkennen und Orientierungen für ein problemgerechtes Handeln finden können. Er sichtet zunächst Neuansätze der Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert, die durch die Namen Charles DARWIN, Karl MARX und Sigmund FREUD charakterisiert werden, Wenn man Bildung als den Erwerb der Fähigkeit versteht, Realität zu erkennen und begründete Handlungsorientierungen zu erarbeiten, müssen jedoch wissenschaftliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts einbezogen werden.
     Die Formulierung der Relativitätstheorie und - mehr noch - der Quantenmechanik hat sowohl in der Technologie als auch in der Philosophie zu Konsequenzen geführt, die den Menschen zum Objekt machen und ihn Entwicklungen unterwerfen, die er womöglich nicht mehr beherrschen kann. Daraus folgt die Frage, ob sich dieser Prozess so gestalten lässt, dass "eine Entfaltung aller" (a.O. S. 514) möglich wird, ferner die weitere Frage, was das für die Bestimmung von Bildung bedeutet.
     Eine weitere Problemebene ist mit den Einsichten des französischen Poststrukturalismus gegeben, die Überlegungen insbesondere Martin HEIDEGGERs aufgreifen und das Selbstverständnis des Menschen unmittelbar berühren. Sie lassen sich mit der Erfahrung beschreiben, ein »dezentralisiertes Subjekt« zu sein, "das sich nie vollständig erfassen kann, nie vollständig bei sich ist und mit sich identisch sein kann, sondern sich auch selbst ungreifbar ist und es auch sein darf, weil es nur so sein kann." (a.O. S. 515)
      Daraus folgt die Aufgabe, Formen menschlicher Kooperation zu finden und gemeinsam Regeln des Zusammenlebens zu entwickeln, die dem dargestellten Sachverhalt entsprechen.

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2.3 Folgerungen für die Konzeption von Bildungsprozessen

Jean PIAGET ist die Einsicht zu verdanken, dass das Kind an seiner Entwicklung aktiv und kreativ beteiligt ist. In seinem Handeln erfindet es die gegenständliche Welt, sein Verhältnis zu sich und anderen gleichsam selbst und konstruiert somit die Wirklichkeit. Erwachsene als die Repräsentanten einer historisch ausgearbeiteten Sprache und Kultur müssen in ihrem erzieherischen Handeln beim jungen Menschen die Fähigkeit zu kreativer Rekonstruktion und Neukonstruktion voraussetzen. Deshalb sind sie auch verpflichtet, dem Heranwachsenden den Raum für die Konstruktion einer eigenen Welt und eines eigenen Selbst innovativ zu erschließen. Dabei geht es nicht nur um additive Erweiterung von Wissen, sondern um die Transformation von Erfahrungs- und Handlungsweisen, die PIAGET als »reflektierende Abstraktion« bezeichnet hat.
     Eine Zukunft kann es nur geben, wenn es gelingt, neue Regelsysteme zu entwickeln, wenn die bestehenden in selbstdestruktive Dilemmata führen. Erziehung muss also die dargestellten Potentiale junger Menschen fördern und entwickeln, statt sie in überkommene Schemata zu pressen. Nur unter dieser Voraussetzung kann die »Selbsttransformation der Gesellschaft« (HABERMAS) gelingen.

2.4 Zusammenfassung

Bildung darf nicht auf unmittelbare Verwendungszusammenhänge beschränkt werden. Sie muss diesen Bezug vielmehr brechen und reflektierende Urteilskraft freisetzen. Das ist die Voraussetzung dafür, gegen die Exklusion, das Ausschließen von Menschen vorzugehen und zur Transformation destruktiver Mechanismen beizutragen. Die systematische Erziehungswissenschaft hat die Aufgabe, die Elemente, Dimensionen und Bedingungen zu untersuchen, die solch ein Handeln entstehen lassen. Dabei geht es nicht um dogmatische Antworten. Vielmehr kommt es darauf an, Prozesse pädagogischer Bildung durch kritische Reflexion voranzubringen.

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3.0 Literaturnachweis

Der vorstehende Text beruht auf

  • Helmut PEUKERT
    Reflexionen über die Zukunft von Bildung.
    Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000) Nr. 4, S. 507 - 524

Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung einer Vorlesung, die PEUKERT am 10. Juli 1999 im Rahmen eines Symposions gehalten hat. Der Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg hatte es aus Anlass seiner Emeritierung veranstaltet.

Wenn Sie weiterführende Titel suchen, klicken Sie bitte auf „Literaturgrundlage".


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 03.09.18
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