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Glanz und Elend der
Bildung
1.0 Das Problemfeld
Bildung:
Unvermeidbar und überholt, ohnmächtig und rettend
Unter diesem überaus pointierten Titel
hielt der Erziehungswissenschaftler Andreas GRUSCHKA am 24. April 2001
seine Antrittsvorlesung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Darin knüpft er ausdrücklich an zwei aktuelle Positionen an.
Dietrich SCHWANITZ konstatiere den Verfall der
Bildung. Darauf mit seinem Buch Bildung - alles was man wissen muss"
reagierend, empfehle er Bildung in alter hegemonialer Weise als Kanon"
(S. 621).
Der Erfolg dieses Buches zeige zugleich die Lebendigkeit der Bildungsvorstellung wie auch
ihre Deformation zur Halbbildung. Doch auch diese sei im Zeitalter der Talkshows nicht
mehr das, was einmal gewesen sei.
Während SCHWANITZ die Krise der Bildung durch
die Missstände der Pädagogik verursacht sehe, halte Helmut PEUKERT in
seiner Abschiedsvorlesung die Wirksamkeit der überkommenen Bildungsvorstellung durch
gesellschaftliche Entwicklungen für bedroht (vgl. dazu die Webseite
Die Zukunft der Bildung").
Andreas GRUSCHKA vermisst bei PEUKERT den
zündenden Gedanken für eine Transformation. Er versteht dessen Ausführungen als Zeichen
für die Überholtheit und Unvermeidbarkeit, die Ohnmacht und das Rettende der
Bildung". Damit gewinnt er sein Thema und entfaltet in acht Thesen Überlegungen zur
- Tradition der Bildung,
- ihrer eigensinnigen Aneignung im
nachheroischen Zeitalter der Kritik
- und der heute noch möglichen
pädagogischen Inanspruchnahme der Bildung.
Nicht anders als PEUKERT formuliert auch
GRUSCHKA in strenger, oft geradezu radikaler Gedankenführung. Beiden Autoren geht es um
die Wurzeln, die »radices« dessen, was Bildung ist, sein sollte, sein könnte, nicht
ist. Der Gegensatz zu manchem schöngeistigen Text herkömmlicher Bildungstheorie könnte
nicht schroffer sein.
2.0 Acht Thesen
Im Folgenden werden die Thesen als Zitate
wiedergegeben. So weit zum Verständnis nötig, wird der sie begründende Gedankengang in
Anlehnung an den Originalwortlaut zusammenfassend hinzugefügt.
- These 1
Bildung verliert als Konzept der Kritik oder der Affirmation von Kultur in dem Maße
an sozialer Bedeutung, wie sie in ihrer Form als Schulbildung nicht mehr privilegiert und
ihre Inhalte vor allem als Qualifikationen wahrgenommen werden."
Die mit oder anstelle der Bildung
erworbene Berechtigung des Abiturs enthielt das Versprechen auf eine gehobene Position.
Bildung war wegen ihrer privilegierenden Funktion anerkannt, nicht wegen ihres Gehaltes
und dessen Bedeutung. Die Überfüllungskrise" (Hartmut TITZE) entkoppelt
Bildung und Privileg. Ohne die Stütze des Privilegs wird Bildung nicht mehr um ihrer
selbst willen anerkannt, sondern gerät in Gefahr, zur brotlosen Kunst zu werden.
- These 2
Das Bildungsideal verlangt nach Leitfiguren, es löst sich als Leitvorstellung mit
den letzten Gebildeten auf. Ohne sie wird es zum historischen Ereignis musealisiert."
In einer Zeit unendlich
ausufernder, beliebig kombinierbarer Infofiles" ist umfassendes, an eine Person
gebundenes Wissen ein Anachronismus. Die Figur des Gebildeten ist eine Fiktion, die dem
Bedürfnis der Halbgebildeten nach Leitbildern entsprach. Wissenschaftler sind jetzt
Experten für das Spezielle, nicht das Allgemeine. Das Bildungsideal ist zu einem Erbe
geworden, das niemand mehr antreten kann oder will. Das Publikum möchte nicht mit
Ansprüchen behelligt werden, an denen es scheitern kann. Es begnügt sich mit einer
Halbbildung, die in Bildung umgetauft worden ist.
- These 3
Halbbildung verliert ihre disziplinierende Wirkung, sobald beliebig wird, was
gewusst und was nicht gewusst wird."
Der Absolvent des Gymnasiums besaß ein
Bewusstsein von der Wertigkeit der eigenen Schulbildung - unabhängig von deren
tatsächlicher Qualität. Dieser Wert" war gerade auch denen bekannt, die das
Gymnasium nicht hatten besuchen können.
Sobald Nicht-Wissen in der Gesellschaft nicht mehr anstößig
ist, entfällt das Leitbild des Gebildeten und damit auch das Negativbild des
Ungebildeten. Damit entstehen Zweifel, ob sich die Investition in Bildung nach lohnt. Die
Halbgebildeten verlieren ihren Status und werden zur Minderheit. Sie verteidigen eine
Kultur, die sich überlebt hat. Doch mit ihnen könnte auch die Kultur selbst
verschwinden.
- These 4
Das kritische Potential der Naivetät verschwindet, während Naivität belohnt
wird."
Naivetät (sic) ist die Haltung, in der
mit produktiver Neugier auf das noch Unbekannte reagiert wird. Sie ist zu staunen fähig
und lässt sich von Naivität einem Sinngebilde ansprechen.
Naivität ist gelangweilte Informiertheit ohne Wissen,
selbstsichere Ignoranz oder eine Mischung von beidem.
- These 5
Die soziale Bedeutungsveränderung von Bildung, Halbbildung und Unbildung
konkretisiert sich entweder in einem Kommunikationsbruch zwischen den Generationen oder
entwickelt sich zunehmend zu einer pädagogischen Aushandlung über die Ziele des Lernens,
mit der Bildung als Aufgabe entsorgt wird."
Die Glaubwürdigkeitslücke des
schulischen und universitären Bildungsprogramms wird immer größer. Die Gefahr besteht,
dass es den Lehrenden nicht mehr gelingt, die Inhalte des Unterrichts zu Aufgaben zu
machen, die die Lernenden akzeptieren. Was wird dann geschehen können? Die einen
Lehrerenden suchen verzweifelt nach Formen, die Lernenden zu erreichen, und entwerten
dadurch das, wofür sie einstehen und worauf sie bestehen sollten. Die anderen flüchten
sich in die altbewährten" Rituale der Paukschule - und geben damit Bildung als
Aufgabe ebenfalls auf.
- These 6
Hinsichtlich der erlebten Aufgaben der Gesellschaft hat Bildung ihre
Glaubwürdigkeit als Problemlösungsinstanz verloren."
Die überkommende Kultur der
Bildungsgüter fasziniert nicht mehr. Vielen jungem Lernenden scheint sie veraltet, die
Beschwörung des Guten, Wahren, Schönen ohnmächtig. Beruflich erstrebt man ökonomische
Stärke, privat sucht man sein Vergnügen - ohne die Last von Bildungsverpflichtungen.
Die inneren Widersprüche der modernen Welt aufzuspüren wäre
Aufgabe einer kritischen Bildung. Doch eine Bildung, die die Unvernunft in den
Verhältnissen aufdeckt, wirkt abschreckend, wenn sie nicht anzugeben vermag, wie die von
ihr erkannten und benannten Probleme behoben werden können. Die Verhältnisse sind in
einer Weise irrational und scheinen dabei so fest gefügt, dass nur noch gefragt wird, wie
sich aushalten, nicht, wie sich überwinden lassen.
Bildung wird also durch den irrationalen Charakter der
Gegenstände erschwert, auf die sie sich bezieht.
- These 7
Bildung scheitert an der subjektiven Verwirrung des Geistes, dem Niederschlag der
objektiven Unvernunft im Subjekt."
Wer sich mit Bildungsanstrengungen
dagegen sperrt, sich durch das Unvernünftige in der Gesellschaft vereinnahmen zu lassen,
dem bleibt nur die Erkenntnis im unglücklichen Selbstbewusstsein. Der hoffnungslose
Wunsch, es möge anders sein, führt zu seelischen Belastungen, weil man im falschen Leben
kein richtiges führen kann.
Die Sehnsucht, das Denken möge richtig sein, führt zu
problematischen Erklärungsmustern. Sie fixieren das Böse, das Verantwortliche, das
Ursächliche etc. kurzschlüssig und präsentieren es mit Verschwörungstheorien
angereichert. Wollte man die Vernunft in der Unvernunft akzeptieren, so lieferte man sich
ihr aus. Doch das darf nicht sein, und darum begehren manche sektiererisch und
aktionistisch gegen die Mächte der Verdunkelung auf.
Dieses dunkle Gemälde (im Originaltext, S. 636, sind die
schwarzen Details noch wesentlich eindruckvoller formuliert) löst die Frage aus, ob
dagegen auch Lichtpunkte gesetzt werden können. Das wird in der
folgenden These versucht.
- These 8
Bildung zergeht mit der fehlenden bzw. sich auflösenden Organisation der
Verbindlichkeiten für Bildungsprozesse."
Der Sinnverlust der Bildung lässt sich
nicht durch Beschwörungen aufheben, doch mit gemeinsamen Anstrengungen aufhalten. Dazu
ist Folgendes erforderlich:
- Die sozialen und methodischen
Voraussetzungen des Bildungsprozesses sind in der Vergangenheit leichtfertig mit falsch
verstandenen Lernorientierungen gelockert worden. Sie müssen wieder strenger gefasst
werden. Ohne ein solche Lernordnung werden Mutlosigkeit und Desinteresse weiter zunehmen.
- Lehrer müssen die Kraft dazu aufbringen,
die sachlichen Voraussetzungen für Bildungsprozesse, die diesen Namen verdienen sollen,
verbindlich zu definieren und durch Organisation in entsprechende Formen zu übersetzen.
Sonst wird die Hoffnung auf Bildung gegenstandslos.
- Schule und Hochschule müssen sich dafür
verantwortlich fühlen, dass Lernen zu Erkenntnissen führt. Dazu darf nicht der Konsum
von Stoffen, sondern muss deren oft widerspenstige Bearbeitung gefördert werden. Sonst
sind alle verraten, die der Hilfe der Institution bedürfen.
- Deshalb sind Lehr- und Lernformen sowie
Umgangsweisen von Lehrenden und Lernenden notwendig, die eine ernsthafte Arbeit an der
Sache möglich machen. Nur mit Verbindlichkeiten kann auf die Widerstände reagiert
werden, die von der Sache und den Schwierigkeiten mit ihnen ausgehen.
- Lehrende müssen die Lernenden wissen
lassen, was sie für wichtig halten, und es mit ihrem Lehrverhalten beglaubigen. Wenn sie
keine für die Lernenden sichtbare Position beziehen und keine positive Beziehung zu der
Sache haben, die sie vertreten, werden sie nicht ernst genommen und vermitteln ein
negatives Bild der Sache. Ohne Respekt vor der Sache kann die Bildungsaufgabe auch nicht
in Ansätzen erfüllt werden.
- Im Lernprozess müssen Neugier gestiftet
und Erfahrung aufgenommen werden. Sonst bleibt Lernenden nichts anderes übrig als
abzuwarten, was der Lehrende doziert.
Insgesamt geht es darum, ein
Klima herzustellen, das allen mitteilt:
- Die Institution hält gegen alle
Widerstände an ihren Zielen fest.
- Sie ist dazu legitimiert, weil in
Schule und Hochschule Formen der Welterschließung
bewahrt werden, die auf ein normatives Fundament von Bildung verweisen.
Diese Ziele dürfen nicht aufgegeben
werden, auch wenn sie nur in Form von Halbbildung zu erreichen sind. Denn dadurch, dass in
der Halbbildung Bildung in Anspruch genommen wird, bleibt sie präsent. Sonst stellte sich
die Frage, ob Schule und Hochschule überhaupt noch gebraucht werden. Informationen sind
auch anderswo zu erhalten.
3.0 Literaturnachweis
Der vorstehende Text beruht auf dem
Aufsatz von
- Andreas GRUSCHKA
Bildung:
Unvermeidbar und überholt, ohnmächtig und rettend
Zeitschrift für Pädagogik 47 (2001) Nr. 5, S. 621 - 639
Zur Überschrift des Bausteins wurde der
Verfasser durch den Untertitel des Buches Bildung und Kultur" von Georg
BOLLENBECK angeregt.
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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