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Ist Erziehung sittlich
erlaubt?
1.0 Der Problemhorizont
Schon Immanuel KANT hat als Grundwiderspruch
der Erziehung die Notwendigkeit beschrieben, den Menschen einem fremden Willen zu
unterwerfen, weil er anders nicht zum Gebrauch der Freiheit fähig gemacht werden könne.
Vertiefende Ausführungen zu dieser Problematik finden Sie auf der Webseite Immanuel
KANT - Die pädagogische Theorie".
Die Vertreter der Antipädagogik haben
ihre Kritik an der Erziehung insbesondere auf diese Annahme begründet. Am strengsten
urteilt dabei Alice MILLER. Als Kindertherapeutin mit unsäglichem Leid
konfrontiert, wendet sie sich gegen Erziehung überhaupt" und kann sie
dem Wort Erziehung keine positive Bedeutung abgewinnen" (1980, S. 118 u. 121).
Katharina RUTSCHKY hat (Berlin 1977/1997) eindrucksvoll
dokumentiert, dass sich auch Erzieher nicht davor gefeit sind, sich die Motive ihres
Handelns schön zu reden, und gerade ihr Idealismus sie verhängnisvoll irren lassen kann.
Letzthin hat Peter H. LUDWIG (2000) unter systematischer
Sichtung der einschlägigen Literatur die Tatsache beschrieben und untersucht, dass jede
Erziehung in dem Versuch einzuwirken bestehe. Manfred LÜDERS (2001) hat
darauf mit einer interessanten Replik geantwortet.
Wilhelm FLITNER,
Nestor der deutschen Pädagogik, hat sich 1979 nicht ohne Grund mit einer tiefernsten
Mahnung an der Diskussion über Grundfragen erzieherischen Selbstverständnisses und
Handelns beteiligt: Man müsse sich hüten,
die Erlaubnis der
Erziehung zu verwirken."
Von diesem Worte ausgehend, hat FLITNER
am 3. Mai 1979 auf dem vom Bildungspolitischen Gespräch" angeregten Forum
Mut zur Erziehung" einen Vortrag gehalten.
Dessen Kerngedanken werden hier als Thesen vorgestellt. Peter
FAUSER (1996) hat FLITNERs Überlegungen aufgegriffen und vertieft.
2.0 FLITNERs Thesen zur Erziehung
1. |
Immanuel KANT hat
in einer Fassung des Kategorischen Imperativs (s. dazu die gleichnamige Webseite) formuliert:
Man darf den Menschen niemals lediglich als Mittel,
sondern immer nur als Selbstzweck behandeln.
Folglich ist die Unterwerfung des Menschen unter einen fremden Willen, wie es in der
Erziehung geschieht, immer ein schwer zu verantwortender Eingriff. |
2. |
Die Erfahrung zeigt, dass
Erziehung sein muss. Also muss sie auch sittlich erlaubt sein. |
3. |
Dass Fremdbestimmung zur
Freiheit führe, ist ein innerer Widerspruch. Also ist zu prüfen, ob und wie er in der
Pädagogik aufgelöst werden kann. |
4. |
Das Individuum überwindet
nur in der Begegnung mit der vorhandenen Kultur die Lebensform eines Naturwesens
und gewinnt dabei eine höhere Lebensansicht. Deshalb ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar
geboten, Einfluss auszuüben. |
5. |
Daraus folgt die
Notwendigkeit, des Edukanden innere Zustimmung zu den Verzichten, Anstrengungen und
Einschränkungen zu gewinnen, die damit notwendig verbunden sind, sich die Kultur
anzueignen sowie Rücksichtnahme und Humanität zu erlernen.
Das kann auch bedeuten zu akzeptieren, dass sich ein junger Mensch dem versagt. |
6. |
Folglich sind die Regeln zu
suchen und zu formulieren, die die Forderungen und unentbehrlichen Eingriffe zu begrenzen
und umzuwandeln helfen. |
7. |
Im Vertrauen auf den Geist,
der in jedem kulturellen Bestand vorhanden ist, können wir damit rechnen, dass der
Edukand nicht nur von der Natur und den Konstellationen seiner Bedürfnisse getrieben
wird, sondern auch nach Teilnahme am Geist strebt. |
8. |
Die Begegnung mit gesitteten
und gebildeten Menschen ist für den Edukanden von entscheidender Bedeutung. Denn im
Umgang und aus der Begegnung entsteht im Glücksfall Antwort, im Notfall Verweigerung. |
9. |
Planvoller und geregelter
Schulbetrieb ist nur dadurch gerechtfertigt und sinnvoll, dass in dem vorgegebenen Aufbau
des Lernens freie Wechselwirkung entsteht. In der Kleinarbeit des Tages muss ständig
vorweggenommen werden, was als Resultat eintreten soll - die gleichberechtigte
Anteilnahme an der geistigen Welt. |
10. |
Die Spannung zwischen
negativer und positiver, nachgebender und fordernder Pädagogik muss dialektisch
aufgehoben werden. Daraus folgt eine Leitlinie, die erlaubte und unerlaubte Erziehung
voneinander unterscheiden hilft. Das jedoch bleibt eine Kunst, deren ideale Struktur sich
beschreiben, aber nicht erreichen lässt. Man kann sich ihr immer nur nähern.
Sigmund FREUD hat diese Aufgabe in eindruckvoller Formulierung beschrieben. |
3.0 Literaturnachweis
- Peter FAUSER
"Ist Erziehung sittlich erlaubt?"
Neue Sammlung 36 (1996) H. 4 S. 517 - 530
- Manfred LÜDERS
Was hat es mit dem Konzept der Einwirkung auf sich?
Oder: Was ist und wie wirkt pädagogisches Handeln?
Replik auf einen Beitrag von P. H. LUDWIG
Zeitschrift für Pädagogik 46 (2001) H. 6, S. 943 - 949
- Peter H. LUDWIG
Einwirkung als unverzichtbares Konzept
jeglichen erzieherischen Handelns
Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000) Heft 4, S. 585 - 600
- Alice MILLER
Am Anfang war Erziehung
Frankfurt am Main 1980/1983
- Katharina RUTSCHKY (Hrsg.)
Schwarze Pädagogik
Berlin 1977, Neuausgabe 1997
- Wilhelm FLITNER
Ist Erziehung sittlich erlaubt?
Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), Heft 4, S. 500 - 504
- ders. (Hrsg.)
Die Erziehung
Pädagogen und Philosophen
über die Erziehung und ihre Probleme
Bremen 1970, 6. Auflage
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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