[ Home ] [ Nach oben ] [ Zurück ] [ Weiter ]
Erziehung oder
Sozialisation?
Übersicht
1.0 Der Sprachgebrauch
2.0 'Sozialisation' - Begriff und Gegenstand
2.1 Ansätze einer Definition
2.2 Verwendungsbereiche des Begriffes Sozialisation
2.3 Sieben Thesen zur Sozialisation
3.0 Folgerungen für das Verständnis von Erziehung
3.1 Anthropologische Begründung
der Erziehung
3.2
Nimmt der Mensch in der Natur eine Sonderstellung ein?
4.0 Folgerungen
5.0 Literaturgrundlage
1.0 Der Sprachgebrauch
Die Begriffe 'Entwicklung' und
erst recht 'Erziehung' scheinen als traditionelle Termini trotz
unterschiedlicher Interpretation eindeutig zu sein und werden im Allgemeinen positiv
gesehen.
Der moderne Fachausdruck 'Sozialisation' hingegen
wird weitgehend abgelehnt, weil er in den Augen der Kritiker nicht nur den Begriff
Erziehung
ersetzt, sondern damit zugleich auch die Erziehung selbst abzuschaffen scheint. Im
Übrigen wird er selbst bei grundsätzlich positiver Bewertung sehr unterschiedlich
ausgedeutet.
Deshalb scheint es nützlich, den Sprachgebrauch näher zu
untersuchen und den Begriff gegenüber bedeutungsähnlichen Begriffen abzugrenzen, um so
eine tragfähige Grundlage für eine von Missverständnissen freie Verständigung zu
gewinnen.
Zurück zur Übersicht
2.0
'Sozialisation' - Begriff und Gegenstand
Der Begriff Sozialisation,
vielfach in der Form Sozialisierung gebraucht, zeichnet sich schon allein
wegen seiner Wortgeschichte durch eine bemerkenswerte Unbestimmtheit aus.
Auf der Grundlage der neulateinischen Ableitung bezeichnet ein
Substantiv dieses Typus' sowohl einen Vorgang als auch dessen Ergebnis,
ferner ein aktives Handeln als auch ein intransitives oder gar passivisches Geschehen. Hinzu kommt die unterschiedliche Besetzung des Bedeutungskerns, des
Wortes 'socius', 'Genosse', 'Gefährte', und der von ihm abgeleiteten
Abstraktionen 'Gesellung' und 'Gesellschaft'.
Deshalb sind erhebliche Unterschiede im Sprachgebrauch und teils
emphatische Zustimmung zu seiner Bedeutung, teils deren heftige Ablehnung nicht
erstaunlich.
Zurück zur Übersicht
2.1 Ansätze
einer Definition
Albert BANDURA (1971,
Bd. 4, S. 375) schreibt lapidar, der Begriff Sozialisierung (Sozialisation)
bezieht sich auf den
Prozess, durch den Individuen jene Qualitäten entwickeln, die für ein wirksames Bestehen
in der Gesellschaft, in der sie leben, wesentlich sind."
LÜSCHER und FISCH (zitiert
bei SCHNEEWIND, S. 289) beschreiben Sozialisation als einen Vorgang, der
Individuum
und Gesellschaft miteinander verknüpft.
Davon ausgehend, konstatiert SCHNEEWIND (ebda.) für die
Interpretation und Verwendung des Begriffes einen psychologischen sowie einen
soziologischen
Ansatz.
Damit bezeichnet der Begriff einerseits
das Hineinwachsen eines Individuums in die Gesellschaft, andererseits alle
gesellschaftlichen
Einwirkungen auf die Entwicklung eines Individuums.
Zu referieren sind auch aktuelle
Positionen.
Ulrike POPP (2002), S. 898 - 917 fasst die
Rezeption des Begriffes Sozialisation durch die Erziehungswissenschaft in
historischem Überblick zusammen. Sie stellt die Frage, ob Sozialisation als Begriff mit
Substanz beibehalten werden könne oder als nicht mehr zeitgemäße Metapher
zurückzuweisen sei. In Auseinandersetzung mit Ergebnissen der neueren
Kindheitsforschung und dem Konzept der Selbstsozialisation" plädiert sie
dafür, Sozialisation" als substantiellen Begriff beizubehalten.
Klaus HURRELMANN (2002, S. 11) beschreibt
jetzt Sozialisation als "produktive Verarbeitung der Realität".
Den Stand der wissenschaftlichen Diskussion fasst er wie folgt zusammen (a.a.O. S. 15)
Sozialisation wird jetzt verstanden
"als der Prozess der
Entstehung
und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der
gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrang hat dabei die
Frage, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt
bildet."
Zurück zur Übersicht
2.2
Verwendungsbereiche des Begriffes Sozialisation
Systematisiert man den Gebrauch des
Begriffes Sozialisation, so lassen sich im Anschluss an
Klaus HURRELMANN (1976, S. 15 f.) drei Verwendungsbereiche benennen.
Danach bezeichnet Sozialisation
- alle gesellschaftlichen Maßnahmen, die
direkt oder indirekt auf die Ausbildung der Persönlichkeitsstruktur der Mitglieder der
Gesellschaft Einfluss nehmen - Erziehung im weitesten Sinne;
- die Persönlichkeitsentwicklung selbst, so
weit sie durch Umwelteinflüsse bestimmt wird;
- den Prozess der Vermittlung von
gesellschaftlichen Normen und Handlungsmustern, in dessen Verlauf das Mitglied der
Gesellschaft erst zu einem handlungsfähigen menschlichen Subjekt wird.
Sozialisation lässt sich also verstehen
als
- Erziehung im weitesten Sinne des Wortes,
- Gegenposition zum psychologischen
Entwicklungsbegriff,
- Vergesellschaftung.
Zurück zur Übersicht
2.3 Sieben
Thesen zur Sozialisation
Den aktuellen Stand der Theoriebildung
zur Sozialisation fasst HURRELMANN (a.a.O. S. 24 ff.) in den folgenden
sieben Thesen zusammen:
-
Erste These
Sozialisation vollzieht sich in einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt.
-
Zweite These
Sozialisation ist der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in wechselseitiger
Abhängigkeit von körperlichen und psychischen Grundstrukturen (»innere Realität«) und
den sozialen und physikalischen Umweltbedingungen (»äußere Realität«).
-
Dritte These
Sozialisation ist der Prozess der dynamischen und »produktiven« Verarbeitung
der inneren und äußeren Realität.
-
Vierte These
Eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung setzt eine den individuellen Anlagen
angemessene soziale und materielle Umwelt voraus. Die wichtigsten Vermittler hierfür sind
Familien, Kindergärten und Schulen als Sozialisationsinstanzen.
-
Fünfte These
Auch andere soziale Organisationen und Systeme haben Einfluss auf die
Persönlichkeitsbildung, in erster Linie solche, die Funktionen für Arbeit, Freizeit,
Unterhaltung und soziale Kontrolle erbringen.
-
Sechste These
Die Persönlichkeitsentwicklung besteht lebenslang aus einer nach Lebensphasen
spezifischen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
- Siebte These
Ein reflektiertes Selbstbild und die Entwicklung einer Ich-Identität sind
Voraussetzungen für ein autonom handlungsfähiges Subjekt und eine gesunde
Persönlichkeitsentwicklung. Lässt sich Identität nicht herstellen, kommt es zu
Störungen der Entwicklung im körperlichen, seelischen und sozialen Bereich.
Zurück zur Übersicht
3.0 Folgerungen
für das Verständnis von Erziehung
In der Bewertung der Sozialisation, ihrer
Aufgaben und Wirkungen gehen einige Autoren sehr weit. So schreibt Hartmut M.
GRIESE (S. 187):
Auf Sozialisation angewiesen zu
sein ist eine Eigenart des Menschen.
In dieser Hinsicht ist er einzig im Reich der Natur."
Er folgert daraus (S. 95, 97, 177 f.):
Der blanke Organismus, der geboren wird,
muss erst zum Menschen werden.
Die Vergesellschaftung der menschlichen Natur" ist gleichbedeutend mit der
Menschwerdung des Menschen".
Der bloße menschliche Organismus wird erst durch Sozialisation zum Vollmenschen".
Diese Auffassung versteht den Menschen -
wie es John LOCKE (1632 - 1704), der Begründer des Empirismus, sehr
plastisch formuliert - als eine Tabula rasa", ein
unbeschriebenes Blatt. Details zu dieser Thematik finden Sie auf der Webseite
"Sokrates lehrt
Mathematik".
Zurück zur Übersicht
3.1
Anthropologische Begründung der Erziehung
Ehe diese Auffassung näher untersucht
wird, scheint es angebracht, zunächst, im Anschluss an Detlef W. PROMP
(S. 15-22), die anthropologischen Grundlagen zu referieren, auf denen die Standpunkte der
pädagogischen Soziologie beruhen.
Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
-
Der Mensch ist instinktarm und auch sonst
unspezialisiert; er kommt noch nicht halb ausgetragen zur Welt.
-
Daraus resultiert
Weltoffenheit".
Sein Verhalten ist formbar und nicht festgelegt; es muss erst orientiert und bestimmt
werden.
-
Deshalb ist er auf
Sozialisation im
Allgemeinen und Erziehung im Besonderen angewiesen.
- Alles, was er im späteren Leben tut und
denkt, ist von sozio-kulturellen Einflüssen gestaltet. Das Wort, der Mensch
produziere sich selbst", ist fast ein Slogan.
Obwohl gerade in letzter Zeit die
Indizien für grundlegende biologische Programmierungen zunehmen, wird der Mensch
im einschlägigen Schrifttum für weitgehend formbar gehalten. Das bedeutet, dass er unter
allen Umständen auf Erziehung angewiesen ist.
3.2 Nimmt der
Mensch in der Natur eine Sonderstellung ein?
Dass der Mensch der belebten Natur
angehört, wird 150 Jahre nach DARWIN nicht mehr bestritten. Dennoch
werden in der wissenschaftlichen Literatur vieler Forschungsbereiche zahlreiche Elemente
geltend gemacht, die für .eine Sonderstellung des Menschen in der Natur sprechen. Dessen
ungeachtet muss angenommen werden, dass auch für den Menschen ausnahmslos alle jene
allgemeinen
Gesetzlichkeiten gelten, die für Struktur, Funktion und Verhalten lebender Systeme
überhaupt als gültig erkannt wurden.
Zurück zur Übersicht
4.0 Folgerungen
Nimmt man die vorstehende Annahme ernst,
ohne sich von einem - wie immer gearteten - ideologischen Vorverständnis befangen machen
zu lassen, so stellt sich die oft erörterte Frage des Verhältnisses von
Anlage und
Umwelt neu und gleichsam auf höherer Ebene. Sie wird von Detlef W. PROMP (1990)
eindringend beantwortet. Sie finden dazu eine detaillierte Darstellung auf der Webseite Entstehen des Individuums und
Sozialisation".
Neuerdings hat Michael
TOMASELLO (2020) diese Problematik auf einer höheren Ebene erörtert.
Zurück zur Übersicht
5.0
Literaturgrundlage
- Albert BANDURA
Sozialisierung (Sozialisation)
in:
Wilhelm ARNOLD - Hans J. EYSENCK - Richard MEILI
Lexikon der Pädagogik
Freiburg 1971, Herder, Bd. 4, Sp. 375-382
- James GARBARINO
Entwicklung im Jugendalter: Eine ökologische Perspektive
in:
Leo MONTADA 1976, S. 300-312
- Hartmut M. GRIESE
Soziologische Anthropologie und Sozialisationstheorie
Weinheim 1976
- Klaus HURRELMANN (Hrsg.)
Sozialisation und Lebenslauf
Reinbek 1976
- ders. - Dieter ULICH (Hrsg.)
Handbuch der Sozialisationsforschung
Weinheim 1998, 5., neu ausgestaltete Auflage
- ders.
Einführung in die Sozialisationstheorie
Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit
2002, 8., vollständig überarbeitete Auflage
- Leo MONTADA (Hrsg.)
Brennpunkte der Entwicklungspsychologie
Stuttgart 1976
- Rolf OERTER - Leo MONTADA
Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch
München 1982
- Ulrike POPP
Sozialisation" - substantieller Begriff oder anachronistische
Metapher?
Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002) Nr. 6, S. 898 - 917
- Detlef W. PROMP
Sozialisation und Ontogenese
Ein biologischer Ansatz
Berlin/Hamburg 1990
- Klaus A. SCHNEEWIND
Sozialisation unter entwicklungspsychologischer Perspektive
in:
Leo MONTADA 1976, S. 288 - 299
- Michael TOMASELLO
Mensch werden
Eine Theorie der Ontogenese
Berlin 2020
[ Zurück zur
Übersicht ]
[ Home ] [ Nach oben ] [ Zurück ] [ Weiter ]
Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 04.05.21
© Inhalte
2000-2008 - Impressum |