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Der Wesenskern der
Erziehung
Übersicht
1.0 Einleitung
2.0 Der Begriff
Erziehung"
3.0 Kein Zwang -
kein
Alleinlassen
4.0 Folgerungen
5.0 Zusammenfassung
6.0 Literaturnachweis
6.1 Textgrundlage
6.2
Zitatnachweis 1
6.3
Zitatnachweis 2
6.4
Weiterführende Literatur
1.0 Einleitung
Der Pädagoge Andreas FLITNER hat
in einem 1982 erstmals erschienenen Buch versucht, den Wesenskern, die
essentials" von Erziehung herauszuarbeiten. Er nähert sich dem Thema über
eine Betrachtung des Begriffes Erziehung" und zitiert dazu den
Sprachwissenschaftler Mario WANDRUSZKA:
Unsere Sprachen sind Gebilde aus
Notwendigkeit und Zufall." Notwendig ist es für eine Sprache, die elementaren
Sachverhalte, die Denk- und Unterscheidungsweisen einer Kultur auf Worte und Begriffe zu
bringen. Dem Zufall historischer und literarischer Ausformung unterliegt es, in welcher
Gestalt und mit welchem Hof von Bedeutungen und Nebentönen das jeweilige Wort heute
anzutreffen ist.
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2.0 Der Begriff
Erziehung"
Das Wort Erziehung" gehört zu
den elementaren Begriffen, die einen grundlegenden Sachverhalt menschlicher Existenz
beschreiben. In dessen umgangssprachlicher Verwendung durchdringen einander verschiedene,
ja gegensätzliche Aspekte: unentbehrlich-hilfreiche sowie fatal-unterdrückende
Beziehungen und Handlungen. Doch auch wenn man auf dieses Wort verzichten wollte - die
Sache, das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in seiner Besonderheit, wird mit
diesem oder ohne dieses Wort Gegenstand des Nachdenkens bleiben.
Erziehung" lässt an Ziehen" und
Zucht" denken, legt Assoziationen zu der Tätigkeit von Gärtnern und
Viehhaltern nahe. Die romanischen Sprachen wählen eine andere Metapher.
Education", éducation", educación" bezeichnen das
Herausführen aus der Abhängigkeit und Unmündigkeit. Sie setzen also schon im
Sprachlichen einen anderen Zusammenhang, ein anderes Ziel.
Der Gedanke des Herausführens hatte in der Epoche der
Aufklärung große Mühen, die Traditionen des Ziehens und Einfügens zu überwinden. In
der Gegenwart bedrängen ihn neue Zwänge, die aus den Entwicklungen der rationalen
Zivilisation herrühren.
Das große Thema dieser Generation ist, wie sich mit dieser
Rationalität leben läßt. Gewachsene Strukturen und überlieferte Lebensweisen lösen
sich unter dem Zugriff neuer Erkenntnisse, neuer Techniken und neuer Wirtschafts- und
Sozialformen auf. Eingeübte Weisen der Daseinsbewältigung reichen nicht mehr aus. Und
das Wissen der älteren Generation, aber auch die überlieferten Formen elementarer
Beziehungen werden von der jüngeren nicht mehr ohne Weiteres angenommen.
Ein und derselbe Prozeß macht Erziehung immer nötiger, weil die
Formen des sozialen Lebens die Aufgaben der Sozialisation nicht mehr erfüllen, und lässt
zugleich Erziehung immer schwieriger werden. Denn das Herausführen - éducation -
ist ja zugleich auch immer ein Hineinführen, eine Hilfe beim Finden des eigenen Ortes im
Gefüge der Gesellschaft. Weil Erziehung dem Kind bei seiner Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlichen Anforderungen helfen und zu ihnen auch Brücken schlagen muß, ist sie
mit dem zivilisatorischen Prozeß und seinen Schattenseiten auf vielfältige Weise
verknüpft.
Indem Erziehung sich mit gesellschaftlichen Zwängen zu befassen
und auch mit ihnen zu arrangieren hat, wird sie selbst unmittelbar in diese Zwänge
einbezogen. Sie ist, weil sie - auch - den zivilisatorischen Missständen zuarbeitet, Teil
dieses Systems. Erziehung kann deshalb junge Menschen nicht vor den Problemen einer
unheilen Welt bewahren und darf ihnen auch keine heile Welt vorgaukeln.
Folglich stellt FLITNER die Frage:
Welchen Sinn,
welche Aufgabe kann also Erziehung
in dieser Unsicherheit, in der Krisenhaftigkeit der Gesellschaft,
in der Widersprüchlichkeit der zivilisatorischen Entwicklungen haben?
Er beantwortet sie wie folgt.
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3.0 Kein Zwang - kein
Alleinlassen
Erziehung ist heute auf ihren Kern
zurückverwiesen, auf ihr eigentliches Zentrum. Dieser Kern ist die Bereitschaft
erwachsener Menschen, die auf die Kraft der Liebe vertrauen, dem Kind die grundlegende
Erfahrung des Vertrauens zu ermöglichen. Für diese Erfahrung zitiert FLITNER den großen
Philosophen Martin BUBER:
Weil es diesen Menschen gibt, kann
der Widersinn nicht die wahre Wahrheit sein, so hart er einen bedrängt. Weil es diesen
Menschen gibt, ist gewiß in der Finsternis das Licht, im Schrecken das Heil und in der
Stumpfheit der Mitlebenden die große Liebe verborgen. Weil es diesen Menschen gibt.
Dieser Mensch, der erziehende, er braucht keine der
Vollkommenheiten zu besitzen, die das Kind ihm anträumt. Er kann sich auch nicht in einem
fort mit dem Kind befassen, weder tatsächlich, noch auch in Gedanken, und solls
auch nicht. Aber hat er es wirklich aufgenommen, dann ist jene unterirdische Dialogik,
jene stete potentielle Gegenwärtigkeit des einen für den anderen gestiftet und dauert.
Dann ist Wirklichkeit zwischen beiden, Gegenseitigkeit." (1956, S. 39)
Diese Wirklichkeit, diese Gegenseitigkeit
und die darin enthaltene Freiheit, die der eine dem anderen gibt, sind die Essenz, die
essentials" - der Erziehung. Dem gegenüber verblassen alle Einzelheiten, alle
Fragen einer oft hoch erregten Diskussion.
Vor diesem Hintergrund sieht FLITNER zwei
Formen des Erziehungsversagens in unserer Zeit.
Er findet sie exemplarisch verkörpert im Konrad" aus dem
Struwwelpeter" und in Kaspar Hauser".
- Konrad steht für das
autoritär gedemütigte, misshandelte und bestrafte Kind,
- Kaspar Hauser für das
verlassene Kind, das sich nur noch mit sich selber beschäftigt,
in ständiger Angst, daß seine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt werden.
- Zwang und Überwältigung
ist die eine Form verfehlter oder verzerrter Kommunikation zwischen Erwachsenen und
Kindern.
Die andere besteht in der
- Beziehungslosigkeit, die heute so
oft mit Freiheit verwechselt wird.
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4.0 Folgerungen
FLITNER grenzt Erziehung sowohl gegen die
Schwarze Pädagogik" als auch gegen die Anti-Pädagogik ab. Er macht also
deutlich, was Erziehung nicht sein soll. Dass er sich damit auf eine
Negativdefinition beschränkt, liegt in der Schwierigkeit der Sache. Auch ARISTOTELES
konnte Tugenden und Charaktereigenschaften nur als den Gleichgewichtszustand zwischen
deren fehlerhaften Extremen definieren.
Dennoch kann das nicht genügen. Damit
stellt sich eine Frage. Wenn Zwang und Alleinlassen Zerrbilder von Erziehung
sind -
was kann dann als Urbild
von Erziehung gelten
und Vorbild für Erziehung sein?
Für eine Antwort eignet sich das
Analyseschema, das Friedemann SCHULZ VON THUN empfiehlt. Mit dessen Hilfe können
eindimensionale und dadurch zu bitter-unproduktivem Streit führende Auslegungen von
Begriffen und Eigenschaften vermieden werden. Einzelheiten dazu finden Sie auf der
Webseite Werte, Gegen-Werte,
Un-Werte ".
Der Grundgedanke:
Das übliche Schema des sog. konträren Gegensatzes wie z.B. Schwarz-Weiß"
oder Positiv-Negativ" ist zu eng und löst verhängnisvolle Missverständnisse
aus. Vielmehr gibt es zu jedem Sachverhalt einen positiven Gegenbegriff, zu jedem Wert
einen positiven Gegenwert. Jeder dieser beiden Pole kann durch Einseitigkeit oder
Übersteigerung in eine negative Fehlform übergehen.
Die berühmte Alternative Führen
oder wachsen lassen" erweist sich somit als irrig. Wollte man bei diesen Verben
bleiben, müsste sie vielmehr lauten: Führen und wachsen lassen.
Erziehung besteht mindestens in
zwei einander polar zugeordneten Aufgaben:
- Sie führt den jungen Menschen
prinzipiengeleitet und verantwortlich in seine Lebenswelt ein. Sie gibt ihm dabei alle
Anleitungen und Hilfen, auf die er existentiell angewiesen ist. In ihrem fürsorglichen
Handeln orientiert sie sich stets an dem Lebensinteresse des jungen Menschen und muss
deshalb auch darauf achten, ihn vor Schaden zu bewahren.
- Sie gewährt dem jungen Menschen die
Freiheit, Entscheidungen in eigener Verantwortung zu treffen und deren Konsequenzen auf
sich zu nehmen. Sie respektiert die Tatsache, dass sich auch junge Menschen selbst als
Urheber ihrer Handlungen erleben möchten. Sie handelt nach der Einsicht, dass sich
Charakter nur da entfalten kann, wo er dazu Gelegenheit erhält.
Die Erfüllung dieser Aufgaben ist ein
immer wieder neuer Balanceakt, der jedem Erziehenden Reflexion, Einfühlungsvermögen und
Selbstdisziplin abverlangt. Sigmund FREUD hat ihn wie folgt beschrieben
(Zitatnachweis hier:)
Die
Erziehung muss ihren Weg zu suchen
zwischen der Scylla des Gewährenlassens
und der Charybdis des Versagens."
Er fährt fort:
Wenn diese
Aufgabe nicht überhaupt unlösbar ist,
muss ein Optimum für die Erziehung aufzufinden sein,
wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden kann."
Daraus folgen zwei
Grundhaltungen, zu denen Erziehende fähig sein müssen:
- Sie unterlassen es, ihren Willen im Namen
höherer oder besserer Einsicht rigoros oder verständnislos durchsetzen.
- Sie überlassen junge Menschen nicht sich
selbst, sondern sind dazu bereit, ihnen Ziele zu vorzugeben, Grenzen aufzuzeigen und ggf.
auch Widerstand zu leisten. In dem Bewusstsein ihrer erzieherischen Verantwortung lassen
sie ihr Handeln weder zu Zwang und Überwältigung sich verhärten, noch lassen sie es
sich in Beziehungslosigkeit und Vernachlässigung auflösen.
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5.0 Zusammenfassung
Will man den Wesenskern der
Erziehung auf den Begriff bringen, so lassen sich
essentielle Aufgaben und mögliche Fehlentwicklungen
zusammenfassend wie folgt darstellen.
notwendige
Einflussnahme |
freigebende
Selbstbeschränkung |
dominanter Zwang,
Überwältigung |
desinteressierte
Vernachlässigung |
Was hier nicht sichtbar
wird: Die Grenzen zwischen den Begriffen sind fließend. Sie müssen immer wieder
neu gesucht und neu bestimmt werden. Die vier Begriffe sind am besten als Eckpunkte
eines Spannungsfeldes aufzufassen, wie es SCHULZ VON THUN
vorschlägt. Dazu
finden Sie Vertiefungen auf der Webseite Werte,
Gegen-Werte, Un-Werte".
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6.0 Literaturnachweis
6.1 Textgrundlage
Nr. 1 - 3 dieses Textes beruhen im
Wesentlichen auf dem Schlusskapitel des folgenden Buches:
-
Andreas FLITNER
Konrad, sprach die Frau Mama ..."
Über Erziehung und Nicht-Erziehung.
Berlin 1982, 6. Auflage München 1992
6.2
Zitatnachweis 1
Sigmund FREUD
führt 1932 in seiner Vorlesung Aufklärung, Anwendungen, Orientierung" aus:
Das Kind soll Triebbeherrschung lernen. [...] Die Erziehung muss also hemmen,
verbieten, unterdrücken und hat das zu allen Zeiten reichlich besorgt. Aber aus der
Analyse haben wir erfahren, dass gerade diese Triebunterdrückung die Gefahr der
neurotischen Erkrankung mit sich bringt. Sie erinnern sich, wir haben eingehend
untersucht, auf welchen Wegen das geschieht. Die Erziehung muss also ihren Weg suchen
zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens. Wenn diese
Aufgabe nicht überhaupt unlösbar ist, muss ein Optimum für die Erziehung aufzufinden
sein, wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden kann. Es wird sich darum handeln
zu entscheiden, wieviel man verbieten darf, zu welchen Zeiten und mit welchen
Mitteln."
Quelle:
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,
34. Vorlesung: Aufklärungen, Anwendungen, Orientierung
Gesammelte Werke Band 15, 3. Auflage 1969, S. 160.
6.3
Zitatnachweis 2
- Martin BUBER
Reden über Erziehung
Heidelberg 1956
6.4
Weiterführende Literatur
- Josef DOLCH
Worte der Erziehung in den Sprachen der Welt
in:
Wolfgang BREZINKA (Hrsg.)
Weltweite Erziehung
Freiburg 1961
- Rainer DOLLASE
Grenzen der Erziehung
Anregung zum wirklich Machbaren in der Erziehung
Düsseldorf 1984
- Karl JASPERS
Was ist Erziehung?
Ein Lesebuch
München 1981, dtv1617
- Peter H. LUDWIG
Einwirkung als unverzichtbares Konzept
jeglichen erzieherischen Handelns
Zeitschrift für Pädagogik 46 (2001) Nr. 4, S. 585 - 600
- Alexander MITSCHERLICH
Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft
Ideen zur Sozialpsychologie
München 1976, 11. Auflage
- Jürgen OELKERS
Einführung in die Theorie der Erziehung
Weinheim 2001
- ders.
Überzogene Erwartungen, fragile Praxis
in:
Marianne Horstkemper -
Annette Scheunpflug u.a.
(Hrsg.)
Aufwachsen
Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
Schüler 2004 - Friedrich Jahresheft, S. 121 - 123
- Hans-Joachim ROTH
Von der Zucht zur Erziehung
Neue Sammlung 41 (2001) H. 2, S. 243 - 261
- Jörg RUHLOFF
Das ungelöste Normenproblem der Pädagogik
Eine Einführung
Heidelberg 1980
- Heike SCHMOLL
Verweigerte Erziehung
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 117 vom 21. Mai 2001
- Eduard SPRANGER
Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung
Heidelberg 1962
- Rainer WINKEL
Antinomische Erziehung und kommunikative Didaktik
Studien zu den Widersprüchen und Spannungen in Erziehung und Schule
Düsseldorf 1986
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 03.09.18
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