Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]

Scheinfragen

„Unechte" Frageakte

Im Umgang der Menschen miteinander, vor allem auch im Unterricht, werden oft Fragen gestellt, die keineswegs etwas ermitteln wollen, das der Fragende nicht weiß, sondern in Wirklichkeit eine Aufforderung oder Aussage darstellen. Mit anderen Worten: Syntaktische Struktur und Wortlaut einerseits sowie die eigentliche Sprechabsicht andererseits stimmen nicht überein (für die Einzelheiten wird auf die Webseite „Sprachliche Impulse" verwiesen).

Die folgenden Beispiele für Scheinfragen - „unechte" Fragen - werden vorgestellt.

1. Wie viel ist 3 mal 5 ?
2. Wer geht mal an die Tafel?
3. Bist du verrückt geworden?
4. Wo hast du denn den Unsinn her?
5. Willst du eine hinter die Ohren?

Anregungen

Diese Fragen können unter folgenden Aspekten untersucht werden.

  • Einbettung in eine Situation und deren Voraussetzungen
  • "eigentliche" Kommunikationsabsicht
  • wahrscheinlich eintretende Wirkung

Vorschläge zur Interpretation

Für die Interpretation der Beispiele werden folgende Vorschläge vorgestellt.

1. Wie viel ist 3 mal 5 ?

L kennt die Lösung, S kennt die Lösung nicht.

S weiß, dass L die Lösung kennt, und versteht die Frage als Aufforderung, selbst die Lösung zu ermitteln.

S akzeptiert die Aufforderung und versucht ihr nachzukommen.

2. Wer geht mal an die Tafel?

L stellt die Frage, obwohl gerade kein Schüler den Wunsch bekundet, an die Tafel zu gehen.

S erkennt entweder den Wunsch des L und erklärt sich bereit, zur Tafel zu gehen, oder ignoriert ihn.

L nennt im zweiten Fall einen Namen und macht damit deutlich, dass die Frage eine verhüllte Aufforderung ist.

3. Bist du verrückt geworden?

S hat gegen eine Verhaltensvorschrift oder -erwartung verstoßen, obwohl er weiß, dass er sie beachten sollte.

L hält Kenntnis und Befolgung der Verhaltensvorschrift für so selbstverständlich, dass nur eine geistige Störung die Ursache für deren Missachtung sein kann.

L will Befolgung der Vorschrift ohne ausdrückliche Erörterung durchsetzen.

S empfindet herabsetzende Bewertung seines Verhaltens, will dem ausweichen sowie mögliche Sanktionen vermeiden und befolgt die Vorschrift.

4. Wo hast du denn den Unsinn her?

L will auf einen Beitrag nicht eingehen. Er qualifiziert ihn ab, indem er zu verstehen gibt, der Beitrag könne nicht aus einer seriösen Quelle stammen.

Variante 1:
S nimmt die Auffassung des L zur Kenntnis, dass er Unsinn gesprochen habe, und schweigt. Eine Aussprache über den Beitrag könnte er nur erzwingen, wenn er eine vom L anzuerkennende Quelle angäbe.

Variante 2:
S interpretiert die Meinungsäußerung des L als Frage.
Er nennt eine absolute Autorität und löst eine ernsthafte Fortsetzung des Unterrichtsgespräches aus.
Oder er beruft sich auf eine gemeinsam bekannte Respektsperson und antwortet z.B. „von Herrn Direktor". Auf diese Weise bringt er entweder den Fragenden in Verlegenheit oder gibt den Genannten der Lächerlichkeit preis.

5. Willst du eine hinter die Ohren?

S kann nicht so dumm sein, sich eine Ohrfeige zu wünschen.

L deutet an, dass er das Verhalten des S für sehr dumm und zugleich für einer Ohrfeige wert hält.

S steht vor der Entscheidung, sein Verhalten aufzugeben oder sich eine Ohrfeige einzuhandeln, wenn er es beibehält.

L hat mithin die Aufforderung vermittelt, das Verhalten aufzugeben, und darüber hinaus eine Drohung ausgesprochen.

Ausgearbeitet im Anschluss an:

Wolfgang HERMANN
Die pädagogische Frage - 
ein Beitrag zur Kontrolle unbeabsichtigter Nebenwirkungen der Unterrichtssprache
Unterrichtswissenschaft 1977, S. 237 - 243


Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
-