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Ihr sollt nicht zuviel fragen

Vorbemerkung

Der Verfasser hat in den Bausteinen zum Thema „Lenkung durch Sprache" einige kritische und problematisierende Aussagen über die Frage im Unterricht gemacht. Er kann sich vorstellen, dass er mit ihnen auch Abwehr und Widerspruch auslösen wird, zumal ihn die durch das Medium gebotene Kürze zu plakativer Formulierung zwingt.

Er stellt daher einen - bearbeiteten - Auszug aus der Antrittsvorlesung vor, die Christian R. WEISBACH, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen, gehalten hat (Quelle: DIE ZEIT - Nr. 6 - 30. Januar 1987). Weisbach bezieht sich ebenso wie der Verfasser auf die tiefschürfenden Überlegungen von Aaron R. BODENHEIMER. Seine Ausführungen können Skeptikern die Positionen, die der Verfasser einnimmt, nachvollziehbar machen.

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„Ihr sollt nicht zuviel fragen"

Fragen sind selbstverständlich

Es gibt in der menschlichen Sprache nichts Selbstverständlicheres als das Fragen. Kinder können fragen, ohne sich dabei anstrengen zu müssen, ohne es besonders lernen zu müssen. Fragen ist wichtig, um Willen zu erlangen, Kontakt herzustellen, Interessen an anderen zu zeigen, zu prüfen und zu kontrollieren. Gefragt wird aber auch, um fehlendes Wissen zu verbergen, Kontakt zu vermeiden oder Kontrolle und Prüfungen zu umgehen.

Die Frage ist alltäglicher und selbstverständlicher Sprachgebrauch; sie zeigt sich in den harmlosesten Gewändern. "Man wird doch wohl noch fragen dürfen", oder "Fragen kostet nichts", oder "Wer viel fragt, weiß viel und kriegt viel Antwort".

Fragen sind zweifelhaft

Im folgenden geht es, um das Fragen und seine Wirkungen in Gespräch und Therapie. Vorangestellt sei die These, daß die landläufigen Fragen - meist als Anfragen unkompliziert gestellt - ein zweifelhaftes Mittel gesprächshafter Auseinandersetzung darstellen und im Rahmen von Beratung und Therapie sogar die vielbeschworene "Hilfe zur Selbsthilfe" konterkarieren.

Die Frage wurde bisher in der sozialwissenschaftlichen Forschung wenig beachtet. Literatur und Forschungsrichtungen brachten - abgesehen von Lehrerfragen im Unterricht - spärliche Ergebnisse über den Einfluß der Fragen im Gespräch und in der Therapie. In der Literatur wird die Frage stark unter den Aspekten des "Bedrängens und Beschämens" behandelt. Von Ausnahmen abgesehen, steht allerdings der Drang nach Wissen im Vordergrund, und die Wirkung auf den Befragten wird vernachlässigt. Der Mensch als animal quaerens cur, als Warum-fragendes-Wesen, bringt nicht nur oft den Befragten in Bedrängnis, seine Fragen können auch beschämen. Andererseits sagt das Sprichwort: "Wer sich des Fragens schämt, schämt sich des Lernens."

Fragen haben viele Gestalten

Ist eine Frage eine Frage - ist eine Frage. Denn Fragen haben vielerlei Gestalten. Am einfachsten und sichersten zu erkennen sind sie durch ein Fragewort oder die Satzstellung. Aus Höflichkeitsgründen wird oft die imperative Form der Aufforderung in eine Frage gekleidet:" Könnten Sie mir bitte Feuer geben?" Auch der Aussagesatz kann die Funktion einer Frage übernehmen: "Er kommt wirklich" und "Er kommt wirklich?" Le ton fait la musique - der Tonfall, die Melodie bestimmt den Sinn des Satzes. Der Ton der Stimme hebt sich am Ende zum sogenannten Steigton - und macht den Satz als Frage kenntlich.

Die Hebung bringt zum Ausdruck, daß der Sprecher eine Fortsetzung erwartet, die Antwort. Der Anstieg erzeugt Spannung im Gefragten und Fragenden. Solange eine Antwort ausbleibt, bleibt die erzeugte Spannung erhalten. Dieses Prinzip findet sich in ausgeprägter Form in der Musik wieder. Durch Tonanstieg in der melodischen Gestaltung wird im Hörer Spannung erzeugt, die erst durch den Nachsatz, die erwartete Tonsenkung, als Antwort gelöst wird.

Der Steigton entfällt allerdings bei Fragen mit vurgegebenen Alternativen. Hamlet spricht "To be or not to be", und damit der Hörer merkt, daß hier etwas in Frage steht, läßt Shakespeare gleich anfügen: "That is the question". Diese Form der Frage löst keine Spannung im Gefragten auf. In der deutschen Sprache kann auch bei den durch Fragewort eingeleiteten Ergänzungsfragen der Steigton entfallen: "Wie spät ist es?"

Fragen "stellen in Frage"

Zu dem Druck, den ein fragender Steigton erzeugt, sagte Theodor Imme anno 1879, daß er "nicht eher weicht, als bis die Antwort da ist". Sich der Antwort stellen, heißt eigene Informationen weitergeben. Aber auch "Schweigen ist beredt". Fragen hingegen gibt nichts preis. Und "wer fragt, lügt nicht". Fragen eignet sich in besonderer Weise dazu, eine Stellungnahme zu vermeiden und gleichzeitig den anderen "in Frage zu stellen". Das gilt für den Schüler, der fragt, um sein Nichtwissen vor dem Lehrer zu verbergen. Und für den Politiker, der ausweicht oder fragt, etwa um Heikles zu sagen, ohne juristisch eine Aussage zu machen.

Fragen als Gegenstand der Forschung

Bisher existieren nur wenige empirische Untersuchungen des Frageverhaltens und der Fragewirkung in Gespräch und Therapie. Zu einem überraschenden Ergebnis führte eine Untersuchung der Gespräche angehender Ehe-, Familien- und Lebensberater auf Fragen hin. Eine Studie des Zentrums für neue Lernverfahren in Tübingen am Institut für Erziehungswissenschaft II ergab im Schnitt 15 Fragen pro fünfzehnminütigem Beratungsgespräch.

Dabei fielen 82 Prozent dieser Fragen in die Kategorie der engen Fragen, das heißt Wort- oder Satzfragen, die der Wissensvermehrung des Beraters dienen. Nach vierzehntägiger Ausbildung jedoch reduzierte sich die Fragehäufigkeit der 305 untersuchten Berater dramatisch: Sie sank von 15 auf durchschnittlich 2,3 Fragen pro viertelstündigem Gespräch. Von Interesse ist nun, wie die ratsuchenden Klienten die Fragen der Berater einschätzen; sie differenzierten nämlich sehr wohl.

In einer Pilotstudie bat Thomas Helle 72 Klienten nach einem Beratungsgespräch einzuschätzen, mit welcher Häufigkeit ihr Berater bestimmte Fragetypen verwendet und wie diese Fragen auf sie gewirkt hatten. Die Ratsuchenden zeigten dabei eine deutliche Abneigung gegen Suggestiv- und Ja-Nein-Fragen. Fragen dagegen, die dem Klienten zwei alternative Antwortmöglichkeiten ließen, wurden eher positiv bewertet, als angenehm gar galten Fragen nach Fakten.

Ein bedrängender Fragestil gilt als etwas ganz Normales, dem Fragen wird nicht nur im Beratungsgespräch Anteilnahme unterstellt. Daß Fragen im Gespräch auch etwas Bedrängendes haben, bemerkten die Berater in der Regel erst im Lauf ihrer Ausbildung, wenn die Wirkung des Nicht- oder Weniger-Fragens am eigenen Gespräch deutlich wurde. Zusammenfassend läßt sich zunächst sagen, daß die Mehrzahl der Untersuchungen gegen die gehäufte Verwendung von Fragen in der Therapie spricht, daß allerdings auch nach der Art der Frage differenziert werden sollte.

Fragen sind Mittel von Herrschaft

Ein weiterer Aspekt des Fragens enthüllt sich bei näherer Betrachtung der universitären und schulischen Verhältnisse. Hier zwingen vorgegebene Fragen mit ebenso vorgegebenen Antworten den Prüfling, sich in Frage stellen zu lassen. Aron Ronald Bodenheimer (Die Obszönität des Fragens, 1984) meint zu diesem Thema, daß nicht nur in Prüfungen, sondern allgemein das Fragen aus dem Fragenden einen Herrn und aus dem Befragten einen Knecht mache. Vermittels des Fragens entsteht jenes Phänomen, das mit und seit Hegel Selbstentfremdung heißt.

Fragen sind aggressiv

Auch in der frühen Geschichte der Menschheit lassen sich Beispiele dafür finden, daß Aggressivität in den Fragen mitschwingt, etwa in den Klagen des Volkes Israel. Da heißt es in den Psalmen "Wie lange verbirgst Dein Angesicht vor mir?" (13/2) und "Warum schläfst Du? (44/24) oder "Wie lange soll ich schreien, und Du willst nicht hören? (Habakuk 112).

Eine sehr pointierte Form fragender Aggressivität findet sich m deutschen Wörterbuch, das einen Frag-Herrn aufführt, der den Knechten an der "Frag-Statt" nach getaner Arbeit ihren "Frag-Lohn" auszahlte. Oder neudeutsch: Nach vollzogener Folter erhielten die Folterknechte vom Inquisitor ihren Lohn.

Im Lateinischen steht ad-rogare für "noch einmal fragen" oder "etwas Fremdes für sich beanspruchen". Die Partizipialform erhielt später die Bedeutung von anmaßend. Doch wer denkt heute bei der Verwendung des Wortes Arroganz an das Fragen und seine latente Aggressivität.

Harmlose Fragen sind keineswegs harmlos

Während die bedrängende und beschämende Wirkung von indiskreten, zudringlichen und besitzergreifenden Fragen rasch deutlich wird, haben es oft auch die kleinen Fragen, Informationsfragen etwa, bei näherer Betrachtung in sich. Wo warst du? Was machst du? Wohin gehst du? Wem gehört das? Solche Frage lassen keine Stellungnahme des Sprechers erkennen, sie schieben den Schwarzen Peter dem Befragten zu. Sie wirken um so bedrängender, je weniger der Befragte geneigt ist, zu antworten.

Zu der Liebst-du-mich-Frage schreibt A. Bodenheimer: "Wenn ich dich liebe, fragst du mich nicht: 'Liebst du mich?' Wenn du fragst, hast du Zweifel - aber Angst, den Zweifel laut werden zu lassen. In der Äußerung von Zweifel bekundest du, daß Zweifel möglich oder am Platz sind; vermittels der Frage jedoch machst du mich zum Gegenstand deines Zweifels, ohne daß du das sagst. Dich ziehst du heraus aus der Frage und läßt offen, ob du selbst liebst; ... durch deine Frage verschweigst du das Wesentliche: ob du liebst und wen."

Das Fragen steht also gegen das Sagen. Letzteres kostet vielfach Überwindung, denn es bedeutet, sich vorzuwagen. Es geht mit Ungewißheit einher, nämlich mit dem Risiko, zurückgewiesen zu werden.

Dem steht die tradierte Meinung gegenüber, wie sie schon Otto Liebmann vor hundert Jahren äußerte, wonach wir den Menschen für um so intelligenter halten, je schneller, beharrlicher und unermüdlicher er fragt.

Viele Ideenorientierte fragen solange, bis sie die Wirklichkeit dorthin gefragt haben, wohin sie sie haben wollen. Ideenorientierte kleben nur zu leicht an ihrer Vorstellung und fragen so, daß die Antworten die Idee wiedergeben, und sei es durch Inquisition. Wobei bisweilen zu befürchten ist, daß die Produktivität des Fragens mit Kreativität verwechselt wird.

Fragen in der Didaktik

Fragen ist wichtiges pädagogisches Mittel der Schule. Legionen von gelehrten Schulräten und Lehrern haben sich die Köpfe darüber zerbrochen und Berge von Büchern zum Thema geschrieben, wie eine Frage optimal formuliert sein muß. Regt sie doch - alte Weisheit - den Schüler zum Denken an, muntert ihn zur Selbsttätigkeit auf und fördert das Sprechen. Bei all dieser Weisheit wurde jedoch nicht bedacht, wie sehr die Fragform den Weg und das Ziel vorgeben kann. Das Denken des Befragten muß sich oft zwangsläufig am Frager orientieren, es führt somit häufig vom eigenen Denken weg.

Selbst die geschätzte Form des sokratischen Fragens entwickelte Sokrates durch seinen Sklaven, der antworten mußte, wohl wissend, was der Herr erfahren wollte, dessen Fragen ihm keinen Spielraum ließen.

Fragen lösen Widerstand aus

Die Wirkung der Fragen läßt sich mit der Theorie der Reaktanz, wie Jack Brehm sie formuliert hat, weiter erhellen. Wird der Entscheidungsspielraum von Menschen eingeengt oder bedroht, reagieren sie mit Reaktanz oder - synonym - mit Widerstand. Wird also die Freiheit des Menschen bedroht, wählt er in aller Regel, was ihm verwehrt werden sollte. Oder findet genau die Alternative, die ihm ausgeredet werden soll, attraktiv und reizvoll.

Mit Fragen in einer Therapie wird der Klient - und in einer Ausbildungssituation der Beratene - gezwungen, das fehlende Wissen des Therapeuten bzw. des Ausbilders zu ergänzen. Durch eben diese Fragen tritt leicht der Effekt ein, daß der Therapeut die gedanklichen Möglichkeiten des Klienten einschränkt, sich nur einer Seite zuwendet. Trotz der Bemühung, das dem Klienten Nützliche zu fördern, erlebt es dieser oft als bedrohlich. Wird ihm doch dadurch der Weg abgeschnitten zu einem Bereich, den er zwar als problematisch empfindet, der aber auch einen wichtigen Bereich seiner Persönlichkeit darstellt. Entsprechend wird der Klient in der Therapie Fragen bewußt nicht beantworten, um so seinen Widerstand zu zeigen. Er schneidet andere Themenbereiche an oder wendet sich bewußt vom Therapeuten vernachlässigten Problembereichen zu.

Die Stärke des Widerstandes hängt direkt davon ab, wie wichtig der als bedroht erlebte Bereich des Klienten ist. Ein körperlich leidender Patient setzt sich - meist - vertrauensvoll den anamnestischen Fragen des Doktors aus, hat er doch die Entscheidung getroffen, daß der Arzt durch Anamnese und Diagnose zur optimalen Therapie finden soll. Eine derartige Einstellung für die Psychotherapie anzunehmen wäre falsch. Im Falle psychischer Probleme, zwischenmenschlicher Konflikte, aber auch bei Sachentscheidungen, reagiert der Ratsuchende äußert sensibel auf eventuelle Einschränkungen seines Handlungsspielraumes.

Die Wirkung von Fragen in Gespräch und Therapie, insbesondere ihre beschämenden und bedrängenden Aspekte, müssen noch genauer untersucht werden, vor allem die therapeutischen Fragen, die zur Widerstandsbildung beim Klienten führen und ihm dadurch die Möglichen erschweren, sich zu helfen. In diesem Sinne gilt die Warnung des Oheims Gurnemanz an Parzifal: "Ihr sollt nicht zu viele Fragen stellen."

Fazit

Mehr sagen statt fragen - mein Plädoyer für das Sagen zielt nicht auf strikte Fragevermeidung in Gespräch und Therapie. Vielmehr sollten wir uns vor Ohren halten, ob nicht häufig ein Sagen oder Schweigen besser an die Stelle des fragenden Bedrängens und Beschämens treten möge.


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Dieser Text wurde bearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 17.07.09
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