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Gedächtnisschulung

Prinzipien und Möglichkeiten

Übersicht
1.0 Bessere Gedächtnisleistung durch bewusste Denkarbeit
2.0 »Gedächtnisorte« – ein Klassiker der Merktechnik
      2.1 Die Stereotypenreihe
      2.2 Die Routenmethode
3.0 Zur Entstehungsgeschichte der »Gedächtnisorte«
4.0 Literaturgrundlage
5.0 Anhang
      Zitat Michael ALTHEN
      PLATON zur Erfindung der Schrift

1.0 Bessere Gedächtnisleistung durch bewusste Denkarbeit

Es gibt kein schlechtes Gedächtnis,
nur ein schlecht genutztes.

Kann diese Aussage in einer Zeit aktuell sein, der dank der elektronischen Speichermedien komfortable und zuverlässige Hilfen zur Verfügung stehen, die den Kopf entlasten und für Wichtigeres frei machen? Sind Sie sich sicher? Oder zögern Sie  mit einer Antwort? Vielleicht macht sie ein kleiner Text nachdenklich, den Sie hier nachlesen können.

Die Leistung des Gedächtnisses hängt in beachtlichem Grade von der Bewusstheit und Qualität der Denkarbeit ab. Bewusstes und systematisches Denken ist also eine wichtige Voraussetzung für bessere Gedächtnisleistungen. 

Folgende Grundsätze können die Denkarbeit im Hinblick auf bessere Gedächtnisleistungen strukturieren helfen:

  • Genauer hinsehen, hinhören, abtasten, mithin: beobachten.

  • Ein starkes Interesse aufbauen, vor allem dann, wenn der Merkstoff zunächst uninteressant erscheint.

  • Den aufzunehmenden Stoff in eine bewusste Beziehung zum bereits vorhandenen Wissen setzen.

  • Den neuen Merkstoff systematisch wiederholen und dabei den Wert der einzuprägenden Informationen beachten.

  • Bewusst Gedankenverbindungen herstellen und dabei möglichst bildhafte Vorstellungen verwenden.

Diese Grundsätze lassen sich zu dem einprägsamen Dreischritt W-A-V zusammenfassen:

  • Wahrnehmung verfeinern

  • Assoziationen bilden
        Analogien bzw. Differenzen suchen und verknüpfen

  • Visualisieren
        Bilder wiedererstehen lassen bzw. neue Bilder erstehen lassen

Der letzte Grundsatz ist besonders wichtig und effektiv – das Visualisieren von Gegenständen, aber auch von Begriffen zu üben. Der nächste Schritt besteht darin, sich zwei Begriffe in einer prägnanten Situation vorzustellen. Je origineller die Bildideen sind, die dabei verwendet werden, desto größer der Erfolg. Eine detaillierte Anleitung finden Sie u.a. bei Christiane Stenger, 2004, S. 56 ff.

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2.0 Gedächtnisorte – ein Klassiker der Merktechnik

Bessere Gedächtnisleistungen lassen sich durch systematische Merktechnik erzielen. Ein plastisches Beispiel ist die sog. „Eselsbrücke". Gedächtnisleistungen, in denen eine Person gut ist (z.B. räumliche Orientierung, bildliche Vorstellungskraft), werden mit solchen verknüpft, in denen diese Person weniger leistungsfähig ist (z.B. Zahlengedächtnis).

Schon in der Antike gab es eine nach diesem Grundgedanken funktionierende Methode, die den Rednern zu bemerkenswerten Gedächtnisleistungen verhalf – die sog. »Festen Plätze« oder »Gedächtnisorte« (Zur Geschichte s.u. unter Nr. 3).

Daraus ist die sog. Stereotypenreihe hervorgegangen. Der zu merkende Wissensstoff wird mit bildhaft vorgestellten Plätzen, z.B. in einer Wohnung, verknüpft. Diese Plätze müssen in einer strikt einzuhaltenden Reihenfolge vorab eingeprägt werden. Die Verbindung zwischen den Merkorten und dem Lernstoff wird hergestellt, indem man in der Phantasie von einem Platz zum anderen geht und dort den Stoff Punkt für Punkt gleichsam ablegt. In derselben Reihenfolge werden die Lerngegenstände vor dem geistigen Auge sichtbar und können abgerufen werden.

Den gleichen Zweck erfüllt in verbesserter Form eine bildhaft aufgebaute Reihe von Hilfswörtern – Stereotypenreihe –, die am besten selbst mnemotechnisch angelegt wird; dabei genügen im allgemeinen zwanzig Plätze. Sie wird zunächst dargestellt.

Mithin werden die Grenzen des Arbeitsgedächtnisses überwunden, indem der Lernstoff mit verläßlichen Komponenten des Langzeitgedächtnisses verknüpft und dafür das bildhafte Vorstellungsvermögen genutzt wird.

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2.1 Die Stereotypenreihe

Hier wird im Anschluß an Wolfgang ZIELKE (1980, S. 314 ff.) ein bewährtes Beispiel vorgestellt, das das Prinzip deutlich macht und nach Bedarf individuell abgewandelt werden kann. Da die Merkbegriffe an die Zahlen 1 bis 20 anschließen, ist es besonders leicht, sich die Stereotypenreihe einzuprägen.

1 Einbaum (Boot) 11 Elfmeter
2 Zweirad 12 Dutzendware
3 Dreispitz 13 Es schlägt 13
4 Viertaktmotor 14 Vierzehnheiligen
5 Fünfeck 15 Mandel Eier (d.h. 15 Stück)
6 Sechs-Tage-Rennen 16 Junges Mädchen (eine Sechzehnjährige)
7 Siebenschläfer 17 Glücksspiel (17 + 4)
8 Achterbahn 18 Volljähriger
9 Neunauge 19 Kegel- und Bowlingbahn (9 + 10)
10 Zehnkämpfer 20 Zwei Enten; eine hat Kopf unter den Federn

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2.2 Die Routenmethode

Die Routenmethode ist anspruchsvoller, doch wer das Visualisieren und Verknüpfen von Begriffen geübt hat, dem steht ein sehr variables und leistungsfähiges Verfahren zur Verfügung, weil sich damit auch beliebig viele Begriffe in der richtigen Reihenfolge merken lassen.

Hinweise zum Verfahren:

  • Machen Sie einen kleinen Gang durch Ihre Wohnung

  • Legen Sie (zunächst einige, später mehr) Punkte fest, die Ihnen eine Hilfe sein könnten.

  • Ordnen Sie jetzt jedem Platz der Route einen Gegenstand der einzuprägenden Liste zu, indem Sie ihn sich in einer originellen bildhaft vorstellen.

Eine ausführliche Darstellung des Verfahrens finden Sie bei Christiane Stenger, 2004, S. 93 ff.

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3.0 Zur Entstehungsgeschichte der »Lernorte«

In der Literatur finden sich zahlreiche Varianten dieser Technik. 

Ihre geistigen Wurzeln hat sie in der Antike. Die gesellschaftliche Bedeutung eines zuverlässigen Erinnerungsvermögens lässt sich in unserer Zeit nur schwer ermessen, weil wir uns ein Leben ohne Buchdruck und umfangreiche schriftliche Unterlagen kaum vorstellen können. Allein schon die Erfindung der Schrift selbst konnte jedoch damals als Gefährdung der - als lebenswichtig empfundenen - Gedächtniskraft angesehen werden, wie eine von PLATON in seinem Dialog Phaidros (274 c - 275 d) erzählte Sage und deren Interpretation zeigen.

Die wissenschaftliche Grundlage der Mnemotechnik geht auf Aristoteles zurück. In seiner erkenntnistheoretischen Abhandlung „Über die Seele" schreibt er (432 a 17):

„Die Seele denkt niemals ohne ein Vorstellungsbild."

In seiner Abhandlung „Über Gedächtnis und Erinnerung" bezieht er sich auf diese Aussage. Dort formuliert er (449 b 31, 450 a 12 sowie 450 a 24)):

„Denken können wir nur in und mit Bildern."

„Alle vorstellbaren, imaginierbaren Dinge sind wesentlich Dinge des Gedächtnisses."

Aristoteles kannte Gedächtnistechniken, wie folgende Zitate zeigen (Topica 163 b 24  ff. sowie  Über die Seele 427 b 18):

„Bei einem Menschen mit geschultem Gedächtnis 
wird das Erinnern der Dinge selbst durch die Erwähnung ihrer Orte (Topoi) ausgelöst."

„Man kann sich Dinge vor Augen führen, 
wie es die tun, 
die Gedächtnistechnik erfinden und Bilder herstellen."

Der (namentlich nicht bekannte) Autor an Herennius ist die einzige ausführliche und damit wichtigste Quelle der Mnemotechnik. Er beschreibt die Methode in dem Abschnitt über das Gedächtnis (III, xvi, 28  -  xxiv ). Alle späteren Autoren beziehen sich hierauf. Die zentrale Grunddefinition, durch die Jahrhunderte immer wieder zitiert, lautet (a.a.O., S. 29):

„Das geschulte Gedächtnis beruht auf Orten und Bildern."

Cicero schreibt die Erfindung der Gedächtnistechnik in seinem Werk „Über den Redner" 2, 86, 351 ff. dem griechischen Lyriker Simonides (557/56 – 468/67 v.Chr.) zu. Ihm folgt Quintilian in seinem Werk „Über die Ausbildung des Redners" XI, 2, 11 – 22. Er berichtet dort die dramatische Entstehungsgeschichte der Methode und beschreibt sie im Einzelnen. Als deren bizarre Vervollkommnung erwähnt er das System eines Metrodorus, der in den zwölf Sternbildern des Tierkreises 360 Gedächtnisorte gefunden haben soll.

Zur wissenschaftlichen Einordnung der Methode gibt Ulric NEISSER (1996, S. 109 f.) einige höchst bemerkenswerte Hinweise, die deren stammesgeschichtliche Wurzeln freilegen. Alle Lebewesen sind darauf angewiesen, sich in ihrem Lebensraum zuverlässig orientieren zu können. Dazu dient ihnen eine »kognitive Landkarte«. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, muss sie stabil sein, zugleich jedoch leicht verändert werden können. Das, so NEISSER (S. 110): "macht sie für Gedächtnisaufgaben geeignet." 

Ferner wird auf Hans-Joachim Markowitsch, 2002, S. 30 ff., sowie auf Mary J. Carruthers (1990) und Uwe FleCKner (1995) verwiesen. Ihre zentrale Bedeutung im Werk des Dichters James Joyce und deren geistesgeschichtlichen Hintergrund entfaltet Klaus Reichert (1991).

Die geistesgeschichtlichen Fundamente behandeln Frances A. Yates (1990), Mary J. Carruthers (1990) und Barbara KUHN (1993). Friedhelm L. Müller (1996) untersucht den Autor an Herennius tiefschürfend und berücksichtigt dabei aktuelle Einsichten der Lernpsychologie. Mit den Metaphern für das Gedächtnis setzt sich Douwe DRAAISMA (1999) tiefschürfend auseinander.

4.0 Literaturgrundlage

  • Die Literaturnachweise für diese Webseite
    sowie die weiteren Webseiten dieses thematischen Bereiches finden Sie hier.

  • Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis
    für die Themengruppe »Lernen – Voraussetzungen, Möglichkeiten, Probleme«
    finden Sie hier.

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5.0 Anhang

Michael Althen schreibt (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 264 vom 1. November 2004):

"Womöglich hat das Gefühl, nichts mehr im Kopf behalten zu können, doch vor allem damit zu tun, daß das Erinnern in ungeahnten Ausmaßen den elektronischen Speichermedien überlassen wird. Vielleicht ist die ganze Vergeßlichkeit Ausdruck einer um sich greifenden Paranoia, irgendwann könnten die ganzen Festplatten abstürzen und alle Erinnerung wäre verloren. Wer das nicht glaubt, muß nur mal überlegen, wie viele Telefonnummern seit Einführung der Nummernspeicher auf Handys überhaupt noch gemerkt werden. Der Mensch ist dabei, das Erinnern immer weiter auszulagern, es in Dateien abzulegen und es damit den elektronischen Speichermedien zu überantworten. [...]"

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PLATONs Bericht - er wird von SOKRATES in einem Gespräch vorgetragen - lautet wie folgt:

»Gehört also habe ich, in der Gegend von Naukratis in Ägypten habe es einen der alten Götter des Landes gegeben, der, dem auch der Vogel heilig ist, den sie Ibis nennen; und der Gott selbst heiße Theuth. Der also habe Zahl und Rechnen entdeckt und Geometrie und Astronomie, ferner Brett- und Würfelspiele, und so denn auch die Buchstaben.
     König nun von ganz Ägypten war damals Thamus in der großen Stadt von Oberägypten, die die Griechen das ägyptische Theben nennen; und Thamus nennen sie Ammon. Zu ihm also kam Theuth, führte ihm seine Künste vor und meinte, sie müßten unter den Ägyptern verbreitet werden. Thamus aber fragte nach dem Nutzen einer jeden, und als Theuth ihn erläuterte, kritisierte und lobte er, was immer von diesen Erläuterungen ihm gut oder nicht gut zu sein schien.
     Da nun soll Thamus zu Theuth für jede einzelne Kunst vieles zum Lob und zum Tadel gesagt haben, was durchzugehen zu lang würde. Als er aber bei den Buchstaben war, sagte Theuth: „Dies ist, mein König, ein Lehrgegenstand, der die Ägypter klüger machen und ihr Gedächtnis verbessern wird. Denn meine Erfindung ist ein Mittel für Gedächtnis und Wissen."
     Doch der König antwortete: „Theuth, du Meister der Künste: einer hat die Fähigkeit, die Produkte der Kunst herzustellen, ein anderer aber kann beurteilen, in welchem Maße sie Schaden bringen und Nutzen für die, die damit umgehen sollen. Und jetzt hast du, weil du der Vater bist der Buchstaben, aus Zuneigung das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergeßlichkeit bewirken aus mangelnder Sorgfalt, denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. 
     Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis, sondern eines für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen. Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne mündliche Unterweisung, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen, wo sie doch gewöhnlich nichts verstehen, und der Umgang mit ihnen ist schwierig, da sie überzeugt sind, klug zu sein, es aber nicht sind." [...]

Also, wer glaubt, eine Fertigkeit mittels Buchstaben zu hinterlassen, und wer andererseits als Empfänger meint, aus Buchstaben gehe etwas Deutliches und Sicheres hervor, der dürfte höchst einfältig sein und wirklich die Voraussage Ammons nicht kennen, wenn er meint, geschriebene Worte seien mehr als eine Erinnerung für den, der das, wovon der Text handelt, weiß.«

Motivgeschichtlich nicht ohne Reiz ist Caius Julius CAESARs Bericht  zur Ausbildung der gallischen Priester, der Druiden. Sie müssen alle für den Kult wichtigen Texte auswendig lernen. Schriftliche Aufzeichnungen zu benutzen ist ihnen strikt verboten. (Über den gallischen Krieg 6, 14, 3)

Mit der Ambivalenz von Erinnern oder Vergessen als wichtigem Aspekt und zugleich zentralem Problem der zeitgenössischen Kultur setzt sich auseinander

  • Manfred OSTEN
    Das geraubte Gedächtnis
    Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur
    Frankfurt am Main 2004

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -       letzte Änderung am: 15.01.08
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