Werte für ein demokratisches Bildungswesen Übersicht 1.0 Das Problemfeld »Werte«
sind seit längerer Zeit ein zentrales Thema gesellschafts- und/oder
bildungspolitischer Diskussionen, vor allem aber Gegenstand entsprechender
Forderungen, die sich insbesondere an die Schulen richten. Vertiefungen zum
Begriff »Werte« finden
sie auf den Webeseiten Die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern hat die ohnehin bestehenden Auffassungsunterschiede verschärft und inzwischen vielfach zum offenen Konflikt mit den Wertvorstellungen der einheimischen Bürger geführt. Strittig ist insgesamt nicht nur die Definition der Werte im Einzelnen, sondern vor allem auch ihre Herkunft, Ableitung, Begründung und Verankerung. Eine pädagogische Antwort auf die dargestellte Situation ist unabweislich. In Berlin hat die seit kurzem beabsichtigte Einführung des für alle Schüler verbindlichen „Werte-Unterrichts“ zu einer heftigen Kontroverse geführt. Wie sie zeigt, werden insbesondere zwei Fragen unterschiedlich beantwortet:
Die zweite Frage ist deswegen noch schwieriger zu beantworten, weil nicht nur die beiden großen christlichen Kirchen das Recht auf Erteilung von Religionsunterricht geltend machen, sondern inzwischen auch areligiös-freidenkerische Vereinigungen einerseits und islamische Institutionen andererseits. Dieser Text wird nicht in der Absicht verfasst, zu diesen und den anschließenden Fragen einen Diskussionsbeitrag zu leisten. Er trägt lediglich Überlegungen vor, die den skizzierten Konflikt in der Weise aufheben können, dass sie ihn auf eine höhere Ebene heben. Der Konflikt bestünde zwar weiterhin, doch könnte dann mit ihm pragmatisch und konstruktiv umgegangen werden. Gerade in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft sollte es Wertvorstellungen geben, die nicht nur – unbeschadet eigener Positionen – allgemein anerkannt werden, sondern auch im Bildungswesen zur Geltung kommen können. Der folgende Text beruht auf dem Aufsatz von Otfried HÖFFE, Ordinarius für Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 195 vom 23. August 2004). 2.0 Sieben »Gipfel« – ein geistesgeschichtlicher Rückblick Otfried HÖFFE verzichtet absichtlich und ausdrücklich darauf, normativ-deduktiv vorzugehen. Statt dessen will er induktiv und interkulturell beginnen und im Durchwandern verschiedener Epochen und Kulturen bei „sieben Gipfeln“ haltmachen. Auf der Grundlage dieses geistesgeschichtlichen Rückblicks entwickelt er „fünf Dimensionen von Werten“, auf die das Bildungswesen verpflichtet ist. Welche Werte halten eine Gesellschaft zusammen? Diese Frage beschäftigt die Menschen seit ihrer Frühzeit. HÖFFE sieht unter den vielfältigen Antworten sieben markante „Gipfel“. 2.1 Der Mythos Der Mythos deutet die Lebensfragen des Menschen in Gestalten und Bildern. Das überragende Gewicht der entscheidenden Werte wird sinnfällig, indem man sie sich als Götter vorstellt. Der sachliche Kern dieses vorphilosophischen Denkens überzeugt bis heute: Grundwerte haben eine überpositive, der Willkür der Menschen entzogene Gültigkeit. Zu ihnen gehören schon hier die Rechtsordnung in der Gesellschaft sowie Rechtssinn und Kooperationsbereitschaft der Menschen. Verkörpert werden sie von den drei Töchtern des Zeus (Macht) und der Themis (Sitte und Ordnung):
2.2 Die »Goldene Regel« In Indien, China, Ägypten und Alt-Israel wird – in unterschiedlichen Formulierungen – der Grundsatz der Wechselseitigkeit gefunden, die Goldene Regel. Sie lautet ausführlich: „Ob
Mann oder Frau, arm oder reich, mächtig oder schwach – JESUS von Nazareth hat die Goldene Regel in seine Bergpredigt" aufgenommen (Evangelium nach Matthäus 7, 12): Alles nun, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch." Noch ein weiterer Wert, sogar Komplex von Werten, findet sich in den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen:
2.3 Aristoteles Aristoteles versteht das Recht als die „Ordnung des Gemeinwesens“ und bestätigt damit dessen herausragendes Gewicht. Trotzdem spricht er einem anderen Wert eine größere Bedeutung zu, der Freundschaft (philia). Wichtiger noch als die Rechtsordnung ist, daß man einander nicht fremd, sondern freund ist. Nur dann können Streit und Gewalt gebannt werden – die größte Bedrohung eines Gemeinwesens. 2.4 Thomas HOBBES Der große politische Philosoph der Neuzeit, Thomas Hobbes, benennt zunächst die Faktoren, die genau dieses, den Krieg, hervorbringen:
Der dreidimensionalen Konfliktnatur stellt er jedoch eine ebenfalls dreidimensionale Friedensnatur entgegen:
Nur zur Sicherung des überragenden Wertes, des Friedens, führt Hobbes das Recht und die zu Zwang befugte Staatsmacht – i.S. eines staatlichen Gewaltmonopols – ein. 2.5 Immanuel KANT HÖFFE bezeichnet KANT als den Höhe- und zugleich Wendepunkt der europäischen Aufklärung. KANT beschreibt drei Kernelemente moderner Gemeinwesen:
Die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält, behält ihr Recht; sie tritt aber hinter der anderen Frage zurück, wie die Gesellschaft den Wert jedes einzelnen schützt. Die drei Werte gelten nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch zwischen ihnen. Damit wird KANT zum überragenden Denker einer globalen Rechts- und Friedensordnung. Im Prinzip der allgemeinverträglichen Freiheit faßt KANT seine Überlegungen zum Recht zusammen (1983, S. 337):
2.6 Émile DURKHEIM Das Thema, das der Rechtsethiker Kant zurückstuft, greift hundert Jahre später der Gesellschaftstheoretiker Émile DURKHEIM auf. Er konstatiert zweierlei: Auf der sozialen Seite erklärt er die Solidarität zu dem Wert, der über den Zusammenhalt einer Gesellschaft entscheidet. Auf der persönlichen Seite stellt er dagegen eine zunehmende Individualisierung fest. Sie untergräbt aber im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Pessimismus keineswegs jede Bindung, denn zusammen mit ihr geht eine Teilung der gesellschaftlichen Arbeit einher. Diese verbindet eine immer dichtere Kooperation und funktionale Abhängigkeit mit dem Bewusstsein, dass die Einmaligkeit der Individualität nicht aufgegeben werden kann. Dabei wandelt sich die „organische Solidarität“ der einfachen Gesellschaften zu einer „mechanischen Solidarität“. Sie wiederum entspricht dem Recht und der (Straf-)Gerechtigkeit. 2.7 John RAWLS – der Kommunitarismus John RAWLS erklärt die Gerechtigkeit zur ersten Tugend einer Gesellschaft. Die Stabilität einer wohlgeordneten Gesellschaft vertraut er dem Gerechtigkeitssinn an. Der Kommunitarismus betont dagegen den Wert kultureller Besonderheiten. Ohne sie und ein Wir-Gefühl vermag keine Gesellschaft die für den Zusammenhalt notwendigen moralischen Ressourcen zu erneuern. Deshalb sind überschaubare, auf gemeinsame Werte verpflichtete Einheiten erforderlich. 3.0 Fünf Dimensionen von Werten Dieser geistesgeschichtliche Rückblick mündet schlüssig darin ein, für unsere Gesellschaftsform fünf Wertedimensionen zu beschreiben. Weil es auf die Bildung ankommt, ist vor allem auf die personale Seite zu achten, dabei auf ihre grundlegende Schicht, die Grundwerte. Aus ihnen lassen sich mittlere Werte gewinnen, die von den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen, außerdem auch von wechselnden Bedürfnissen und Interessen abhängen. Sie fallen daher verschieden aus, ohne deswegen gegen gemeinsame Grundwerte zu sprechen. 3.1 Ökonomie Auch in liberalen Demokratien wollen die Menschen zunächst überleben. Die dafür erforderlichen Güter und Dienstleistungen müssen erarbeitet werden. Die entsprechende Wirtschafts- und Arbeitswelt begründet daher die erste, ökonomische Dimension von Werten. Hierhin gehören Arbeitswille und Leistungsbereitschaft, vorab auch die Bereitschaft, eine Berufskompetenz sowohl zu erwerben als auch fortzubilden. In der arbeitsteiligen, spezialisierten Welt sind zusätzlich Kooperationsfähigkeit, Sensibilität und Kreativität erforderlich. Die ökonomische Dimension enthält zwei Elemente, die bereits in die zweite und die dritte Dimension hinüberreichen.
3.2 Rechtsordnung Solange Menschen denselben Lebensraum miteinander teilen und dabei bloß dem eigenen Gut- und Rechtdünken folgen, sind weder Individuen oder Gruppen noch ganze Völker vor Konflikten, selbst Gewalttaten, sicher. Weder Leib und Leben noch Hab und Gut, überhaupt kein Freiraum persönlicher Lebensführung sind letztlich geschützt. Solch ein Zustand widerspricht dem Selbstinteresse jedes Menschen. Darum erkennen alle Gesellschaften eine zweite, politisch-soziale Wertedimension an:
In diesen Zusammenhang gehört auch die Bereitschaft, einander gelten und gewähren zu lassen sowie andersartige Anschauungen und Handlungsweisen zu achten – mithin die Toleranz. Indem man die anderen als ebenbürtige Personen anerkennt, achtet man deren Eigenarten – vorausgesetzt, daß sie nicht dasselbe Recht der anderen beeinträchtigen. 3.3 Entfaltung der Persönlichkeit Aus den Menschenrechten folgt: Die Bürger nicht um des Gemeinwesens willen da, sondern haben einen Eigenwert und zugleich das Recht, nach eigenem Wunsch und Willen ihr Glück zu suchen. Diesem Zweck dienen Werte im Dienst von Selbstentfaltung und gutem Leben. Sie beruhen auf einem Bündel unterschiedlicher Fähigkeiten; das sind die Fähigkeit,
Noch grundlegender sind aber Werte wie
3.4 Kultur Eine konkrete Gesellschaft beruht auf Gemeinsamkeiten. Sie beginnen in der Regel mit der Sprache (oder einer wohldefinierten Mehrsprachigkeit). In ihr sind die Rechtstexte formuliert und wird im Parlament sowie in der Öffentlichkeit debattiert. In deren Hintergrund steht eine reiche philosophische, literarische und soziale Kultur.
3.5 Eine subsidiäre und föderale Weltrepublik Die Sorge um das eigene Gemeinwesen ist im Zeitalter der Globalisierung durch kosmopolitische oder Weltbürgerwerte zu ergänzen. Auf der politischen Seite, im Verhältnis der Staaten zueinander, braucht es, was den Einzelstaaten selbstverständlich geworden ist, eine liberale Demokratie. Die entsprechende globale Rechts- und Friedensordnung besteht in einer subsidiären und föderalen Weltrepublik. Ihr entsprechen auf der personalen Seite Weltbürgerwerte. Als Beispiel sei der Weltgerechtigkeitssinn genannt. Auch im globalen Maßstab gelten die drei Aufgaben, die der Gerechtigkeitssinn auf der Ebene der Einzelstaaten hat:
4.0 Folgerungen für das Bildungswesen Ohne Zweifel sind die Einrichtungen des Bildungswesens auf alle fünf Dimensionen verpflichtet:
Didaktische Konzepte können hier nicht entwickelt werden. Zwei Feststellungen jedoch sind zu treffen:
Die Schule kann das wertgemäße Handeln nur in Grenzen einüben. Denn die Schüler bringen eine gewisse Prägung mit und werden durch ihr außerschulisches Tun und Lassen weiter geprägt. Wer allfällige Defizite nur den Schulen anlastet, verkennt deren Grenzen. Zu den bleibenden Möglichkeiten gehört jedoch außer und vor dem kognitiven Unterricht ein bunter Strauß didaktischer Mittel wie Geschichten, Hörspiele und Filme, wie Rollenspiele, auch der Einsatz und die vorangehende Ausbildung von Schülern zu Streitschlichtern. Weil vor allem bei jüngeren Schülern das implizite Lernen wichtiger ist als das explizite, kommt es aber auf die Gestaltung jedes Unterrichts, selbst der Mathematik und Physik, an:
Literaturnachweis
Die zusammenfassende Literaturgrundlage für das Thema Werte-Erziehung finden sie hier: Literaturgrundlage [ Zurück
zur Übersicht ] Ausgearbeitet
von: Dr.
Manfred Rosenbach - letzte Änderung
am: 20.10.08
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