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Der „Kanon"

Eine historische Handreichung für junge Lehrer

1.0 Vorbemerkung

Auf der Webseite „‘Vademecum’ - Handreichung zur Verbesserung der Unterrichtssituation" - liegt eine zeitgemäße Sammlung einfacher und praktikabler Empfehlungen zum Lehrerverhalten vor, die auf praktischen Erfahrungen beruht. Derartige Sammlungen hat es auch früher gegeben.

Im Folgenden wird der „Kanon für junge Lehrer" von Gottlieb LEUCHTENBERGER, Berlin 1909, vorgestellt. Über historisches Interesse hinaus verdient dieser Text Aufmerksamkeit, weil er uns eine Tiefendimension unserer Arbeit bewusst werden lässt, die wir in der Konzentration auf die Tagesprobleme sonst kaum spüren.

Quelle und  Würdigung des „Kanon" finden Sie unten unter Nr. 3.0. Lassen Sie sich bei der Lektüre bitte nicht von der Anrede "du" stören. Sie mag damals paternalistisch gemeint gewesen sein, kann aber heutzutage auch durchaus zeitgemäß wirken.

2.0 Der Kanon

1. Gehe nie in eine Stunde ohne Vorbereitung!
2. Vergegenwärtige dir erstens, was du zunächst zu wiederholen und welche häusliche Aufgabe du zu kontrollieren hast!
3. Sodann überschaue, sichte und ordne den Stoff, den du neu darbieten, klar machen und entweder einüben oder dem Gedächtnis der Schüler aneignen willst, und zerlege ihn in die Abschnitte (kleine Einheiten), in denen du ihn der Klasse glaubst am besten bieten zu können!
4. Dabei hast du dich einerseits an das eingeführte Lehrbuch anzuschließen, andererseits aber dich so zum freien Herrn über den Stoff und seine Anordnung zu machen, dass du bei der Durchnahme in der Klasse das Lehrbuch ganz und gar entbehren kannst.
5. Auch die Beispiele, die du zur Veranschaulichung und zur ersten Einübung nötigt hast, musst du schon zu Hause auswählen oder dir selbst bilden und sie dir so aneignen, dass du im Unterricht frei über sie verfügst.
6. Sei darauf bedacht, das Neue, das du darbieten willst, mit dem in Verbindung zu bringen, was die Schüler schon wissen!
7. Bei dieser ganzen Vorbereitung kontrollierst du dich am besten, indem du dir Stoff, Lehrgang, Beispiele, wenn auch nur kurz und andeutungsweise, schriftlich vorzeichnest.
8. Nach jeder Stunde gib dir genau Rechenschaft von dem Gang, den die Stunde genommen hatte!
9. Die Unterrichtsstunde hast du gleich nach dem Glockenzeichen zu beginnen und gleich nach dem Glockenzeichen zu schließen.
10. Fange den Unterricht nicht an, bis alle Schüler grade sitzen!
11. Bei allem Reden der Schüler halte auf Vernehmlichkeit und Deutlichkeit und vergewissere dich, wenn du zweifelhaft bist, ob man den Sprecher auch am äußersten Ende verstanden hat!
12. Kommt es (wie bei den Sprachen und der Mathematik) mehr auf ein Können an, so übe sicher ein, teils an Beispielen, die du selbst geboten, teils nach dem etwa eingeführten Hilfsbuch!
13. Die Regel, die du einüben willst, sprich zunächst aus! Dann lass sie sofort in einem Beispiel erscheinen, das du sagst und an die Tafel schreibst! An dem Beispiele verdeutlichst du dann die Regel. Nun lass sie auch von den Schülern aus dem Beispiel aufstellen! Füge ein zweites und drittes Beispiel hinzu, bis die Schüler die Regel wirklich verstanden haben! Gehe nicht eher weiter, als bis die Schüler in der Anwendung der Regel wirklich Sicherheit haben!
14. Vermeide Abschweifungen und bleibe streng bei der Sache! Wo aber Erkenntnisse, welche die Schüler auf anderen Gebieten schon gewonnen haben, dienen können zur Verdeutlichung dessen, was du klar machen willst, benutze sie und schließe so das Neue an schon Bekanntes an!
15. Wo du irgend Gelegenheit hast, unterstütze das, was du sagst, durch das, was du zeigst: Karten, Bilder, Modelle und dgl.; vor allem aber die Schultafeln sind dazu da.
16. Deine Fragen sind an alle Schüler gestellt. Darum mache nach jeder eine kurze Pause; dann erst rufe den Einzelnen auf, der deine Frage beantworten soll!
17. In jeder Stunde muss möglichst jeder Schüler gefragt werden oder irgendwie „drankommen". Es ist ein großer Fehler, 10 Schülern je 5 Fragen zu geben und 30 Schülern gar keine.
18. Lehre und frage nicht auf einen Einzelnen los, indes du die anderen unbeschäftigt lässt!
19. Fürchte dich nicht vor der kleinen Pause, die entsteht, bis du die nächste Frage stellst: Sie will doch überlegt sein, und Überlegung kostet eben Zeit.
20. Lerne gut fragen: deine Frage sei inhaltlich klar, formell kurz und grammatisch richtig, d.h. so gebaut, dass das Fragewort an richtiger Stelle steht! Merkst du, dass eine Frage nicht gut war, so stelle, ehe du zur Antwort aufforderst, eine besser gebaute, klarere, kürzere, wohl auch statt einer inkorrekten, unklaren, zusammengesetzten, drei korrekte, klare, kurze, einfache!
21. An Fragen, auf die nur ein Ja oder Nein folgen soll oder kann, gewöhne dich nicht!
22. Frage nie: „Verstanden?" - Solltest du es doch tun, so wird der Zuhörende wissen, dass du selbst sicher bist, man habe dich nicht verstanden.
23. Unterbrich den Schüler nicht beim ersten halben oder schiefen Ausdruck, sondern lass ihn seinen Satz beenden, und wenn er mehrere Sätze zu sagen hat, so lass ihn diese alle beenden, ehe du verbessern oder ergänzen lässt"!
24. Spaziere nicht in der Klasse umher, sondern wähle einen festen Standort, von welchem alle Schüler dich und du alle Schüler sehen kannst! Das wird gewöhnlich ein Platz in der Nähe des Katheders sein.
25. Zeige dich deinen Schülern gegenüber stets als gebildeten Mann! Lass dich ihnen gegenüber ja nicht in vulgären Redensarten gehen!
26. Unterlass alle Bemerkungen über Berufsstellung, Stand, Schicksale des Vaters oder der Mutter eines Schülers!
27. Habe keine Lieblinge und möge keinen „nicht leiden"!
28. Immer umfasse und halte mit dem Blick alle Schüler, aber ohne unstet die Augen umherzuwerfen! Dazu gehört Gespanntheit bei innerer und äußerer Ruhe und Gehaltenheit.
29. Sei immer eingedenk, dass du nicht deine Redefertigkeit zeigen, sondern deinen Schülern die Zunge lösen sollst!
30. Lächerlich wäre es, wenn du Schülern der unteren und mittleren Klassen mit Gelehrsamkeit imponieren wolltest.
31. Wolle nicht dich zur Geltung bringen, sondern die Sache!
32. Sage es dir täglich, dass du der Schüler wegen da bist, nicht diese deinetwegen!
33. Läuft dir im Unterricht oder in der Korrektur ein Irrtum unter, so beweise den Schülern, dass die Wahrheit auch über dir steht!
34. Erwecke Interesse, und du braucht wenig besondere Mittel der Disziplin im Unterricht.
35. Wenn die Aufmerksamkeit matt werden will, desgleichen, wenn etwas besonders Wichtiges als solches bezeichnet oder eingeprägt werden soll, ist auch das Chorsprechen zu empfehlen.
36. Rechne nicht auf schnellen Erfolg! Werde nicht missmutig, ungeduldig, verzagt! Suche den Grund mangelnder Erfolge immer zum großen Teil auch bei dir!
37. Brich nicht so leicht den Stab über einen Schüler!
38. Hast du in der Stunde Veranlassung zur Unzufriedenheit mit einem Schüler, so werden nicht gleich aufgebracht: Er ist je ein Kind. Schau ihn an, dass er merkt, was du willst, und weiter tue zunächst nichts! Merkt er's nicht, so halt ein wenig im Fragen oder im Vortrag inne und lass den Blick auf ihm ruhen! Hilft auch das nicht oder hält es nicht vor, so muss du freilich das tadelnde Wort anwenden.
39. Aber nur nicht schimpfen! Auch keine Moralpredigt! Auch keine Ironie, keinen Spott!
40. Versuche es, in den Unterrichtsstunden überhaupt ohne Strafen durchzukommen! Du wird sehen: Wenn du wirklich nicht das deine, sondern das, was des Schülers ist, suchst, es geht.
41. Komm nicht immer wieder auf einen bestraften Fehler zurück und trage nicht nach!
42. Die häusliche Aufgabe stelle den Schülern nicht erst mit dem Glockenschlage, und sorge dafür, dass jeder sie sich richtig in sein Aufgabenbuch schreibt!
43. Bedenke, dass außer dir noch andere Leute da sind, die an die Zeit und Kraft der Schüler mit ihren häuslichen Aufgaben Anforderungen stellen!
44. Hast du  Arbeiten im Fache Deutsch zu korrigieren, so lass stehen, was nicht geradezu falsch ist, und zeige, dass du weißt, du habest den Aufsatz eines Schülers vor dir!
45. Klassenarbeiten müssen aufs sorgsamste mit den Schülern vorbereitet sein, dürfen nicht Regeln unnatürlich gehäuft bieten und müssen kurz genug sein, um mit Ruhe und Sammlung angefertigt werden zu können.
46. Verhüte das Abschreiben durch stete Aufmerksamkeit! Finden sich Übereinstimmungen, die darauf schließen lassen, es habe einer vom andern abgeschrieben, so trägt du die Hauptschuld.

 3.0 Eine pädagogische Ausgrabung

Otto SCHÖNBERGER, Leiter des Siebold-Gymnasiums Würzburg, hat diesen Text wiedergefunden und in der Zeitschrift "Die Anregung" 28 (1982), 211-214 vorgestellt. Offenbar gibt es pädagogische Erörterungen, besonders solche für die Praxis, die um zeitunabhängige Grundfragen kreisen, und wir ringen oft nur um zeitgemäße Adaptation für längst gefundene Lösungen. Wollte man eine Liste der „ewigen" Grundbedürfnisse von Schülern, Lehrern, Eltern aufstellen, so wäre sie vermutlich gar nicht umfangreich.

Gottlieb LEUCHTENBERGER, Königlich Preußischer Gymnasialdirektor, hatte im Jahre 1889 auf einer Direktorenkonferenz den Auftrag erhalten, „einen Kanon pädagogischer und didaktischer Grundregeln für Kandidaten und jüngere Lehrer" aufzustellen. Seine Arbeit fand große Anerkennung und wurde 1909 (2. Auflage 1911) in Buchform unter dem Titel „Vademecum für junge Lehrer" publiziert.

SCHÖNBERGER hat die 80 Ratschläge gekürzt, entstaubt und deren Stil - unter Schonung des ursprünglichen Wortlautes - auf einen für uns erträglichen Stand gebracht. So hat er eine Reihe von Hinweisen wiedergewonnen, die uns nicht nur lächeln lassen, sondern auch ansprechen und nachdenklich machen können. Angemerkt sei noch, dass das Buch auf insgesamt 182 Seiten einen ausführlichen Kommentar zu den Sätzen des Kanons bietet.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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