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Der Schmetterling im Unterricht

- Eine Karikatur und ihre Deutung -

Karikatur Schmetterling

Ehe Sie die Interpretation lesen,
sollten Sie die Karikatur ein wenig auf sich wirken lassen
und möglichst viele Sachverhalte festhalten,
die sich in der Zeichnung entdecken lassen.

1.0 Drei Interpretationsebenen

Die Karikatur „Der Schmetterling im Unterricht" stammt von Marie MARCKS, 1980, S. 87.
Für deren Interpretation gibt es mindesten drei Ebenen, und zwar

  • die freien Assoziationen des unbefangenen Betrachters,
  • die Intention und Aussage der Zeichnerin,
  • die Strukturmerkmale von Unterricht.
  • Reiz und Wirkung der Zeichnung, wird sie von Lehrern gedeutet, liegen in der Verschränkung der drei Ebenen und der daraus sich ergebenden Spannung.
    Die Assoziationen, die von der Zeichnung ausgelöst werden, unterscheiden sich von einem Betrachter zum anderen erheblich. Immer jedoch beleuchten sie zentrale Probleme der Didaktik.

  • Die kritische und keineswegs freundliche Aussage der Zeichnerin ist offenkundig und bedarf hier keines Kommentars. Nimmt man sie ernst, so offenbart sie tragische Züge sowohl des Lehrerberufes als auch der Schülerexistenz in einer späten Hochkultur.

  • Auf der dritten Ebene kann die Zeichnung als exemplarisch, also als beispielhaft gelten, weil sie grundlegende Strukturmerkmale und - wenn man es so sehen will - auch zentrale Grundprobleme von Didaktik in konzentrierter Form anschaulich macht. Sie regt damit zum Nachdenken über die Aufgaben und das Selbstverständnis von Lehrern an.

Deshalb wird, im Anschluss an Jürgen DIEDERICH (1988, S. 58 ff.) die folgende Interpretation der Zeichnung vorgelegt.

2.0 Die exemplarische Tiefenschicht

Offenkundig zeigt die Zeichnung eine Unterrichtssituation. Ein Lehrer und eine Klasse sind mit
dem Thema Schmetterling beschäftigt - und das in einer eindeutig konfliktträchtigen Situation.

Doch die Zeichnung zeigt noch mehr. Man sieht auf ihr

  • links am Fenster einen Schmetterling, rechts in einem Schaukasten den Schmetterling;

  • drei Schülerinnen - sie schauen nicht zum Fenster, denn als Schülerinnen wissen sie,
    es um den Schmetterling geht und nicht etwa um irgendeinen;

  • mehrere Kinder, die noch keine Schüler sind, denn sie lassen sich von der Situation ablenken;

  • einen Jungen, der sein Buch - Sinnbild systematischen Wissens - unbeachtet liegen lässt, weil ihn die Wirklichkeit eines flatternden Schmetterlings mehr fesselt als dessen abstraktes Abbild.

Soweit, was uns die Zeichnung zeigt. Darüber hinaus sagt sie uns auch etwas. Denn bei Betrachtung der Situation drängt sich die Frage auf, warum der Lehrer den Jungen daran hindern will, sich dem lebendigen Schmetterling zuzuwenden, und ihn so streng auf den toten Schmetterling des Schaubildes verweist.
     Hier eine Antwort. Konrad LORENZ, ein Forscher, der mit Tieren lebte und sich auf sie verstand wie wenige andere, schreibt (1974, S. 186):

„Das Zoologie-Lehrbuch kann es nicht umgehen, einen völlig unversehrten, idealen Schmetterling als Vertreter seiner Art zu beschreiben, einen Schmetterling, den es in genau dieser Form nie und nimmer gibt, weil alle Exemplare, die wir in den Sammlungen vorfinden, jedes in etwas anderer Weise missgebildet und beschädigt sind."

Damit geht es noch nicht einmal um den Schmetterling, auf den der Lehrer zeigt, sondern um den idealen Schmetterling, der in dem verlassen liegenden Buch abgebildet ist. Nicht etwa deswegen, weil dieser Schmetterling stillhält, wenn man ihn betrachten will, sondern weil er als Vertreter seiner Art das Urbild (Platon nannte das die Idee) des Schmetterlings repräsentiert.
     In der Schule werden alle Unterrichtsgegenstände nicht lediglich um ihrer selbst willen betrachtet und erörtert, sondern als Vertreter eines Allgemeinen. Schule kann unmöglich alles Wissen im einzelnen lehren, doch sie kann zeigen, wie Wissen entsteht.
     Dazu muss Schule die Unterrichtsgegenstände unter einer Fragestellung als etwas betrachten, und das heißt: exemplarisch. Und gehe der Lehrer methodisch vom lebendigen Schmetterling in der Natur oder vom im Buch abgebildeten aus - im Ergebnis wird es sich immer um den Schmetterling handeln, um den lebendigen Schmetterling in seinem Lebensraum.
     Die hier angedeutete Thematik wird auf der Webseite "Das Elementare im Unterricht"
vertiefend behandelt.

Kürzlich hat Andreas GRUSCHKA (2002, S. 278 ff.) dieser Interpretation widersprochen und sie ergänzt. Er führt u.a. aus:
     "Der zwangshaft fixierte Schmetterling ist weder ein reales Lebewesen noch ein Modell. Er ist das konsequente Gegenüber der ähnlich künstlich fixierten Kinder. Das didaktische Medium stellt einen nicht zufällig misslingenden Kompromiss zwischen Sache und didaktischem Medium dar. Kein Wunder, dass die Kinder den fliegenden Schmetterling interessanter finden. Aber sie reagieren damit auch auf die mangelnde Faszination, die vom Präparat bzw. Tafelbild ausgeht.
   Die Kritik, die die Karikatur enthält, lässt sich also in beide Richtungen verlängern.
Sie taugt weder als Lehrbild für die Reformpädagogik noch als solches für den normalen Sachunterricht."

3.0 Literaturgrundlage

  • Marie MARCKS
    Krümm dich beizeiten
    Heidelberg 1980, 3. Auflage, S. 87
  • Jürgen DIEDERICH
    Didaktisches Denken
    Eine Einführung in Anspruch und Aufgabe, Möglichkeiten
    und Grenzen der Allgemeinen Didaktik
    München 1988
  • Andreas GRUSCHKA
    Didaktik
    Das Kreuz mit der Vermittlung
    Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb
    Wetzlar 2002
  • Wolfgang KLAFKI
    Exemplarisches Lehren und Lernen
    in: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik
    Weinheim 1991, 2. Auflage
  • Konrad LORENZ
    Das sogenannte Böse
    München 1974

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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